Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuererlaß bei Änderung der Rechtsprechung
Leitsatz (NV)
Bei einem Erlaßantrag wegen Änderung der Rechtsprechung ist die Finanzbehörde zu prüfen verpflichtet, ob schutzwürdiges Vertrauen im Einzelfall vorliegt. Dies hängt zum einen davon ab, ob der Steuerpflichtige überhaupt einen Anlaß hatte, auf eine für ihn günstige Rechtsprechung oder Rechtsauffassung zu vertrauen, und zum anderen, daß der Steuerpflichtige tatsächlich auf den Fortbestand der für ihn günstigen Rechtsprechung vertraut und entsprechende Dispositionen getroffen hat.
Normenkette
FGO §§ 102, 120 Abs. 1 S. 1; AO 1977 §§ 163, 227
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) erwarb durch notariell beurkundeten Kaufvertrag vom 20. Mai 1974 mehrere Mietwohngrundstücke zu einem Kaufpreis von 2 Mio. DM. Der vereinbarte Kaufpreis sollte überwiegend durch die Übernahme von Darlehen, die grundbuchlich gesichert waren, belegt werden. Bei zwei der übernommenen hypothekarisch gesicherten Darlehen handelte es sich um Wohnungsbaudarlehen der Bundesrepublik Deutschland, die zinsverbilligt gewährt wurden und die an ein Wohnungsbesetzungsrecht sowie an die Verpflichtung, die Wohnung zu bestimmten Konditionen zu vermieten, gekoppelt waren.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) setzte mit Bescheid vom 23. September 1974 Grunderwerbsteuer in Höhe von 140 000 DM fest. Einspruch, Klage und Revision, mit denen der Kläger unter Hinweis auf die Übernahme der zinsverbilligten Darlehen eine Abzinsung des Nennbetrages der übernommenen Wohnungsbaudarlehen des Bundes und damit eine Herabsetzung der Gegenleistung begehrte, blieben im Hinblick auf die Senatsurteile vom 12. Dezember 1979 II R 127/74 (BFHE 129, 404, BStBl II 1980, 218) und vom 24. März 1981 II R 118/78 (BFHE 133, 95, BStBl II 1981, 487) ohne Erfolg.
Mit Schreiben vom 13. Juli 1983 beantragte der Kläger, die festgesetzte Grunderwerbsteuer in Höhe eines Teilbetrages von 55 514,27 DM zu erlassen. Er habe darauf vertrauen dürfen, daß die nach seiner Ansicht für ihn günstigere Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) hinsichtlich der Abzinsung von zinsgünstig übernommenen Darlehen (vgl. Urteile vom 14. Februar 1967 II 69/63, BFHE 87, 547, BStBl III 1967, 203, und vom 9. Mai 1967 II R 118/66, BFHE 88, 390, BStBl III 1967, 427) fortbestehen würde. Nur zufällig sei es nicht zu einer Versteuerung des Erwerbsvorganges nach der älteren, für ihn günstigeren Rechtsprechung gekommen. Seine Dispositionen seien durch die Änderung der Rechtsprechung beeinträchtigt worden. Das FA handle im übrigen treuwidrig, da es in zwei Parallelfällen die frühere Rechtsprechung angewendet habe. Erlassen werden müsse die Steuer auch aus persönlichen Billigkeitsgründen, da er - zumindest im Zeitpunkt des Erwerbs - nicht in der Lage gewesen sei, die Mehrsteuern zu zahlen. Eine später eingetretene Verbesserung der Vermögensverhältnisse dürfe nicht berücksichtigt werden.
Das FA lehnte durch Bescheid vom 12. August 1983 den Antrag des Klägers u. a. mit der Begründung ab, der Kläger habe auch unter Anwendung der bisherigen Rechtsprechung damit rechnen müssen, daß die Übernahme der Mietpreisbindung als zusätzliche Gegenleistung angesetzt werde.
Auch die hiergegen gerichtete Beschwerde des Klägers blieb ohne Erfolg. In ihrer Beschwerdeentscheidung vom 26. Oktober 1983 führte die Oberfinanzdirektion (OFD) aus, die vorgenommene Besteuerung sei mit dem Sinn und Zweck des Grunderwerbsteuergesetzes (GrEStG) vereinbar und entspreche der materiellen Rechtslage, wie in den neueren BFH-Urteilen zum Ausdruck gebracht, und somit dem Willen des Gesetzgebers. Der Grundsatz von Treu und Glauben sei nicht verletzt, weil das FA einen besonderen Vertrauenstatbestand nicht geschaffen und auch nicht den Eindruck erweckt habe, der Kläger könne mit einer Abzinsung der Wohnungsbaudarlehen und einer entsprechend niedrigen Grunderwerbsteuerbelastung rechnen. Es könne dahingestellt bleiben, ob der Kläger bei einer Anwendung der bisherigen Rechtsprechung des BFH überhaupt damit habe rechnen können, daß der Wert der von ihm übernommenen Verpflichtung, die Wohnungen einem bestimmten Personenkreis mietverbilligt zur Verfügung zu stellen, mit null DM angesetzt worden wäre.
