Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufhebung des angefochtenen Bescheides durch das FG wegen Verletzung der Sachaufklärungspflicht
Leitsatz (NV)
Das FG darf den angefochtenen Verwaltungsakt nicht gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO wegen Verletzung der Sachaufklärungspflicht aufheben, wenn das FA nach Sachlage keinen Anlaß zu einer weiteren Sachaufklärung hatte.
Normenkette
AO 1977 §§ 88, 92 Nr. 1, §§ 111, 112 Abs. 1 Nrn. 3-4, § 175 Nr. 1, §§ 235, 370 Abs. 3-4; FGO § 76 Abs. 1, § 100 Abs. 2 S. 2, § 96 Abs. 2; StPO § 154 Abs. 1 Nrn. 1-2
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) erzielte in den Jahren 1972 bis 1974 gewerbliche Einkünfte aus der Beteiligung an einer GmbH & Co. KG. Eine bei der Gesellschaft im Jahre 1977 durchgeführte Außenprüfung ergab, daß Einnahmen nicht erfaßt und Ausgaben unzutreffend verbucht worden waren. Als dafür verantwortliche Person ermittelte der Prüfer den Kläger.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) berichtigte daraufhin die Feststellungsbescheide 1972 bis 1974 und erließ gemäß § 175 Nr. 1 AO 1977 gegen den Kläger geänderte Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1972 bis 1974. Insgesamt ergab sich daraus eine Nachforderung an Einkommensteuer in Höhe von . . . DM.
Die Bußgeld- und Strafsachenstelle des FA leitete daraufhin gegen den Kläger ein Strafverfahren wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung ein. In der Hauptverhandlung am 26. September 1979 stellte das Amtsgericht . . . - Schöffengericht - das Strafverfahren im Hinblick auf die Verurteilung des Klägers in dem Verfahren . . ., in dem er durch Urteil vom 19. Juli 1977 wegen Untreue zu einer Freiheitsstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden war, gemäß § 154 StPO ein.
Das FA sah den Tatbestand der Steuerhinterziehung i. S. des § 370 AO 1977 als gegeben an und setzte mit Bescheid vom 29. November 1979 gegen den Kläger Hinterziehungszinsen zur Einkommensteuer 1972 bis 1974 in Höhe von insgesamt . . . DM fest. In den Erläuterungen heißt es unter D.: ,,Die Festsetzung der Hinterziehungszinsen erfolgte, da Steuerbeträge verkürzt wurden."
Mit dem Einspruch machte der Kläger geltend, für verkürzte Steuern sei in § 235 AO 1977 keine Zinspflicht vorgesehen, sondern nur für hinterzogene Steuern. In dem vom FA angestrengten Strafverfahren sei er aber von der Anklage wegen Steuerhinterziehung freigesprochen worden. Das FA teilte daraufhin dem Kläger durch Schreiben vom 25. April 1980 u. a. mit, daß der Tatbestand der Steuerhinterziehung (§ 370 Abs. 3 und 4 AO 1977) bei ihm erfüllt sei. Das Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung sei in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht . . . am 26. September 1979 eingestellt worden, da die zu erwartende Strafe im Vergleich zu den bereits verhängten Strafen nicht ins Gewicht falle.
Da sich der Kläger dann nicht mehr äußerte, wies das FA mit der Einspruchsentscheidung vom 9. Juli 1979 den Einspruch des Klägers mit derselben Begründung zurück.
Auf die Klage hob das Finanzgericht (FG) den Bescheid vom 29. November 1979 und die Einspruchsentscheidung vom 9. Juli 1980 auf und verwies die Sache zur Nachholung fehlender Ermittlungen gemäß § 100 Abs. 2 FGO an das FA zurück.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision macht das FA im wesentlichen geltend: Das FG hätte von der Möglichkeit i. S. des § 100 Abs. 1 Satz 2 FGO keinen Gebrauch machen dürfen.
a) Aus den in den Steuerakten enthaltenen Schreiben der Straf- und Bußgeldsachenstelle vom 27. März 1980 und der Staatsanwaltschaft vom 4. Oktober 1979 gehe eindeutig hervor, daß das Strafverfahren u. a. wegen des Verdachts der Hinterziehung von Einkommensteuerbeträgen der Jahre 1972 bis 1974 in Höhe von . . . DM anhängig gewesen sei. Daß Hinterziehungszinsen für Einkommensteuer dieses Zeitraums nur auf einer Bemessungsgrundlage von . . . DM festgesetzt worden seien, lasse keinen Zweifel an der Identität der Steuerbeträge aufkommen. Insoweit habe das FG das Aktenmaterial nicht zutreffend gewürdigt.
