Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld: Keine Korrektur eines während des Kalenderjahres ergangenen bestandskräftigen Kindergeldbescheides aufgrund geänderter Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG
Leitsatz (NV)
§ 70 Abs. 4 EStG ist nicht anwendbar, wenn der maßgebliche Jahresgrenzbetrag allein deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat.
Normenkette
EStG § 32 Abs. 4, § 70 Abs. 4
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) hat eine im Jahr 1983 geborene Tochter, die sich im Jahr 2004 in Ausbildung befand.
Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) berechnete nach den Angaben des Klägers Einkünfte der Tochter im Jahr 2004 in Höhe von 8 103 € (Bruttoarbeitslohn in Höhe von 9 414 € abzüglich Werbungskosten in Höhe von 1 311 €). Mit Bescheid vom 30. September 2004 lehnte die Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld für die Tochter ab, da die voraussichtlichen Einkünfte und Bezüge der Tochter im Jahr 2004 den maßgeblichen Jahresgrenzbetrag von 7 680 € (§ 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der für das Jahr 2004 geltenden Fassung --EStG--) überschritten. Der Bescheid wurde nicht angefochten.
Am 30. Juni 2005 beantragte der Kläger unter Vorlage des Einkommensteuerbescheids der Tochter für das Jahr 2004, in dem die Werbungskosten mit 1 854 € angesetzt waren, erneut Kindergeld für das Jahr 2004. Zugleich wies er auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) hin, nach dem die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes nicht in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einbezogen werden dürften.
Mit Bescheid vom 30. September 2005 lehnte die Familienkasse den Antrag ab. Der Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 sei lediglich auf nicht bestandskräftige Fälle anzuwenden. Der Bescheid vom 30. September 2004 sei jedoch bestandskräftig geworden; eine Korrekturvorschrift sei nicht einschlägig. Der Werbungskostenansatz im Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2004 sei zu hoch, weil die Tochter an 20 Arbeitstagen wegen Krankheit gefehlt habe und die Entfernungspauschale für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG) daher nicht für 230 Tage angesetzt werden könne. Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb erfolglos.
Unter Aufhebung der Bescheide vom 30. September 2004 und 30. September 2005 verpflichtete das Finanzgericht (FG) die Familienkasse, dem Kläger für das Jahr 2004 Kindergeld zu gewähren. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2007, 52 veröffentlicht. Das FG führte im Wesentlichen aus, die Einkünfte und Bezüge der Tochter überschritten nach Abzug der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge nicht den Jahresgrenzbetrag von 7 680 €. Der Ablehnungsbescheid vom 30. September 2004 könne nach § 70 Abs. 4 EStG korrigiert werden.
Die Familienkasse rügt mit ihrer Revision die Verletzung des § 70 Abs. 4 EStG.
Sie beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision führt hinsichtlich des Kindergeldes für die Monate Januar bis Oktober 2004 zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und insoweit zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Im Übrigen ist die Revision unbegründet und zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO).
Entgegen der Auffassung des FG kann für den Zeitraum Januar bis Oktober 2004 kein Kindergeld gewährt werden, da der Bescheid, mit dem die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für diesen Zeitraum abgelehnt hat, bestandskräftig geworden ist und die Voraussetzungen für eine Änderung dieses Bescheids nach § 70 Abs. 4 EStG nicht vorliegen. Im Ergebnis zutreffend hat das FG allerdings entschieden, dass für die Monate November und Dezember 2004 Kindergeld zu gewähren ist, da der Ablehnungsbescheid nur bis einschließlich Oktober 2004 bindend ist.
1. Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG besteht für ein volljähriges Kind kein Anspruch auf Kindergeld, wenn das Kind Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von mehr als 7 680 € im Kalenderjahr (2004) hat.
2. Die Familienkasse hat mit dem Bescheid vom 30. September 2004 die Festsetzung von Kindergeld für das Jahr 2004 abgelehnt, weil nach ihrer Berechnung die Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr 2004 den Jahresgrenzbetrag überstiegen. Da der Kläger nicht innerhalb der Monatsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) Einspruch eingelegt hat, ist der Bescheid bestandskräftig geworden. Die darin getroffene Regelung über den Kindergeldanspruch ist bindend bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe dieses Bescheids (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 25. Juli 2001 VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88).
Im Streitfall ist der Bescheid vom 30. September 2004 (nur) bis Ende Oktober 2004 bindend, da er gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO als am 3. Oktober 2004 bekannt gegeben gilt. Nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, bei einer Übermittlung im Inland am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Der Festsetzung von Kindergeld für die Monate November und Dezember 2004 steht die Bestandskraft des Bescheids vom 30. September 2004 demnach nicht entgegen.
Die Bestandskraft des Ablehnungsbescheids vom 30. September 2004 wird durch den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 nicht berührt. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, grundsätzlich unberührt. Dies gilt analog, wenn das BVerfG --wie im Streitfall-- lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt hat (Senatsurteil vom 28. Juni 2006 III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).
Der Bescheid ist auch wirksam. Denn ein Bescheid, der auf einer von einer Entscheidung des BVerfG abweichenden Auslegung einer Rechtsnorm beruht, ist zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig (Senatsurteil in BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).
3. Entgegen der Auffassung des FG und des Klägers ist eine Korrektur des Bescheids vom 30. September 2004 nach § 70 Abs. 4 EStG nicht möglich, da der Jahresgrenzbetrag im Streitfall allein deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat (Senatsurteil vom 28. November 2006 III R 6/06, BFH/NV 2007, 338).
Fundstellen
Haufe-Index 1774141 |
BFH/NV 2007, 1642 |