Leitsatz (amtlich)
Es ist ermessensfehlerhaft, wenn das FA in einem Fall, in dem der größte Teil des am 21. Juni 1948 vorhandenen Vermögens verlorengegangen ist, den Erwerber des restlichen Vermögens auch für den Teil der Vermögensabgabe in Anspruch nimmt, der auf das verlorengegangene Vermögen entfällt.
Normenkette
AO i.d.F. vor dem AOÄG 1965 § 120; AO i.d.F. vor dem AOÄG 1965 § 330; BGB § 419
Tatbestand
Die Eltern des Klägers sind durch den unanfechtbar gewordenen Bescheid vom 28. Juli 1956 zur Vermögensabgabe veranlagt worden. Das abgabepflichtige Vermögen setzte sich aus einem Mietwohngrundstück mit einem Einheitswert von 12 600 DM, anderem Grundvermögen mit einem Einheitswert von 650 DM und Betriebsvermögen mit einem Einheitswert von 50 100 DM zusammen. Der ursprüngliche Vierteljahrsbetrag war auf 406,50 DM festgesetzt worden. Mit Wirkung vom 1. April 1957 ist er nach § 47a LAG um 60,80 DM gemindert worden. Der Vater des Klägers ist im Februar 1949 verstorben. Nach seinem Tod ging das am 21. Juni 1948 vorhandene Betriebsvermögen völlig verloren. Der Mutter des Klägers wurden deshalb für den Erlaßzeitraum 1. Januar 1952 bis 31. Dezember 1955 je 320,75 DM (= 79 v. H. des Vierteljahrsbetrags) wegen Vermögensverfalls erlassen und von den nach dem 1. Januar 1956 fällig werdenden Vierteljahrsbeträgen jeweils ein Betrag in gleicher Höhe gestundet. Der jeweilige Restbetrag der Vierteljahrsbeträge in Höhe von 85,30 DM (ab 1. April 1957 in Höhe von 24,50 DM) wurde der Mutter des Klägers nach § 54 LAG gestundet.
Auf eine Anfrage der Mutter des Klägers teilte das FA ihr durch Schreiben vom 7. Oktober 1958 mit, daß bei einer etwaigen Veräußerung ihres Grundstücks grundsätzlich die bisher nach § 54 LAG gestundeten Vermögensabgaberaten fällig würden. Die künftig fällig werdenden Raten von vierteljährlich 24,50 DM könnten vom Erwerber übernommen oder auch von ihr selbst an den Fälligkeitstagen entrichtet werden. Ferner bestehe die Möglichkeit, die gesamte künftige Vermögensabgabe durch Zahlung eines einmaligen Ablösungsbetrages von rd. 1 000 DM zu tilgen. Unberührt hiervon blieben die Stundungen der auf dem ehemaligen Betriebsvermögen lastenden Vermögensabgabe wegen Vermögensverfalls bestehen. Diese Vermögensabgaberaten könnten erst nach Ablauf der jeweiligen Erlaßzeiträume auf Antrag erlassen werden.
Durch notariellen Vertrag vom 29. Januar 1959 veräußerte die Mutter des Klägers ihren Grundbesitz an den Kläger und dessen Schwester je zur Hälfte. Als Gegenleistung übernahmen die Erwerber eine auf dem Grundbesitz lastende Hypothek von 6 000 DM und verpflichteten sich, ihrer Mutter auf Lebenszeit eine monatliche Rente von 250 DM zu zahlen, die bei Änderung des Lebenshaltungsindex gegebenenfalls auf 350 DM erhöht werden sollte. Außerdem übernahmen die Erwerber die Verpflichtung der Mutter aus dem LAG. Schließlich verpflichteten sie sich, an die Mutter die Beträge zurückzuzahlen, die diese für vorausgezahlte Miete an dritte Personen zu zahlen verpflichtet war.
Am 18. Juni 1959 fragte der Kläger unter Bezugnahme auf das Schreiben des FA vom 7. Oktober 1958 an seine Mutter beim FA an, wie hoch die von ihm als Erwerber zu zahlenden Beträge insgesamt jetzt noch seien. Das FA teilte mit, nachdem die Mutter zu dieser Auskunft ihr Einverständnis erklärt hatte, daß auf das erworbene Vermögen ein Anteil der Vermögensabgabe von 21 v. H. von 406,05 DM = 85,36 DM entfalle. Zur Ablösung dieses Betrages ab der Rate 76 sei ein Betrag von 3 386,84 DM erforderlich. Die Ablösung könne aber, solange die Vermögensabgabeschuld nicht auf den Kläger übergegangen sei, nur durch seine Mutter vorgenommen werden.