b) Aus den vorgelegten Unterlagen sei für das FG ersichtlich gewesen, daß der Kläger nach den Ermittlungen der Straf- und Bußgeldsachenstelle vorsätzlich Steuerhinterziehung begangen habe. Es habe daher keine Veranlassung gehabt, diesen Feststellungen der Spezialbehörde nicht zu folgen. Für das FG hätte es keinen erheblichen Aufwand an Zeit oder Kosten bedeutet, die Strafakten von der Staatsanwaltschaft anzufordern oder das FA auf die Notwendigkeit der Herbeischaffung hinzuweisen. Aus den Ermittlungsakten der Straf- und Bußgeldsachenstelle und der Staatsanwaltschaft hätte das FG ohne weiteres feststellen können, daß die vom Kläger bewirkten Sachverhalte die Voraussetzungen des § 235 i. V. m. § 370 AO 1977 erfüllt hätten. Aus der Aussage des Klägers vom 27. September 1978 ergebe sich, daß der Kläger vorsätzlich private Aufwendungen als Betriebsausgaben verbucht habe, um damit die Festsetzung seiner persönlichen Ertragsteuern 1972 bis 1974 niedrig zu halten. Das gelte auch für die Verbuchung von Belegen, die er sich von Dritten beschafft habe. Eine Entlastung des Klägers ergebe sich auch nicht aus seiner Aussage für den im Privatvermögen der Ehefrau befindlichen PKW.
Aus dem Ermittlungsergebnis, das der Staatsanwaltschaft übersandt worden sei, gehe hervor, daß der Kläger als früherer Angehöriger der steuerberatenden Berufe über umfassende steuerliche Kenntnisse verfüge und sich bereits deshalb für die von ihm bewirkten Sachverhalte nicht auf Unkenntnis oder Irrtum berufen könne.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
1. Die Rüge des FA, das FG habe die Vorschrift des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO verletzt, ist begründet. Das FG hat als Tatsachengericht gemäß § 76 Abs. 1 FGO den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Das Begehren des Steuerpflichtigen auf Rechtsschutz gegen eine Entscheidung des FA geht in besonderer Weise dahin, daß der Sachverhalt durch das Gericht aufgeklärt wird. Dem wird ein FG nicht gerecht, wenn es sich einer Sachverhaltsermittlung dadurch entzieht, daß es eine nach seiner Ansicht noch nicht genügend aufgeklärte Sache an das FA zurückverweist (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 18. Dezember 1979 VIII R 27/77, BFHE 130, 7, BStBl II 1980, 330).
2. Gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO kann sich das Gericht darauf beschränken, den Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf aufzuheben und von einer eigenen Sachentscheidung absehen, wenn es wesentliche Verfahrensmängel feststellt und eine weitere, einen erheblichen Aufwand an Kosten und Zeit erfordernde Aufklärung für nötig hält. Die Feststellungen des Gerichts, ob die Voraussetzungen für eine Aufhebung ohne Entscheidung zur Sache nach dieser Vorschrift vorliegen, ist eine im Revisionsverfahren nachprüfbare Rechtsentscheidung (BFH-Urteil vom 22. Juli 1987 I R 226/83, nicht veröffentlicht - NV -).