Aufgrund der hiergegen gerichteten Klage hat das Finanzgericht (FG) durch Urteil vom 27. Februar 1985 den Ablehnungsbescheid des FA und die Beschwerdeentscheidung der OFD aufgehoben. FA und OFD hätten nicht geprüft, ob im vorliegenden Einzelfall Vertrauensschutz mit der Folge eines Steuererlasses zu gewähren sei, sondern vielmehr die Ansicht vertreten, es gebe keinen Vertrauensschutz in den Bestand einer ständigen Rechtsprechung. Die Entscheidungen enthielten keine Abwägung mit dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Grundsatz, daß das Recht in einem Rechtsstaat hinreichend berechenbar sein müsse. FA und OFD hätten deshalb auch keine Feststellungen dazu getroffen, ob der Kläger tatsächlich im Vertrauen auf die ständige Rechtsprechung Dispositionen getroffen habe. Der Zusammenhang zwischen Vertrauen und Disposition könne nicht ohne weiteres unterstellt werden. Bezüglich des Erlaßantrages aus persönlichen Gründen habe die OFD zu Recht auf den Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung abgestellt und insoweit den Erlaßantrag zu Recht abgelehnt; der Kläger habe nicht vorgetragen, daß seine finanziellen Verhältnisse zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung die Zahlung der streitigen Steuer nicht zugelassen hätten.
Mit der Revision hiergegen beantragt das FA sinngemäß, unter Aufhebung der Vorentscheidung, die Klage abzuweisen.
Das FG habe übersehen, daß im Streitfall ein schutzwürdiges Vertrauen des Klägers in den Bestand einer für ihn günstigen Rechtsprechung nicht vorgelegen haben könne. Denn auch nach der alten Rechtsprechung sei der Wert der vom Erwerber übernommenen Verpflichtung, die öffentlich geförderten Wohnungen zu einer unter der Marktmiete liegenden Miete zu vermieten, zur Gegenleistung hinzuzurechnen. Der BFH habe bereits durch Urteil vom 5. November 1975 II R 106/70 (BFHE 117, 304, BStBl II 1976, 130) entschieden, daß der Wert der Mietpreisbindung dem vollen Abzinsungsbetrag entspreche, wenn nicht Umstände dargetan würden, die eine geringere Schätzung erforderten. Hierauf habe das FA u. a. seine Ablehnung des Erlaßantrages durch Bescheid vom 12. August 1983 gestützt.Der Kläger beantragt,
1. die Revision als unzulässig zu verwerfen,
2. hilfsweise die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
1. Entgegen der Auffassung des Klägers hat das FA innerhalb der Revisionsfrist Revision eingelegt. Ausweislich des in der FG-Akte befindlichen Empfangsbekenntnisses ist das Urteil der Vorinstanz dem FA am 9. April 1985 zugegangen. Die Revisionsschrift ist beim FG am 6. Mai 1985, also innerhalb der Monatsfrist des § 120 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO), eingegangen.
2. Die Revision ist unbegründet, da das FG - zumindest im Ergebnis zutreffend - den Ablehnungsbescheid des FA sowie die Beschwerdeentscheidung der OFD als ermessens- und damit rechtsfehlerhaft erkannt und aufgehoben hat.
Das FG hat zutreffend die Ablehnung des Erlasses von Grunderwerbsteuer als Ermessensentscheidung der Finanzverwaltungsbehörden beurteilt und demzufolge gemäß § 102 FGO nur geprüft, ob die Ablehnung der Steuererstattung rechtswidrig ist, ,,weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist." Die Ablehnung des Steuererlasses war rechtswidrig, weil die Entscheidungen des FA und der OFD nicht erkennen lassen, daß von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde. Das FG hat zutreffend erkannt, daß die Tatsachenfeststellungen unvollständig sind und die Begründung nicht ausreicht, um die Ablehnung des Steuererlasses zu rechtfertigen.
