Leitsatz (amtlich)
Ärzte, die selbständig und laufend Gutachten über die Erwerbsunfähigkeit untersuchter Personen aufgrund der Krankheitsbefunde oder über die ursächlichen Zusammenhänge zwischen Invalidität einerseits und Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten, Wehrdienst etc. andererseits erstellen, üben eine praktische Berufstätigkeit i. S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG aus; die Einkünfte aus dieser Tätigkeit sind daher nach § 34 Abs. 4 EStG nicht begünstigt.
Normenkette
EStG 1975 § 18 Abs. 1 Nr. 1, § 34 Abs. 4
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger, Oberarzt an einem Krankenhaus, erzielte im Streitjahr 1975 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 83 395 DM. Neben seiner Berufsarbeit als angestellter Arzt erstattete er als Spezialist auf dem Gebiet der Herz-, Kreislauf- und Lungenfunktions-Diagnostik ärztliche Gutachten für Sozialgerichte, Landgerichte, Versorgungsämter und für die Bauberufsgenossenschaft. Die Anzahl der Gutachten betrug im Streitjahr 47, die Einkünfte aus der Gutachtertätigkeit beliefen sich auf 16 259 DM.
In der Einkommensteuererklärung 1975 beantragte der Kläger entsprechend der Behandlung in den Vorjahren für seine Einkünfte aus Gutachtertätigkeit die Tarifermäßigung nach § 34 Abs. 4 EStG. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) unterwarf diese Einkünfte unter Berufung auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 22. September 1976 IV R 20/76 (BFHE 120, 204, BStBl II 1977, 31) dem normalen Steuersatz.
Dagegen richtete sich nach erfolglosem Einspruchsverfahren die Klage, mit der der Kläger vortrug, er gebe in seinem Gutachten Stellungnahmen ab, und zwar zum Krankheitsbild des Untersuchten, zum Untersuchungsbefund anderer Gutachter, zum eigenen Untersuchungsbefund und schließlich zum Leistungsvermögen des Untersuchten. Es gehe bei den Gutachten also darum, worauf die Beeinträchtigung der Gesundheit zurückzuführen bzw. ob sie überhaupt vorhanden sei. Es handele sich nicht um eine ärztliche Behandlung der untersuchten Personen.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unbegründet ab. Es vertrat die Auffassung, der Kläger habe durch seine laufende Gutachtertätigkeit im Streitjahr eine freiberufliche Arztpraxis als Gutachter (Gutachterpraxis) ausgeübt.
Mit der Revision macht der Kläger u. a. geltend, seine Gutachtertätigkeit könne nicht dem Katalogberuf des Arztes zugerechnet werden, da sie nicht zu den typischen Aufgaben eines Arztes gehöre. Er stelle in seinen Gutachten lediglich fest, ob und inwieweit der Begutachtete aufgrund seines Gesundheitszustandes einer beruflichen Tätigkeit nachgehen könne. Im Rahmen der Gutachten nehme er beispielhaft zu folgenden Fragen Stellung:
a) Welche krankhaften Veränderungen auf körperlichem Gebiet vorlägen;
b) ob die geistige Leistungsfähigkeit eingeschränkt sei;
c) in welcher körperlichen Tätigkeit jemand behindert sei;
d) welche Art von Tätigkeiten im Beruf eine Person noch leisten könne;
e) in welchem zeitlichen Umfang die betreffende Person bestimmte Arbeiten ohne Gesundheitsgefährdung ausführen könne, z. B. ganztägig, halbtätig oder einige Stunden täglich;
f) ob die Leistungsfähigkeit überhaupt soweit herabgesunken sie, daß auf nicht absehbare Zeit eine beliebige Erwerbstätigkeit nicht mehr regelmäßig ausgeübt werden könne;
g) seit wann die Leistungsfähigkeit in diesem Ausmaß gemindert sei;
h) ob diese Minderung dauernd oder nur vorübergehend bestehe;
i) ob Heilmaßnahmen Aussicht auf Erfolg versprächen.
Da pro Gutachten etwa nur ein Zeitaufwand von 3 bis 5 Stunden erforderlich sei, ließen sich die Gutachten leicht in der Freizeit durchführen, zumal Laboruntersuchungen, Gastroskopie und Elektrophorese, Röntgen und Durchleuchtungen, EKG und Lungenfunktionsdiagnostik stationär im Krankenhaus durchgeführt werden könnten.
Der Kläger beantragt sinngemäß, unter Aufhebung der Vorentscheidung und der Einspruchsentscheidung den angefochtenen Einkommensteuerbescheid 1975 dahingehend zu ändern, daß für die Nebeneinkünfte aus Gutachtertätigkeit in Höhe von 16 259 DM der begünstigte Steuertarif des § 34 Abs. 4 EStG gewährt wird.