Durch Bescheid vom 2. März 1960 erließ das FA der Mutter des Klägers für den Erlaßzeitraum vom 1. Januar 1956 bis 31. Dezember 1958 je 88 v. H. der Vierteljahrsbeträge. Am 10. Mai 1960 gingen beim FA 3 386,84 DM als Ablösungsbetrag ein. Das FA verwendete diesen Betrag in dem nach § 94 AO geänderten Ablösungsbescheid vom 20. November 1961 zur Teilablösung eines Vierteljahrsbetrags von 72,50 DM und setzte den ab 1. April 1960 noch verbleibenden Vierteljahrsbetrag auf 272,75 DM fest. Durch Schreiben vom 29. September 1960 hatte das FA dem Kläger angekündigt, daß die gesamte Vermögensabgabeschuld seiner Mutter nach § 50 LAG sofort fällig gestellt werden müsse, weil er und seine Schwester das gesamte Vermögen der Mutter übernommen hätten. Für die mit dem Zeitwert fällig gestellte Abgabeschuld müßten er und seine Schwester nach § 419 BGB in Verbindung mit § 120 AO als Haftende in Anspruch genommen werden. Dem Kläger wurde anheim gegeben, sich dazu zu äußern. Eine ähnliche Ankündigung richtete das FA am 18. Januar 1961 an die Schwester des Klägers. Der Kläger bestritt seine Haftung nach § 419 BGB. Das FA erließ jedoch am 25. April 1961 gegen ihn und seine Schwester je einen Haftungsbescheid, mit denen es die beiden Geschwister als Gesamtschuldner nach § 419 BGB in Verbindung mit § 120 AO für die ab 10. Februar 1961 fällig gewordenen und noch fällig werdenden Vierteljahrsbeträge von je 272,75 DM in Anspruch nahm. Gegen den Haftungsbescheid legte der Kläger Beschwerde ein und erhob Feststellungsklage beim Landgericht (LG). Diese Klage wurde wegen Versäumung der in § 330 Abs. 2 AO i. d. V. vor dem Gesetz zur Änderung der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze vom 15. September 1965 - AOÄG - (BGBl I 1965, 1356, BStBl I 1965, 643) enthaltenden Ausschlußfrist rechtskräftig abgewiesen. Die Beschwerde hatte keinen Erfolg. Die OFD sah die Beschwerde des Klägers teils als unzulässig, teils als unbegründet an. Hinsichtlich des Vorbringens des Klägers, daß die Voraussetzungen des § 419 BGB nicht gegeben seien, hielt die OFD die Beschwerde unter Hinweis auf den Beschluß des BFH II 198/52 U vom 28. Januar 1953 (BFH 57, 209, BStBl III 1953, 82) deswegen für unzulässig, weil diese Einwendungen im Verfahren vor den Zivilgerichten hätten geltend gemacht werden müssen. Für unbegründet hielt die OFD die Beschwerde insoweit, als der Kläger eingewandt habe, daß seine Inanspruchnahme einen Ermessensmißbrauch darstelle und gegen die Grundsätze von Treu und Glauben verstoße.
Auch die Berufung blieb erfolglos. Das FG war der Auffassung, daß der Kläger wegen der Rechtskraft des LG-Urteils überhaupt keine Einwendungen mehr dagegen erheben könne, daß er auf Grund des § 419 BGB in Verbindung mit § 120 AO als Haftender für die Vermögensabgabeschuld seiner Mutter in Anspruch genommen worden sei.