a) Die ersatzlose Aufhebung der angefochtenen Entscheidung setzt voraus, daß das Gericht wesentliche Fehler des Verwaltungsverfahrens feststellt. Grundsätzlich kann auch die Verletzung der Pflicht zur Sachaufklärung durch das FA (§ 88 AO 1977) einen solchen Verfahrensmangel darstellen (Urteil in BFHE 130, 7, BStBl II 1980, 330, 331, und BFH-Urteil vom 22. Juli 1987 I R 226/83, NV). Ob dem FA ein Verfahrensmangel unterlaufen ist, ist nach der materiellen Rechtsauffassung zu beurteilen, die das FA seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat (BFH-Urteile vom 29. Mai 1984 VIII R 177/78, BFHE 141, 272, 276, BStBl II 1984, 661, 663; vom 12. Juni 1986 VII R 135/80, BFH/NV 1988, 76, 79, und vom 22. Juli 1987 I R 226/83, NV). Das FG ist jedoch nicht verpflichtet, den durch § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO möglichen Weg zu gehen, sondern kann auch selbst in der Sache entscheiden (BFH-Urteil vom 8. Dezember 1976 I R 240/74, BFHE 121, 142, BStBl II 1977, 321, 324, unter III. 2.). Es übt das ihm eingeräumte Ermessen indes nicht sachgerecht aus, wenn es - entgegen seiner eigenen Verpflichtung zur Sachaufklärung (§ 76 FGO) - von eigenen Ermittlungen absieht, obwohl das FA bereits Ermittlungen zu der strittigen Besteuerungsgrundlage angestellt hat (vgl. BFH-Urteil vom 22. September 1983 IV R 109/83, BFHE 140, 132, 136, BStBl II 1984, 342, 344). Für den Fall, daß sich dem FA nach dem Stand des Verfahrens mangels entsprechenden Vortrags des Steuerpflichtigen Zweifel nicht aufdrängen mußten (vgl. z. B. Beschluß des erkennenden Senats vom 25. November 1986 IV S 9/86, BFH/NV 1987, 187, 188), kann nichts anderes gelten.
b) Im Streitfall hatte das FA bei Zugrundelegung seiner Rechtsauffassung keinen Anlaß zur weiteren Sachverhaltsaufklärung. Der Kläger hatte seinen Einspruch nur damit begründet, Hinterziehungszinsen fielen nur bei hinterzogenen Steuern an, das FA spreche selbst nur von verkürzten Steuern; er aber sei vom zuständigen Amtsgericht sogar freigesprochen worden. Diese Begründung hat das FA im wesentlichen mit folgender Begründung zurückgewiesen: Der Kläger habe den Tatbestand der Steuerhinterziehung i. S. von § 370 AO 1977 erfüllt. Entgegen seinem Vorbringen im Einspruchsverfahren sei er vom Amtsgericht in der Hauptverhandlung vom 26. September 1979 nicht freigesprochen worden; vielmehr sei das Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung gemäß § 154 StPO eingestellt worden, weil die zu erwartende Strafe im Vergleich zu den bereits verhängten Strafen nicht ins Gewicht falle. Die Einstellung des Strafverfahrens nach § 154 StPO setze jedoch voraus, daß der Kläger den objektiven und subjektiven Tatbestand des § 370 AO 1977 erfüllt und somit Steuern hinterzogen habe.
Das FA ist damit - unter Berücksichtigung des bekannten und nicht streitigen objektiven Tathergangs - auf alle rechtlichen Argumente eingegangen, die der Kläger zur Begründung seines Einspruchs vorgebracht hatte. Zusätzlich hat es darauf abgestellt, daß trotz seines Schreibens vom 25. April 1980, in dem es dem Kläger seine Auffassung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht dargelegt hat und die begehrte Aussetzung der Vollziehung abgelehnt hatte, der Kläger sich nicht mehr geäußert habe. Bereits in diesem Schreiben hatte das FA ausgeführt, die Festsetzung der Hinterziehungszinsen sei zu Recht erfolgt, weil der Kläger Steuern hinterzogen, d. h. vorsätzlich verkürzt habe. Die Höhe der hinterzogenen Steuern und der festgesetzten Zinsen hatte der Kläger nicht angegriffen.
Das FA hat sich auch nicht damit begnügt, lediglich zu behaupten, der Kläger habe den Tatbestand der Steuerhinterziehung i. S. von § 370 AO 1977 objektiv und subjektiv erfüllt. Hinzu kommt, daß das FA in Erfüllung seiner Aufklärungspflicht zur Ermittlung des Tatbestands, insbesondere der Frage, ob der Kläger den objektiven und subjektiven Tatbestand des § 370 AO 1977 erfüllt habe oder vom Amtsgericht freigesprochen worden sei, im Wege der Amtshilfe (§§ 111, 112 Abs. 1 Nrn. 3 und 4 AO 1977) eine entsprechende Auskunft (§ 92 Nr. 1 AO 1977) der Straf- und Bußgeldsachenstelle eingeholt und damit selbst Ermittlungen vorgenommen hat (vgl. Urteil in BFHE 140, 132, 136, BStBl II 1984, 342, 344). Die Straf- und Bußgeldsachenstelle hatte ihrer Stellungnahme zudem eine Kopie der Mitteilung der Staatsanwaltschaft . . . vom 4. Oktober 1979 beigefügt, nach der das Strafverfahren gegen den Kläger wegen Steuerhinterziehung gemäß § 154 StPO eingestellt worden war. Sie hatte dem FA auch bestätigt, daß § 154 StPO voraussetzt, daß der Beschuldigte eine Straftat begangen hat, d. h., daß hier der Kläger Steuern vorsätzlich verkürzt habe und nur im Hinblick auf die Vorstrafen des Klägers von der Straffestsetzung abgesehen worden sei.