Hilfsweise beantragt der Kläger die Zurückverweisung der Sache an das FG und rügt deshalb hilfsweise und vorsorglich mangelnde Sachaufklärung.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Wie der erkennende Senat schon mehrfach dargelegt hat (vgl. Urteile vom 12. Dezember 1974 IV R 198/71, BFHE 115, 33, BStBl II 1975, 476 und in BFHE 120, 204, BStBl II 1977, 31), wollte der Gesetzgeber die laufende praktische Berufsarbeit bei den freien Berufen genausowenig begünstigen wie bei nichtselbständig Tätigen. Diese Auslegung des § 34 Abs. 4 EStG hat auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) unter dem Gesichtspunkt der Wettbewerbsgleichheit der typischen freien Berufe gebilligt (vgl. Beschluß vom 3. Januar 1973 1 BvR 508/72, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Einkommensteuergesetz, § 34 Abs. 4 - ab 1955 -, Rechtsspruch 43). Deshalb erfordert die Abgrenzung der begünstigten Nebeneinkünfte gegenüber den Einkünften aus der praktischen Berufsarbeit, daß die Nebeneinkünfte nicht aus den zu den praktischen Berufen gehörigen, in § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG aufgeführten typischen freien Berufstätigkeiten bezogen werden. Das bedeutet, daß die begünstigten Nebeneinkünfte für sich keine Einkünfte aus einer typischen freien Berufstätigkeit i. S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG darstellen dürfen, weil die wissenschaftliche, künstlerische oder schriftstellerische Tätigkeit i. S. des § 34 Abs. 4 EStG gerade keine praktische Berufsarbeit eines solchen, im Katalog des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG aufgeführten Berufes sein darf. Dieses Merkmal der begünstigten Einkünfte muß folgerichtig bei selbständig Tätigen und nichtselbständig Tätigen in gleicher Weise erfüllt sein. Der erkennende Senat hat des weiteren mehrfach ausgeführt, daß der unter den praktischen freien Berufen (Katalogberufen) in § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG aufgeführte Beruf des Arztes eine Berufsgruppe darstellt, zu der nicht nur die praktizierenden Ärzte zu rechnen sind, die sich in ihrer praktischen Berufsarbeit vorwiegend der Heilbehandlung widmen, sondern auch die Ärzte, die, ohne eine Heilbehandlung durchzuführen, als praktische Berufsarbeit für Gerichte, Versicherungsanstalten usw. laufend ärztliche Gutachten oder Atteste über den Gesundheitszustand bzw. die Arbeitsfähigkeit der von ihnen untersuchten Personen in Rentenfeststellungsverfahren oder anderen Verfahren erstellen. Die mit eingehender Begründung versehene Attestierung des Gesundheitszustandes bzw. der sich daraus ergebenden körperlichen Leistungsfähigkeit oder Arbeitsfähigkeit untersuchter Personen gehört als ärztliche Diagnose zur praktischen Berufstätigkeit des Arztes. Sie umfaßt auch die Feststellung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Invalidität einerseits und Wehrdienst, Arbeitsunfällen oder der speziellen beruflichen Tätigkeit andererseits. Diese sogenannten Zusammenhangsgutachten gehören zur typischen täglichen Berufsarbeit der Ärzte, die für Versorgungsämter, Landesversicherungsanstalten und ähnliche Anstalten ständig tätig sind.
Im Streitfall hat der Kläger die Tätigkeitsmerkmale seiner Gutachtertätigkeit eingehend dargestellt. Dadurch wurde der Sachverhalt umfassend aufgeklärt. Von diesem feststehenden Sachverhalt ist auch das FG ausgegangen. Das FG hat gegen die Ausführungen des Klägers zu diesem Sachverhalt und seiner Würdigung in tatsächlicher Hinsicht in keinem Punkt Bedenken erhoben. Die Rüge mangelnder Sachaufklärung ist daher schon deshalb unbegründet.
Geht man aber davon aus, daß die Gutachtertätigkeit des Klägers den Aufgabenkreis umfaßte, wie ihn der Kläger selbst dargelegt hat, so muß man mit dem FG zu dem Ergebnis gelangen, daß der Kläger mit seiner Gutachtertätigkeit eine ärztliche Berufstätigkeit i. S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG ausgeübt hat, wie sie der Senat in seiner ständigen Rechtsprechung (vgl. BFHE 120, 204, BStBl II 1977, 31 und Urteil vom 27. März 1980 IV R 48/75, BFHE 130, 328) versteht und oben dargelegt hat. Das FG hat diese Tätigkeit zutreffend als freiberufliche Gutachterpraxis bezeichnet.
Fundstellen
Haufe-Index 74201 |
BStBl II 1982, 253 |
BFHE 1981, 557 |