Mit der Rechtsbeschwerde, die nach dem Inkrafttreten der FGO als Revision zu behandeln ist, rügt der Kläger unrichtige Anwendung des § 330 AO in Verbindung mit § 120 AO. Er ist der Auffassung, daß nach dem gesetzgeberischen Willen § 330 Abs. 2 AO dahin auszulegen sei, daß das ordentliche Gericht nur dann zuständig sei, wenn Einwendungen gegen die Inanspruchnahme aus § 419 BGB geltend gemacht würden, die ihrem spezifischen Gehalt nach typisch zivilrechtlich seien. Er habe jedoch ausschließlich Gründe vorgetragen, die sich gegen die Anwendung des § 120 AO in Verbindung mit § 330 AO richteten und somit die Auslegung dieser rein steuerrechtlichen Vorschriften beträfen. Über sie könne nur im steuergerichtlichen Verfahren entschieden werden. Er halte es nach wie vor für einen Ermessensmißbrauch, wenn ein Haftungsschuldner mit Hilfe einer bürgerlichrechtlichen Vorschrift für öffentliche Abgaben in Anspruch genommen werde, die an sich verfallen bzw. nicht eintreibbar gewesen seien. Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung und den Haftungsbescheid ersatzlos aufzuheben.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
1. Nach § 120 Abs. 1 AO gilt, wenn jemand nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts kraft Gesetzes verpflichtet ist, die Verbindlichkeiten eines anderen zu erfüllen, diese Verpflichtung auch für die Steuerschulden des anderen. Eine solche bürgerlich-rechtliche Verpflichtung kraft Gesetzes besteht nach § 419 BGB für den, der durch Vertrag das Vermögen eines anderen übernimmt. Liegt ein solcher Fall vor, so kann nach § 330 Abs. 1 AO das FA auch gegen den Vermögensübernehmer wegen Steuerschulden des Veräußerers die Zwangsvollstreckung anordnen. Der Anordnung der Zwangsvollstreckung muß nach § 330 Abs. 1 Satz 2 AO eine Entscheidung des FA vorausgehen, die nur nach vorherigem Gehör des Haftenden ergehen kann und als vollstreckbarer Titel gilt. Nach diesen Vorschriften ist das FA im Streitfall verfahren. Es hat dem Kläger schriftlich mitgeteilt, daß es ihn nach § 419 BGB in Verbindung mit den §§ 120, 330 AO in Anspruch nehmen wolle und hat ihn aufgefordert, dazu Stellung zu nehmen. Der Kläger hat gegen die beabsichtigte Inanspruchnahme Einwendungen erhoben. Er hat bestritten, zur Erfüllung der Vermögensabgabeschuld seiner Mutter verpflichtet zu sein. Über diese Einwendungen hatte nach § 330 Abs. 2 Satz 1 AO das FA zu entscheiden. Das hat das FA durch den Erlaß des Haftungsbescheides getan, indem es die Einwendungen des Klägers als unbegründet zurückwies. Nach § 330 Abs. 2 Satz 2 AO, in der im Streitfall noch anzuwendenden Fassung vor dem AOÄG war gegen diese Entscheidung gerichtliche Klage gegeben. Diese Klage wurde im Streitfall rechtskräftig abgewiesen, weil der Kläger sie nicht innerhalb der in § 330 Abs. 2 Satz 3 AO a. F. angeordneten Ausschlußfrist erhoben hatte.
Das FG ist der Auffassung, daß infolge der Rechtskraft dieses Urteils der Kläger keine Einwendungen mehr gegen seine Inanspruchnahme als Haftender erheben könne. Der Senat teilt diese Auffasung in dieser Allgemeinheit nicht. Er schließt sich vielmehr der Auffassung des BFH-Beschlusses II 198/52 U (a. a. O.) an, daß die Zuständigkeit der Zivilgerichte nur insoweit gegeben ist, als der in Anspruch Genommene sich gegen seine bürgerlich-rechtliche Haftung als solche auf Grund des § 419 BGB wendet, daß jedoch die Zuständigkeit der Finanzbehörden und damit auch der Rechtsmittelweg vor den FG insoweit besteht, als steuerrechtliche Einwendungen erhoben werden. Dabei muß beachtet werden, daß die zunächst gemäß § 419 BGB nur nach bürgerlichem Recht bestehende Haftung durch § 120 AO auch zu einer steuerrechtlichen Haftung wird. Der in Anspruch Genommene kann deshalb, ohne zu bestreiten, daß er das Vermögen übernommen habe und damit nach § 419 BGB bürgerlich-rechtlich für die Schulden des anderen hafte, Einwendungen dagegen erheben, daß er auf Grund des § 120 AO auch für die Steuerschulden des anderen in Anspruch genommen worden ist. Über diese Einwendungen hätte das Zivilgericht nicht entscheiden können, weil es sich nicht um bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten im Sinne des § 13 GVG handelt. Über sie müssen die Finanzbehörden und im Rechtsmittelweg die Finanzgerichte (vgl. früher § 228 AO a. F., jetzt § 33 FGO) entscheiden. Zu dieser Art von Einwendungen gehören die vom Kläger erhobenen Einwendungen, daß seine Inanspruchnahme ermessensmißbräuchlich sei und gegen die Grundsätze von Treu und Glauben verstoße. Über sie hätte das FG sachlich entscheiden müssen. Schon aus diesem Grunde unterliegt die Vorentscheidung der Aufhebung.
