Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Im Falle des Zusammentreffens von § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO mit der Ziff. 2 oder der Ziff. 4 dieser Vorschrift ist § 234 AO nicht anwendbar.
In einem Rechtsmittelverfahren gegen einen Berichtigungsbescheid nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO muß das Finanzgericht als Tatsacheninstanz auch berücksichtigen, daß im Laufe des Rechtsmittelverfahrens ein Fehler durch die Aufsichtsbehörde nach § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO aufgedeckt worden ist. Der Auffassung, daß das Finanzgericht nur über den angefochtenen Berichtigungsbescheid zu urteilen habe und nach Ergehen dieses Bescheides eingetretene Umstände nicht berücksichtigen dürfe, steht § 243 AO entgegen.
Normenkette
AO § 222/1, §§ 234, 232/1, §§ 243, 248; FGO § 76/1, § 96; AO §§ 246, 204 Abs. 1
Tatbestand
Die Bfin. wurde für den Veranlagungszeitraum 1955 am 4. Oktober 1956 entsprechend ihrer Erklärung zu ... DM Umsatzsteuer veranlagt. Im Betriebsprüfungsbericht vom 3. Februar 1958 stellte sich der Prüfer auf den Standpunkt, die Bfin. habe Baumwollproben vor der Lieferung steuerlich schädlich im Sinne des § 12 UStDB bearbeitet und insoweit Steuervergünstigungen zu Unrecht beansprucht. Das Finanzamt berichtigte daraufhin - der Auffassung des Prüfers folgend - die Veranlagung gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO durch Bescheid vom 25. September 1958.
Gegen diesen Berichtigungsbescheid legte die Bfin. Einspruch ein, in dem sie geltend machte, eine steuerlich schädliche Bearbeitung der Baumwollproben liege nicht vor. Der Einspruch blieb ohne Erfolg.
In der Berufungsinstanz wurde zunächst nur um die steuerlich schädliche Bearbeitung gestritten. Mit Schriftsatz vom 30. Mai 1960 machte die Bfin. erstmals geltend, daß die Oberfinanzdirektion inzwischen festgestellt habe, im Jahre 1955 seien versehentlich in den veranlagten und versteuerten Entgelten auch solche für Lieferungen enthalten, die nicht im Inland ausgeführt und daher nicht steuerbar seien.
Aus den Akten ergibt sich, daß die Oberfinanzdirektion der Bfin. durch Verfügung vom 9. Mai 1960 auf eine Anfrage unverbindlich mitgeteilt hatte, die Lieferungen der Kokosgarne, um die es sich hierbei handelte, unterlägen, da Art der Lieferung der Freihafen sei, regelmäßig nicht der Umsatzsteuer. Die Oberfinanzdirektion hatte die dieser Verfügung zugrunde liegenden Feststellungen auf die Anfrage der Bfin. hin durch den Betriebsprüfungsdienst der Oberfinanzdirektion treffen lassen.
Das Finanzgericht hat auf Grund der Feststellungen des Prüfers der Oberfinanzdirektion als erwiesen angesehen, daß die Bfin. im Jahre 1955 in erheblichem Umfange Kokosgarnlieferungen im Freihafen ausgeführt hat. Es hat jedoch die Frage der steuerlich schädlichen Bearbeitung der Baumwollproben offengelassen und die nicht steuerbaren Kokosgarnlieferungen nicht in vollem Umfange berücksichtigt, weil dem § 234 AO entgegenstehe. Der Betriebsprüfer des Finanzamts (Bericht vom 3. Februar 1958), dessen Feststellungen dem angefochtenen Berichtigungsbescheid zugrunde gelegen hätten, habe nur neue Tatsachen zuungunsten der Bfin. (§ 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO) festgestellt. Mithin könne auf die Berufung der Bfin. die Steuer nur auf den Betrag des ursprünglichen Bescheides herabgesetzt werden.
Hiergegen richtet sich die Rb. der Bfin., die begehrt, daß die Steuer auf den Betrag herabgesetzt werde, der der Nichtsteuerbarkeit der Kokosgarnlieferungen und der Nichtbearbeitung der Baumwollproben entspreche. § 234 AO komme nicht zur Anwendung, weil die Aufsichtsbehörde vor Ablauf der Verjährung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO einen Fehler festgestellt habe.
Entscheidungsgründe
Die Rb. führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
Die Vorinstanz kann sich für ihre Auffassung, daß § 234 AO anzuwenden sei, nicht auf das Urteil des Bundesfinanzhofs III 281/58 U vom 29. April 1960 (BStBl 1960 III S. 298, Slg. Bd. 71 S. 134) berufen. In diesem Falle hatte das Finanzamt den gleichen Tatbestand, den es zuerst zum Anlaß einer Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO genommen hatte, im Laufe des Rechtsmittelverfahrens von der Oberfinanzdirektion als "Fehler" aufdecken lassen und seine Einspruchsentscheidung sodann auch auf § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO gestützt. So aber liegt es im Streitfalle nicht.
