Leitsatz (amtlich)
1. Die Fortschreibung wegen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse und die Fortschreibung zur Beseitigung eines Fehlers stehen, soweit es um den Fortschreibungszeitpunkt geht, selbständig nebeneinander. Deshalb dürfen Fehler der vorangegangenen Feststellung, deren Beseitigung zu einer Erhöhung des Einheitswerts führen würde, anläßlich einer Fortschreibung wegen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse nur unter den Voraussetzungen des § 22 Abs. 4 Nr. 2 - 2. Alternative - BewG berücksichtigt werden.
2. Ein Fortschreibungsbescheid ist erst mit dessen Bekanntgabe und nicht bereits mit dessen abschließender Zeichnung "erteilt" i. S. von § 22 Abs. 4 Nr. 2 - 2. Alternative - BewG.
Normenkette
BewG 1974 § 22 Abs. 4
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) hat im Jahre 1968 zusammen mit ihrem zwischenzeitlich verstorbenen Ehemann ein bebautes Grundstück mit einer Fläche von insgesamt 1619 qm erworben. Dieses Grundstück hatte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) bei der Hauptfeststellung zum 1. Januar 1964 als Einfamilienhaus bewertet und den im Ertragswertverfahren ermittelten Einheitswert auf 27 700 DM festgestellt. Wegen baulicher Erweiterungen und wegen Änderung in der Zurechnung des Grundstücks führte das FA zum 1. Januar 1974 - dem hier streitigen Stichtag - eine Wert- und Zurechnungsfortschreibung durch. Anläßlich der Wertfortschreibung wegen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, die für sich allein zu einer Erhöhung des Einheitswerts auf 34 900 DM geführt hätte, wendete das FA die Vorschrift über die Mindestbewertung an, deren Berücksichtigung bei der Hauptfeststellung (1. Januar 1964) übersehen worden war. Auf der Grundlage eines der Kaufpreissammlung entnommenen Werts von 60 DM je Quadratmeter ermittelte das FA einen Bodenwert von 89 520 DM (1 492 qm x 60 DM) und stellte den Einheitswert auf 44 700 DM fest. Der zuständige Bearbeiter der Bewertungsstelle hat den Eingabewertbogen am 26. Juli 1974 abgezeichnet. Der Bescheid wurde am 17. März 1975 zur Post gegeben.
Der Einspruch, mit dem die Klägerin den Ansatz eines niedrigeren Bodenwerts begehrte, führte zu einer Verböserung. Das FA legte der Wertermittlung nunmehr die zutreffende Fläche von 1 619 qm zugrunde und erhöhte den Einheitswert auf 48 500 DM (Bodenwert: 1 619 qm x 60 DM).
Die Klage hiergegen hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) ließ offen, ob der Bodenwert in zutreffender Höhe ermittelt sei. Es vertrat die Auffassung, daß das FA die bei der Hauptfeststellung zum 1. Januar 1964 versäumte Anwendung des § 77 des Bewertungsgesetzes (BewG) bei der Fortschreibung des Einheitswerts zum 1. Januar 1974 nicht habe nachholen dürfen. Soweit eine den Einheitswert erhöhende Fortschreibung auf der Beseitigung eines Fehlers der letzten Feststellung beruhe, sei Fortschreibungszeitpunkt frühestens der Beginn des Kalenderjahres, in dem der Feststellungsbescheid erteilt werde (§ 22 Abs. 4 Nr. 2 - 2. Alternative - BewG i. d. F. von Art. 2 Nr. 8 des Vermögensteuerreformgesetzes vom 17. April 1974 - im folgenden: BewG -, BGBl I 1974, 949, BStBl I 1974, 233). Der hier streitbefangene Bescheid sei in 1975 erteilt, so daß eine Fortschreibung zur Fehlerbeseitigung frühestens auf den 1. Januar 1975 hätte durchgeführt werden dürfen. Dem stehe nicht entgegen, daß das FA den zum 1. Januar 1964 festgestellten Einheitswert wegen einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse zum 1. Januar 1974 fortgeschrieben habe.
