Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Der Senat tritt der Rechtsauffassung des I. Senats in der Entscheidung I 103/51 U vom 29. Januar 1952 bei, daß eine überschreitung der Ermessensgrenze der Billigkeit nur dann gegeben ist, wenn der Ermessensakt nach der allgemeinen Auffassung unter Berücksichtigung der Belange der öffentlichen Hand und des Stpfl. mit den Grundsätzen der Billigkeit unvereinbar ist.
Im Verfahren von den Steuergerichten bei reinen Ermessensakten der Verwaltung ist diejenige Finanzverwaltungsbehörde beteiligt, deren Entscheidung durch Rechtsmittel vor den Steuergerichten angegriffen wird. Wird gegen eine Beschwerdeentscheidung einer Oberfinanzdirektion Berufung eingelegt, so ist die Oberfinanzdirektion, nicht das Finanzamt am steuergerichtlichen Verfahren beteiligt.
Normenkette
AO § 319/1, §§ 253, 266 Nr. 2; FGO § 57/4
Tatbestand
Der Steuerpflichtige (Stpfl.) wurde für II/1948 durch Bescheid vom 27. Dezember 1948 unter Zugrundelegung eines Vermögens von 189.000 DM und eines Steuersatzes von 1,5 % zu einer Vermögensteuer von 1.417,50 DM herangezogen. Mit Schreiben vom 14. Januar 1949 in Verbindung mit einem früheren Schreiben vom 3. August 1948 machte er die Rechtsunwirksamkeit der für die Berechnung des Finanzamts maßgebenden Verordnung des Direktors der Verwaltung für Finanzen des Vereinigten Wirtschaftsgebietes über die Vermögensteuerzahlungen in II/1948 vom 17. Juli 1948 (Gesetzbl. der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebiets - WiGBl. - 1948 S. 78) geltend und beantragte Umrechnung der Vermögensteuer im Verhältnis 10 : 1 gemäß § 16 des Umstellungsgesetzes. Des weiteren bat er, bis zur Durchführung des Rechtsmittelverfahrens in einem ähnlichen Falle die Entscheidung auszusetzen. Mit Schreiben vom 30. Januar 1951 nahm der Stpfl. das Rechtsmittel zurück, da der Bundesfinanzhof durch Urteil III 80/50 vom 16. Dezember 1950 (Bundessteuerbl. - BStBl. - 1951 S. 32, Amtsblatt des Bayer. Staatsministeriums der Finanzen - Bay.FMBl. - 1951 S. 102) die Berechnung der Vermögensteuer gemäß der Verordnung vom 17. Juli 1948 gebilligt habe. Gleichzeitig stellte er den Antrag, Kosten nicht zu erheben. Das Finanzamt gab dem Antrage nicht statt, erhob aber nur die Hälfte der Kosten gemäß § 311 Absatz 3 der Reichsabgabenordnung (AO). Den Wert des Streitgegenstandes ermittelte es auf 1.269 DM und die Kosten auf 20,30 DM. Einen erneuten Antrag des Stpfl. vom 27. März 1951 auf Erlaß der Rechtsmittelkosten gemäß § 319 AO mit der Begründung, daß das Rechtsmittel nur vorsorglich eingelegt gewesen sei, und die Rechtsmängel der Verordnung vom 17. Juli 1948 erst durch § 17 des Gesetzes vom 3. Juni 1949 behoben worden seien, lehnte das Finanzamt mit Schreiben vom 9. April 1951 ab. Gegen die Ablehnung des Antrages legte der Stpfl. mit Schreiben vom 14. April 1951 Beschwerde bei der Oberfinanzdirektion ein. Von einem Mißbrauch bei der Einlegung des Rechtsmittels könne keine Rede sein. Gerade sein Fall, wo ein Rechtsmittel nur vorsorglich eingelegt worden sei und zurückgenommen werde, bevor es zu einer Bearbeitung des Einspruches komme, sei das typische Beispiel für das Anwendungsgebiet des § 319 AO. Die Ablehnung des Kostenerlasses stelle einen Ermessensmißbrauch dar. Mit Beschwerdeentscheidung vom 11. Mai 1951 wies die Oberfinanzdirektion die Beschwerde als unbegründet zurück.
Gegen die Beschwerdeentscheidung legte der Stpfl. Berufung ein.