Der Kläger begründet seinen Erlaßantrag im wesentlichen damit, daß er auf die - nach seiner Auffassung - günstigere ältere Rechtsprechung des BFH zur Abzinsung von zinsverbilligt übernommenen Darlehen beim Grundstückserwerb vertraut habe. Grundsätzlich kann ein Steuererlaß aus sachlichen Billigkeitsgründen in Betracht kommen, wenn das Vertrauen eines Steuerpflichtigen in die Fortgeltung einer bestimmten gesetzlichen Regelung oder den Fortbestand einer Rechtsprechung schützenswert ist. Ob und inwieweit schutzwürdiges Vertrauen vorliegt und einen Erlaß rechtfertigt, wird - vor allem in Fällen mit großer Breitenwirkung - durch Verwaltungserlasse geregelt, die durch § 163 der Abgabenordnung (AO 1977) als Rechtsgrundlage gedeckt sein müssen (vgl. BFH- Urteile vom 5. Dezember 1968 IV R 110/68, BFHE 94, 246, BStBl II 1969, 136, und vom 21. Dezember 1972 IV R 53/72, BFHE 107, 564, BStBl II 1973, 298). Der Senat hat bereits in seinem Beschluß in der Hauptsache vom 6. Februar 1985 II R 178/82 darauf hingewiesen, daß im Streitfall die Notwendigkeit einer solchen Anpassungsregelung nach § 163 AO 1977 nicht besteht.
Das bedeutet jedoch nicht, daß die Finanzbehörde nicht auch im Einzelfall zu prüfen verpflichtet ist, ob ein Erlaß gemäß § 227 AO 1977 in Betracht kommt. Ob schutzwürdiges Vertrauen im Einzelfall vorliegt, hängt zum einen davon ab, ob der Steuerpflichtige überhaupt einen Anlaß hatte, auf eine für ihn günstige Rechtsprechung oder Rechtsauffassung zu vertrauen, und zum anderen, daß feststeht, daß der Steuerpflichtige tatsächlich auf den Fortbestand der für ihn günstigen Rechtsprechung vertraut und entsprechende Dispositionen getroffen hat.
Es ist nicht festgestellt worden, ob und inwieweit dem Kläger die Urteile in BFHE 87, 547, BStBl III 1967, 203 und in BFHE 88, 390, BStBl III 1967, 427 bekannt waren und welche konkreten Dispositionen der Kläger im Hinblick auf diese Urteile getroffen hat.
Darüber hinaus werden FA und OFD zu prüfen haben, ob möglicherweise schon deshalb für den Kläger kein Anlaß bestand, auf eine für ihn günstige Rechtsprechung zu vertrauen, weil auch nach der älteren Rechtsprechung der Wert der vom Kläger eingegangenen Verpflichtung, die Wohnungen mietverbilligt an einen bestimmten Personenkreis zu vermieten, als sonstige Leistung der Gegenleistung hinzuzurechnen war. Dabei wird insbesondere zunächst zu prüfen sein, ob in den Urteilen des BFH vom 12. Dezember 1979 II R 127/74 (BFHE 129, 404, BStBl II 1980, 218) und vom 24. März 1981 II R 118/78 (BFHE 133, 95, BStBl II 1981, 487) überhaupt eine Rechtsprechung zu Lasten des Klägers geändert oder lediglich verdeutlicht wurde (vgl. hierzu Urteil vom 15. Januar 1986 II R 141/83, BFHE 145, 453, BStBl II 1986, 418). Schließlich ist bei Verneinung dieser Frage noch zu prüfen, inwieweit die übernommene Verpflichtung bezüglich der Mietpreisbindung und des Besetzungsrechtes auch nach der alten Rechtsprechung zur Erhöhung der Gegenleistung geführt hätte. Denn auch insoweit kann ein schutzwürdiges Vertrauen des Klägers nicht vorgelegen haben.
Die diesbezügliche Begründung des FA in dem Ablehnungsbescheid reicht nicht aus, da weder Ausführungen zu der Frage, ob überhaupt eine verschärfende Rechtsprechung vorliegt, enthalten sind noch Feststellungen dazu getroffen wurden, ob und inwieweit nach der älteren Rechtsprechung die Mietpreisbindung und das Wohnungsbesetzungsrecht zur Erhöhung der Gegenleistung geführt hätten. Auch die Beschwerdeentscheidung der OFD enthält hierzu keine Ausführungen. Die Darlegungen des FA in der Revisionsbegründung konnten nicht berücksichtigt werden, da ein Nachschieben von Gründen während des Steuerprozesses unzulässig ist. Vielmehr sind die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der letztinstanzlichen Verwaltungsentscheidung (Beschwerdeentscheidung) zugrunde zu legen (vgl. z. B. BFH- Urteil vom 26. Juli 1972 I R 158/71, BFHE 106, 489, BStBl II 1972, 919).
Fundstellen
Haufe-Index 415383 |
BFH/NV 1989, 80 |