Das FA rügt mit der vom Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision einen Verstoß der Vorentscheidung gegen § 22 Abs. 4 BewG. Lägen die Voraussetzungen für eine Wertfortschreibung wegen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse vor, dürfe bei der Neufeststellung des Einheitswerts ein anläßlich der vorausgegangenen Feststellung unterlaufener Fehler beseitigt werden. Die zeitliche Schranke des § 22 Abs. 4 Nr. 2 - 2. Alternative - BewG greife hier nicht ein, da es sich begrifflich nicht um eine Wertfortschreibung zur Fehlerbeseitigung handle. In Fällen der hier vorliegenden Art verdiene der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung den Vorzug vor dem Interesse des Steuerpflichtigen an der Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustands. Ein Steuerpflichtiger dürfe zwar darauf vertrauen, daß ein Einheitswertbescheid, der für einen abgeschlossenen Sachverhalt ergangen sei, für die Vergangenheit Bestand habe. Träten jedoch tatsächliche Änderungen ein, die für sich allein bereits eine Wertfortschreibung rechtfertigten, liege ein schutzwürdiger Anspruch des Steuerpflichtigen auf Wiederholung eines Fehlers, der dem FA bei der vorangegangenen Feststellung unterlaufen sei, nicht vor.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Streitsache an das FG zurückzuverweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
1. Nach § 22 Abs. 4 Satz 3 BewG hängt der Fortschreibungszeitpunkt von dem Grund der Fortschreibung ab. Bei einer Fortschreibung wegen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse ist Fortschreibungszeitpunkt der Beginn des Kalenderjahres, das auf die Änderung folgt (§ 22 Abs. 4 Nr. 1 BewG). Liegt der Grund zur Fortschreibung nicht in einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, sondern in einem Fehler bei der vorangegangenen Feststellung (§ 22 Abs. 3 Satz 1 BewG), so ist Fortschreibungszeitpunkt grundsätzlich der Beginn des Kalenderjahres, in dem der Fehler dem FA bekannt wird (§ 22 Abs. 4 Nr. 2 BewG). Diese Regelung beruht auf der Erwägung, daß auf einem fehlerhaften Grundlagenbescheid beruhende unrichtige Steuerfestsetzungen grundsätzlich nur für die Zukunft ausgeschaltet werden sollen, soweit nicht die Voraussetzungen einer rückwirkenden Änderung nach den Vorschriften der Abgabenordnung - AO 1977 - (§§ 179, 172 f.) gegeben sind (vgl. Ritzer, Deutsches Steuerrecht 1980 S. 12 f., 16 - DStR 1980, 12. f., 16 -; Gürsching/Stenger, Kommentar zum Bewertungsgesetz und Vermögensteuergesetz, 7. Aufl., § 22 BewG Anm. 72). Eine besondere Regelung gilt für die Fälle der fehlerbeseitigenden Fortschreibung, wenn sich der Einheitswert erhöht. Hier ist Fortschreibungszeitpunkt "frühestens der Beginn des Kalenderjahres, in dem der Feststellungsbescheid erteilt wird" (§ 22 Abs. 4 Nr. 2 - 2. Alternative - BewG). Diese weitgehende zeitliche Begrenzung der fehlerbeseitigenden Fortschreibung nur in den Fällen einer Erhöhung des Einheitswerts beruht auf dem Schutzgedanken des Gesetzes: Der Steuerpflichtige soll davor geschützt werden, daß fehlerbeseitigende Fortschreibungsbescheide, die zu einer Erhöhung des Einheitswerts führen, auf einen zurückliegenden Feststellungszeitpunkt erlassen werden (Gürsching/Stenger, a. a. O., Anm. 72 a). Dieser Schutzzweck der Vorschrift wird indes nur dann in vollem Umfang verwirklicht, wenn in allen Fällen der Beseitigung von Fehlern mit der Folge einer Erhöhung des Einheitswerts - also auch bei Fortschreibungen aus unterschiedlichen Gründen - der besondere Stichtag des § 22 Abs. 4 Nr. 2 - 2. Alternative - BewG eingehalten wird (vgl. Ritzer, a. a. O.). Hieraus ergibt sich, daß die Fortschreibung wegen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse und die Fortschreibung zur Beseitigung eines Fehlers, soweit es um den Fortschreibungszeitpunkt geht, selbständig nebeneinander stehen. Die Rechtsprechung des Senats zu § 22 BewG 1934 (Urteil vom 20. Juli 1962 III 237/60 S, BFHE 75, 721, 732, BStBl III 1962, 530), wonach etwaige Bewertungsfehler bei einer Fortschreibung aus anderem Anlaß uneingeschränkt beseitigt werden dürfen, ist infolge Änderung der Vorschriften über den Fortschreibungszeitpunkt überholt.