Im finanzgerichtlichen Verfahren machte das Finanzamt geltend, grundsätzlich stehe die Ausübung des Ermessens den Verwaltungsbehörden zu, die Gerichte hätten nur das Recht der Nachprüfung, ob die Grenzen des Ermessens eingehalten seien. Im vorliegenden Falle liege kein Ermessensfehler der Verwaltungsbehörde vor. Der Ansatz der Rechtsmittelgebühr ergebe sich aus § 311 Absatz 3 AO. Nach § 319 AO könnten die Rechtsmittelkosten ganz oder teilweise erlassen werden, wenn die Einlegung des Rechtsmittels auf entschuldbarer Unkenntnis der Verhältnisse oder auf Unwissenheit beruhe, oder aus sonstigen Gründen unbillig erscheine. Diese Voraussetzungen seien nicht gegeben. Der Stpfl. sei durch eine angesehene Steuerberaterfirma vertreten und könne sich nicht auf entschuldbare Unkenntnis oder Unwissenheit berufen. Bei seiner guten Vermögenslage könne die Erhebung der geringen Rechtsmittelkosten von etwa 20 DM nicht unbillig erscheinen. Aus der Tatsache der Zurücknahme des Rechtsmittels könne der Stpfl. keinerlei Rechte für sich herleiten. Die Entscheidung sei solange ausgesetzt gewesen, bis in einer gleichliegenden Sache eine höchstrichterliche Entscheidung ergangen sei. Es sei nicht vertretbar, in derartigen Fällen die Rechtsmittelkosten zu erlassen.
Das Finanzgericht erklärte sich für zuständig und sah das Rechtsmittel als sachlich begründet an.
Bei reinen Ermessensakten der Finanzverwaltungsbehörden seien die Steuergerichte lediglich berechtigt, nachzuprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens durch die Finanzverwaltungsbehörden eingehalten seien, und von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden sei. Sie seien nicht berechtigt, selbst das Ermessen auszuüben. Lediglich dann, wenn die Sachlage die Ermessensgrenzen so einenge, daß nur eine bestimmte Entscheidung möglich sei, während jede andere notwendig zu einem Ermessensfehler führen müssen, sei ein positiver Ausspruch des Gerichtes zulässig. Das Ermessen sei nach Billigkeit und dem Zweck des Gesetzes auszuüben. Im vorliegenden Falle könne das Gericht nicht bejahen, daß diese Voraussetzungen erfüllt seien. Die Vermögenslage und die Höhe der Kosten seien nicht entscheidend. Die Anfechtung der Vermögensteuerveranlagung sei bei der Zweifelhaftigkeit der Rechtslage notwendig gewesen. Andernfalls hätte der Vorwurf nachlässiger Behandlung der Steuerangelegenheiten nicht erspart werden können. Der Stpfl. habe nach Klärung der zweifelhaften Rechtslage durch das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 16. Dezember 1950 sein Rechtsmittel zurückgenommen. Nach Auffassung des Finanzgerichts sei die Erhebung der Kosten, auch nur der halben Kosten, eine Unbilligkeit.
Demgegenüber führt der Finanzamtsvorsteher in seiner Rechtsbeschwerde (Rb.) aus: Die Anwendbarkeit der Verordnung sei einwandfrei erkennbar gewesen, nachdem § 17 des Gesetzes des Wirtschaftsrates vom 3. Juni 1949 die Verordnung, und sogar die auf ihr beruhenden Verwaltungsanordnungen, sanktioniert habe. Dies habe bereits das Urteil des Obersten Finanzgerichtshofs III 39/49 S vom 19. Dezember 1949 (Bay. FMBl. 1950 S. 60) gezeigt. Hätte der Stpfl. seine Anfechtung im Juni 1949 oder spätestens Anfang 1950 zurückgenommen, so wäre die vom Finanzgericht angestellte Erwägung wegen der Zweifelhaftigkeit der Rechtslage geboten gewesen. Der Beschwerdegegner (Bg.) habe jedoch geglaubt, von dieser Klärung der Rechtslage keine Notiz nehmen zu brauchen und auf eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs gewartet. Er habe damit das Prozeßkostenrisiko erneut auf sich genommen. Es bestehe unter diesen Verhältnissen kein Grund, einen Ermessensmißbrauch der Finanzverwaltungsbehörden anzunehmen.
Entscheidungsgründe
Die Prüfung der Rb. ergibt folgendes:
Das Finanzgericht hat mit zutreffender Begründung seine Zuständigkeit, beschränkt auf die Nachprüfung, ob eine überschreitung der Ermessensgrenzen vorliegt, bejaht. Zweifel könnten hinsichtlich der Berechtigung des Finanzamtsvorstehers zur Einlegung der Rb. bestehen. Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion. Soweit ein Ermessensakt einer unteren Verwaltungsbehörde im Beschwerdeverfahren zu einer Entscheidung einer höheren Verwaltungsinstanz geführt hat, kann vor den Steuergerichten nur die letzte Verwaltungsentscheidung Gegenstand des Verfahrens sein. An dem Verfahren beteiligt ist somit die Oberfinanzdirektion, nicht das Finanzamt. Die Vorschrift des § 266 Ziffer 1 AO muß hier analog angewandt werden. Man wird aber davon ausgehen müssen, daß der Finanzamtsvorsteher im Auftrage und in Vertretung der Oberfinanzdirektion vor den Steuergerichten aufgetreten ist.
Des weiteren hat das Finanzgericht gleichfalls zutreffend in der "Billigkeit" eine Ermessensgrenze erblickt. Die Streitfrage besteht darin, ob die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion diese Ermessensgrenze verletzt hat.