2. Die Sache ist spruchreif. Die Einwendungen des Klägers gegen seine Inanspruchnahme als Haftender sind begründet. Nach § 330 Abs. 1 Satz 1 AO ist, wie sich aus dem Wort "kann" ergibt, der Erlaß eines Haftungsbescheids in das pflichtgemäße Ermessen des FA gestellt. Es ist also nicht so, daß das FA jemanden, der nach § 419 BGB für die Schuld eines anderen haftet, auf jeden Fall auch für die Vermögensabgabeschuld des anderen in Anspruch nehmen muß. Das FA beruft sich in diesem Zusammenhang zu Unrecht auf die Anordnung in der Lastenausgleichskartei (Karte 27 Abschn. III zu § 203 Abs. 5 LAG). Denn dort wird wegen der Inanspruchnahme eines Haftenden auf Tz. 21 Satz 2 des Erlasses des BdF vom 1. September 1955 (Lastenausgleichskartei, Karte 5 zu § 61 LAG) verwiesen. Danach soll für die Inanspruchnahme maßgebend sein, ob Umstände vorliegen, die in der Person des Haftenden liegen und die eine Geltendmachung der Haftung als unbillig erscheinen lassen. Noch deutlicher kommt das in Tz. 7 der Verwaltungsanordnung über den Erlaß von Vermögensabgabe bei außerordentlichem Vermögensverfall vom 19. November 1963 - VerfVAO 1964 - (BStBl I 1963, 798) zum Ausdruck. Dort ist angeordnet, daß vor der Entscheidung über einen Erlaß wegen Vermögensverfalls zu prüfen sei, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe der Haftende "nach billigem Ermessen" in Anspruch genommen werden kann. Dazu vertritt Kühne-Wolff (Die Gesetzgebung über den Lastenausgleich, Anhang VII zu LAG § 203: Anm. 2 zu Tz. 7 VerfVAO 1964) die Auffassung, daß es bei einer Haftung nach § 419 BGB im Einzelfall wegen der bestehenden Regreßansprüche des Erwerbers einer sorgfältigen Prüfung durch das FA bedürfe, ob die Inanspruchnahme des Erwerbers der Billigkeit entspricht (vgl. auch Ostendorf in Rundschau für Lastenausgleich 1964 S. 337 [342]). Nach Auffassung des Senats ist in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem der größte Teil des am 21. Juni 1948 vorhandenen Vermögens verlorengegangen ist, der Ermessensspielraum so eingeengt, daß der Erwerber des restlichen Vermögens nach billigem Ermessen nur für den Teil der Vermögensabgabe in Anspruch genommen werden kann, der auf diesem übernommenen Restvermögen ruht. Es ist dagegen ermessensfehlerhaft, ihn auch für den Teil der Vermögensabgabe in Anspruch zu nehmen, der auf das verlorengegangene Vermögen entfällt. Da der Kläger den auf das übernommene Grundvermögen entfallenden Teil der Vermögensabgabe seiner Mutter abgelöst hat, kommt eine weitere Inanspruchnahme auf Grund des § 419 BGB in Verbindung mit § 120 AO nicht in Betracht.
Der Haftungsbescheid kann auch nicht in einen solchen nach § 61 LAG umgedeutet werden, weil die Voraussetzungen der Haftung nach dieser Vorschrift ganz andere sind als die der Haftung nach § 419 BGB in Verbindung mit § 120 AO. Der Senat kann deshalb auch nicht dazu Stellung nehmen, ob und in welchem Umfang eine Haftung nach § 61 LAG in Betracht kommt. Es waren nach alledem auch die Einspruchsentscheidung des FA und der gegen den Kläger gerichtete Haftungsbescheid vom 25. April 1961 ersatzlos aufzuheben.
Fundstellen
Haufe-Index 69001 |
BStBl II 1970, 478 |
BFHE 1970, 298 |