Der Tatbestand, der im vorliegenden Falle zur Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO geführt hat, hat nichts mit dem Tatbestand zu tun, den die Oberfinanzdirektion als Fehler aufgedeckt hat. Die Fehleraufdeckung liegt zwar auch hier nach Erlaß des Berichtigungsbescheides vom 25. September 1958; sie liegt aber vor dem Zeitpunkt, in dem über den Sachverhalt vom Finanzgericht zu entscheiden war. Eine Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO muß grundsätzlich möglich sein, wenn die Oberfinanzdirektion einen Fehler vor Ablauf der Verjährungsfrist aufgedeckt hat. Der Tatsacheninstanz war damit ein Sachverhalt unterbreitet, den sie nach § 243 AO in vollem Umfange von Amts wegen zu ermitteln und ihrer Entscheidung zugrunde zu legen hatte. Während des Laufes des Rechtsmittelverfahrens konnte zwar das Finanzamt einen zweiten Berichtigungsbescheid nicht mehr erlassen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs II 258/59 vom 29. November 1961, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1962 S. 116 Nr. 111), doch hatte das Finanzgericht den Steuerfall unter allen ihm unterbreiteten Gesichtspunkten zu überprüfen. Da der als Fehler aufgedeckte Tatbestand auch durch eine Betriebsprüfung festgestellt worden ist, kann er auch als neue Tatsache im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 2 AO gewertet werden. Im Falle des Zusammentreffens von § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO mit der Ziff. 2 oder der Ziff. 4 der gleichen Vorschrift ist jedoch § 234 AO nicht anwendbar (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs V 66/59 U vom 22. Februar 1962, BStBl 1962 III S. 228, Slg. Bd. 74 S. 616, und IV 363/54 U vom 6. Oktober 1955, BStBl 1955 III S. 356, Slg. Bd. 61 S. 410).
Der Bfin. ist im Streitfall auch nicht zur Last zu legen, daß sie nicht auf Fehlerberichtigung noch im Laufe der Rechtsmittelfrist gegen die erste Veranlagung gedrängt hat; denn der Tatbestand liegt insofern nicht einfach und ist für einen Laien nicht ohne weiteres rechtlich zutreffend zu beurteilen. Nichts spricht dafür, daß die Bfin. etwa bewußt von der Einlegung eines Rechtsmittels abgesehen hat (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs III 241/59 U vom 17. November 1961, BStBl 1962 III S. 72, Slg. Bd. 74 S. 190). Wollte man, wie offenbar die Vorinstanz, der Auffassung sein, daß das Finanzgericht im Rechtsmittelverfahren nur über den angefochtenen Berichtigungsbescheid zu urteilen habe, aber nicht neue Tatsachen berücksichtigen könne, die sich erst nach Durchführung der Berichtigungsveranlagung ergeben hätten, so würde eine solche Auffassung mit der Vorschrift des § 243 AO in Widerstreit geraten, überdies dem Grundsatz der Prozeßökonomie zuwiderlaufen. Es wäre nicht sinnvoll, die auf Grund der Fehleraufdeckung, die nun einmal stattgefunden hat, vorzunehmende Berichtigung einem neuen Verfahren zu überlassen, nachdem sich das Finanzgericht die von der zweiten Betriebsprüfung getroffenen Feststellungen bereits weitgehend zu eigen gemacht hatte. Es kann im Streitfalle dahingestellt bleiben, ob die zweite Betriebsprüfung im Laufe des Berufungsverfahrens überhaupt stattfinden durfte. Ausweislich der Akten hatte übrigens der Prüfer der Oberfinanzdirektion nicht nur das Jahr 1955, sondern auch die vorhergehenden Jahre zu prüfen, hinsichtlich derer noch nicht einmal Einspruchsentscheidungen ergangen waren. Er ist bei seiner Prüfung sodann zwangsläufig auf die fehlerhafte Behandlung der Kokosgarnlieferungen im Jahre 1955 gestoßen. Keine Bedeutung hat auch die unverbindliche Fassung der Verfügung der Oberfinanzdirektion vom 9. Mai 1960 an die Bfin., nachdem der von der Oberfinanzdirektion beauftragte Prüfer tatsächlich den Fehler festgestellt hatte und diese Feststellung von der Vorinstanz bereits übernommen worden war. Belanglos ist auch, daß die Anregung zur Fehleraufdeckung von der Steuerpflichtigen ausgegangen ist.
Die Vorentscheidung, die diese Rechtslage verkannt hat, ist deshalb aufzuheben. Die nicht spruchreife Sache geht an das Finanzgericht zurück, das nunmehr ohne die Beschränkung des § 234 AO Feststellungen über den Umfang der nicht steuerbaren Kokosgarnlieferungen und die Prüfung, ob eine schädliche Bearbeitung der Baumwollproben vorliegt, nachzuholen haben wird. Das Finanzgericht wird dabei das gesamte Vorbringen in der Rechtsbeschwerdeinstanz, insbesondere auch über die irrtümliche Berechnung des Streitwertes, zu würdigen haben.
Fundstellen
Haufe-Index 410911 |
BStBl III 1963, 472 |
BFHE 1964, 418 |
BFHE 77, 418 |