Der Senat folgt nicht der gegenteiligen Auffassung der Finanzverwaltung. Danach sollen Fortschreibungen, die wegen einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse und zugleich zur Beseitigung eines Fehlers bei der letzten Feststellung geboten sind, auf denselben Zeitpunkt, und zwar auf den Beginn des Kalenderjahres durchzuführen sein, das auf die Änderung der tatsächlichen Verhältnisse folgt. Die Ausnahmevorschrift des § 22 Abs. 4 Nr. 2 BewG soll nicht eingreifen (vgl. z. B. den Erlaß des Finanzministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 11. September 1979 S 3106-52-V A4, Betriebs-Berater 1979 S. 1442 - BB 1979, 1442 -; zustimmend Steinhardt, Kommentar zum Bewertungsgesetz und Vermögensteuergesetz, § 22 BewG Anm. 20 und 21). Eine solche Auslegung ist mit dem durch den Wortlaut des § 22 Abs. 4 Nr. 2 - 2. Alternative - BewG zum Ausdruck gebrachten besonderen Schutzzweck dieser Vorschrift nicht vereinbar. Dabei verkennt der Senat nicht, daß im Falle laufend veranlagter Steuern bei Steuerbescheiden für spätere Veranlagungszeiträume ein schutzwürdiger Anspruch des Steuerpflichtigen auf Wiederholung eines Fehlers von der Rechtsprechung selbst dann verneint wird, wenn diese Veranlagungszeiträume im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung bereits längere Zeit zurückliegen (z. B. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - 7. Februar 1969 VI R 174/67, BFHE 95, 41, BStBl II 1969, 314). Im Gegensatz zu dieser Rechtsprechung, die sich auf die allgemeinen Grundsätze von Treu und Glauben stützt, enthält § 22 Abs. 4 Nr. 2 - 2. Alternative - BewG für den Fortschreibungszeitpunkt einer fehlerbeseitigenden Fortschreibung, die zu einer Erhöhung des Einheitswerts führt, eine Sonderregelung. Danach kann die zeitliche Bindung an einen fehlerhaften Feststellungsbescheid ausnahmsweise auch nach dessen Fortschreibung, d. h. in einem neuen Feststellungsbescheid fortwirken. Das Gesetz enthält keinen Hinweis darauf, daß Bewertungsfehler der vorangegangenen Feststellung - abweichend vom Wortlaut des § 22 Abs. 4 Nr. 2 - 2. Alternative - BewG - anläßlich einer Fortschreibung wegen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse bereits zu einem früheren Zeitpunkt auch dann beseitigt werden dürfen, wenn dies zu einer Erhöhung des Einheitswerts führen würde. Dies hätte zur Folge, daß der durch die Regelung des § 22 Abs. 4 Nr. 2 - 2. Alternative - BewG bezweckte Schutz des Steuerpflichtigen vor den Einheitswert erhöhenden fehlerbeseitigenden Fortschreibungen auf einen zurückliegenden Stichtag unterlaufen würde. Nach Auffassung des erkennenden Senats gilt daher die zeitliche Sperre des § 22 Abs. 4 Nr. 2 - 2. Alternative - BewG für fehlerbeseitigende Fortschreibungen auch dann, wenn diese mit einer Fortschreibung wegen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse verbunden werden sollen.
2. Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall waren am 1. Januar 1974 die Voraussetzungen nur für eine Fortschreibung des Einheitswerts wegen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse gegeben. Deren Berücksichtigung führte nach den insoweit nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des FG zu einer Erhöhung des Einheitswerts von 27 700 DM auf 34 900 DM. Einer weiteren Erhöhung des Einheitswerts durch Anwendung der zum 1. Januar 1964 versehentlich außer acht gelassenen Vorschrift über die Mindestbewertung (§ 77 BewG) bereits zum 1. Januar 1974 stand die zeitliche Sperre des § 22 Abs. 4 Nr. 2 - 2. Alternative - BewG entgegen. Denn der Feststellungsbescheid über die Fortschreibung zum 1. Januar 1974 wurde erst in 1975 "erteilt". Dem Wortlaut "erteilen" ist zwar nicht zweifelsfrei zu entnehmen, auf welchen Zeitpunkt in der Entstehung und dem Wirksamwerden des Steuerbescheids es hier ankommen soll. In Übereinstimmung mit dem FG versteht der erkennende Senat unter "erteilen eines Feststellungsbescheids" dessen Bekanntgabe an den Steuerpflichtigen und nicht bereits die abschließende Zeichnung des Bescheids. Für diese Auffassung spricht insbesondere der besondere Vertrauensschutz, den § 22 Abs. 4 Nr. 2 - 2. Alternative - BewG gewährt. Wollte man demgegenüber auf den Zeitpunkt der abschließenden Zeichnung durch den Sachbearbeiter des FA abstellen, würde dem Schutzzweck des Gesetzes in nicht ausreichender Weise Rechnung getragen (Gürsching/Stenger, a. a. O., Anm. 72 a). Diese Auffassung findet ihre Bestätigung auch darin, daß als Steuerbescheid nunmehr nach § 155 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 der nach § 122 Abs. 1 AO 1977 bekanntgegebene Verwaltungsakt gilt und § 22 Abs. 4 BewG - wie sich aus dem Bericht des Finanzausschusses des Deutschen Bundestags ergibt (vgl. Drucksache 7/1389 S. 6) - auch im Vorgriff auf die Abgabenordnung geändert wurde.
Fundstellen
Haufe-Index 74102 |
BStBl II 1982, 15 |
BFHE 1981, 184 |