Für die Beurteilung muß beachtet werden, daß die Auferlegung der Kosten eines Rechtsmittelverfahrens keine Ordnungsstrafe und auch keinen steuerlichen Zuschlag darstellt. Der Stpfl. soll lediglich die durch ihn veranlaßten Kosten der Staatskasse ersetzen. Die Verpflichtung zur Tragung der Kosten hängt nicht von der Frage ab, ob es sich nach Lage der Verhältnisse um ein aussichtsvolles oder aussichtsloses Rechtsmittel gehandelt hat. Die Zweifelhaftigkeit einer Rechtsfrage muß nicht ohne weiteres zu einem Erlaß der Kosten führen (Entscheidung des Reichsfinanzhofs VI A 147/22 vom 5. Juli 1922, Steuer und Wirtschaft - StW - 1922 Nr. 927). Des weiteren kann die Verpflichtung zur Tragung der gesetzlichen Rechtsmittelgebühren nicht davon abhängig gemacht werden, in welchem Umfange im Einzelfalle Unkosten tatsächlich entstanden sind. Die Gebührensätze sind Durchschnittssätze, die in vielen Fällen über- oder unterschritten werden.
§ 319 AO gibt unter bestimmten Voraussetzungen den Behörden die Ermächtigung zum Erlaß der Rechtsmittelgebühren und der der Rechtsmittelbehörde erwachsenen Auslagen. Es handelt sich um eine Vorschrift, die dem § 131 AO gleichartig ist. Es bestehen keine Bedenken, diese Ermächtigungen als noch rechtsgültig anzuerkennen. Wesentlich ist es, wie auch von den Vorbehörden zutreffend ausgeführt wird, daß es sich um Kannvorschriften handelt. Der Erlaß der geschuldeten Beträge wird in das Ermessen der Behörde gestellt.
Der Bundesfinanzhof hat in der Entscheidung I 103/51 U vom 29. Januar 1952 (BStBl. III S. 57) ausgeführt, daß eine überschreitung der Ermessensgrenze der Billigkeit nur dann gegeben ist, wenn der Ermessensakt nach der allgemeinen Auffassung unter Berücksichtigung der Belange der öffentlichen Hand und des Stpfl. mit den Grundsätzen der Billigkeit unvereinbar ist, also nicht bereits dort, wo ihr zwar nicht beigetreten wird, sie aber doch noch als vertretbar erscheint. Es wäre mit den Grundsätzen der Gewaltenteilung nicht vereinbar, wenn die Steuergerichte bei reinen Ermessensakten der Verwaltung auf Grund von Erwägungen, die im Ergebnis nicht die Ermessensgrenzen berühren, sondern lediglich ein abweichendes Ermessen im Rahmen der Ermessensgrenzen darstellen, in die Maßnahmen und damit in die Zuständigkeit der Verwaltung eingreifen würden. Der erkennende Senat tritt diesen Ausführungen des I. Senats des Bundesfinanzhofs bei.
Im vorliegenden Falle handelt es sich um einen verhältnismäßig niedrigen Betrag, der vom Stpfl. ohne Schwierigkeiten getragen werden kann. Dies ist auch rechtlich von Bedeutung. Der gegenteiligen Auffassung des Finanzgerichts kann nicht gefolgt werden. Des weiteren sieht das Finanzamt keine Unbilligkeit in der Einhebung der geschuldeten Gebühren, weil der Stpfl. trotz des Gesetzes vom 3. Juni 1949 und des Urteils des Obersten Finanzgerichtshofs vom 19. Dezember 1949 sein Rechtsmittel aufrechterhalten und es erst nach Erlaß der Entscheidung des Bundesfinanzhofs zurückgezogen hat. Auch diesem Gesichtspunkt kann die Bedeutung nicht abgesprochen werden. Das Finanzgericht hat ihn bei seiner Entscheidung nicht gewürdigt. Es hätte allerdings nahe gelegen, daß die Finanzverwaltung ihn im Verfahren vor dem Finanzgericht ausdrücklich geltend gemacht hätte. Der Auffassung des Stpfl., daß dort, wo ein Musterprozeß geführt und entschieden wird, bei Zurücknahme der Rechtsmittel bei den ausgesetzten Streitfällen die Rechtsmittelkosten nach § 319 AO allgemein zu erlassen seien, kann nicht gefolgt werden. Im Ergebnis würde dies den §§ 307 Absatz 2 und 311 Absatz 3 AO ihre wesentliche Bedeutung nehmen.
Die Finanzverwaltung hat die Frage der Billigkeit bei ihrer Ermessensentscheidung geprüft und mit einer Begründung, die vertretbar ist, keine Unbilligkeit in der Erhebung der Kosten gesehen. Eine Ermessensüberschreitung liegt somit nicht vor. Ob die Verwaltung zu ihrer Entscheidung kommen mußte, haben die Steuergerichte nicht zu prüfen.
Die Vorentscheidung muß deshalb aufgehoben und die Berufung gegen die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion als unbegründet zurückgewiesen werden.
Fundstellen
Haufe-Index 407379 |
BStBl III 1952, 104 |
BFHE 1953, 264 |
BFHE 56, 264 |