Dieses Ergebnis seiner Ermittlungen hatte das FA auch dem Kläger mitgeteilt.
Es ist auch nicht zu beanstanden, daß das FA zu der Auffassung gelangt, die Einstellung des Strafverfahrens setze die Erfüllung des objektiven und subjektiven Tatbestands der Straftat voraus. Gemäß § 154 Abs. 2 StPO kann das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren jederzeit vorläufig einstellen, wenn z. B. die Strafe, zu der die Strafverfolgung führen kann, neben einer gegen den Beschuldigten wegen einer anderen Tat bereits rechtskräftig verhängten Strafe nicht beträchtlich ins Gewicht fällt (§ 154 Abs. 1 Nr. 1 StPO). Das ist ferner möglich, wenn ein Urteil in angemessener Frist nicht zu erwarten ist und die bereits rechtskräftig verhängte Strafe zur Einwirkung auf den Täter und zur Verteidigung der Rechtsordnung ausreichend erscheint (§ 154 Abs. 1 Nr. 2 StPO). Die Einstellung des Verfahrens (§ 154 StPO) wegen einer Tat will eine Verfahrensbeschleunigung durch eine sinnvolle Konzentration auf das Wesentliche erreichen, wenn die Strafsanktion wegen einer anderen Tat zur Erreichung der Strafzwecke ausreicht (Loewe / Rosenberg / Rieß, Strafprozeßordnung, Großkommentar, 24. Aufl., § 154 Rdnr. 2).
Die Vorschrift des § 154 StPO ist aber nicht dazu bestimmt, bei freispruchsreifen Tatvorwürfen einen Freispruch zu vermeiden (Loewe / Rosenberg / Rieß, a.a.O., Rdnr. 5). Wird die gesetzliche Unschuldsvermutung nicht widerlegt, so ist der Angeklagte freizusprechen (§ 367 Abs. 5 StPO) oder die Staatsanwaltschaft muß bereits vorher das Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten einstellen (§ 170 Abs. 2 StPO).
Daran gemessen konnte das FA zu der Auffassung gelangen, daß der Kläger vorliegend den Tatbestand der Steuerhinterziehung i. S. von § 370 AO 1977 in objektiver und subjektiver Hinsicht erfüllt hatte. Da der Kläger trotz des entsprechenden Hinweises im Schreiben des FA vom 25. April 1980, er sei entgegen seiner Behauptung vom Amtsgericht nicht freigesprochen worden, sondern er habe den Tatbestand der Steuerhinterziehung erfüllt, zum Sachverhalt nichts weiter vorgetragen hatte, hatte das FA keinen Anlaß, an der Richtigkeit des Vorwurfs der Steuerhinterziehung zu zweifeln (vgl. BFH-Urteile vom 10. Oktober 1972 VII R 117/69, BFHE 107, 168, BStBl II 1973, 68, und vom 7. November 1973 I R 92/72, BFHE 111, 7, BStBl II 1974, 125). Insoweit konnte sich das FA die Feststellungen der Staatsanwaltschaft, die zur Anklageerhebung geführt hatten, sowie die Tatsache zu eigen machen, daß der Kläger nicht freigesprochen worden war.
Unter diesen Umständen kommt es nicht mehr darauf an, ob die Beträge, die das FA als hinterzogen angesehen hat, in der angegebenen Höhe zutreffen. Das FA hatte nach dem Stand des Rechtsbehelfsverfahrens keinen Anlaß, dieser Frage nachzugehen.
3. Das FG wird nunmehr unter Wahrnehmung seiner eigenen Sachaufklärungspflicht die getroffenen Feststellungen zum objektiven und subjektiven Tatbestand der Steuerhinterziehung zu würdigen haben und im Falle einer Bejahung der Steuerhinterziehung die festgesetzten Steuerhinterziehungszinsen der Höhe nach überprüfen müssen.
Fundstellen
Haufe-Index 416008 |
BFH/NV 1990, 10 |