Leitsatz (amtlich)
Zur Haftung des Abwicklers einer GmbH für Steuerschulden der Gesellschaft.
Normenkette
AO §§ 103, 106, 109; GmbHG § 73
Tatbestand
Der Revisionskläger (Haftungsschuldner) war Gesellschafter und Geschäftsführer der Firma H ... GmbH.
Diese erhob, nachdem sie mit einer Anfechtungsklage gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen einer durch Zoll- und Transportauflagen entwerteten Genehmigung eines Einfuhr- und Ausfuhrgeschäfts obgesiegt hatte (Urteil des BVerwG vom 8. März 1956), am 22. Oktober 1956 beim Landgericht (LG) Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland auf Zahlung von 3707 447,51 DM nebst 4 v. H. Zinsen daraus seit 1. Oktober 1953. Nachdem das LG die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt hatte, verglichen sich die Parteien des damaligen Rechtsstreits am 26. Februar 1960 vor dem OLG dahin, daß die Bundesrepublik Deutschland den Betrag von 1 850 000 DM an den Haftungsschuldner und an eine Berliner Firma zu zahlen hatte.
Die Zahlung war an den Haftungsschuldner und nicht an die GmbH zu leisten, weil diese den Anspruch gegen die Bundesrepublik Deutschland vorher an den Haftungsschuldner abgetreten hatte. Das geschah in folgendem Zusammenhang: Am 28. Juli 1955 trat die Ehefrau des Haftungsschuldners ihre Anteile an der GmbH an den Haftungsschuldner ab. Dieser wurde dadurch alleiniger Gesellschafter. Er beschloß die Auflösung der GmbH und bestellte sich zum Abwickler.
Am 20. November 1956 gab der Haftungsschuldner die Anweisung, in den Büchern der GmbH die Forderung an die Bundesrepublik Deutschland wegen der im Zuge der Liquidation vorgenommenen Ausschüttung an ihn mit dem Wert 0 auf sein Konto umzubuchen.
Dem Haftungsschuldner flossen aus dem Vergleich vor dem OLG rd. 775 000 DM zu.
Die GmbH führte über die Besteuerung ihres Abwicklungsgewinns einen Rechtsstreit, der durch Urteil des BFH I 246/62 U vom 14. Dezember 1965 (BFH 84, 420, BStBl III 1966, 152) entschieden wurde.
In diesem Urteil wird ausgeführt, daß der Schadenersatzanspruch der GmbH gegen die Bundesrepublik Deutschland, der nicht schon mit der Auflösung der GmbH am 28. Juli 1955, sondern erst mit der Buchung am 20. November 1956 im Wege der Verteilung des Vermögens auf den Gesellschafter übergegangen sei, mit dem vom FG festgestellten Betrag dem Abwicklungsendvermögen der GmbH hinzuzurechnen sei. Daraus ergab sich für die GmbH eine Körperschaftsteuer- und NOB-Schuld, die sie nicht bezahlte. Der Abwickler beantragte vielmehr die Eröffnung des Konkurses. Dieser Antrag wurde am 5. April 1966 mangels Masse abgelehnt.
Der Revisionsbeklagte (FA) erließ am 21. März 1966, gestützt auf § 109 AO, einen Haftungsbescheid gegen den Haftungsschuldner wegen 275 406 DM Körperschaftsteuer und 24 498 DM Abgabe NOB, weil der Haftungsschuldner im Jahr 1956 als Abwickler der GmbH das Vermögen der Gesellschaft auf sich übertragen habe, ohne mit der für einen Abwickler gebotenen Sorgfalt sicherzustellen, daß die GmbH ihre steuerlichen Verpflichtungen erfüllte.
Am 19. Juli 1966 erließ das FA einen weiteren, ebenfalls auf § 109 AO gestützten Haftungsbescheid gegen den Haftungsschuldner wegen folgender rückständiger Gewerbesteuerbeträge:
DM DM
1955 15 638,75 1958 13 904,50
1956 14014,50 1959 13 904,50
1957 13904,50 1960 5763,50
Gegen den Haftungsbescheid vom 21. März 1966 legte der Haftungsschuldner erfolglos Einspruch ein und erhob dann Klage. Gegen den Haftungsbescheid vom 19. Juli 1966 erhob der Haftungsschuldner Sprungklage.
Das FG hat beide Klagen zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und den Haftungsbescheid vom 19. Juli 1966 dahin geändert, daß der Haftungsschuldner nur für 5 763,50 DM rückständiger Gewerbesteuer 1960 der GmbH haftet. Im übrigen hat das FG die Klagen abgewiesen.
Zur Begründung hat das FG, dessen Entscheidung in EFG 1968, 315, 326 veröffentlicht ist, ausgeführt, der Haftungsschuldner hafte für die rückständige Körperschaftsteuer 1955 bis 1957 einschließlich der rückständigen Abgabe NOB für diese Jahre und für die rückständige Gewerbesteuer 1960 der GmbH. Dagegen entfalle eine Haftung für die rückständige Gewerbesteuer 1955 bis 1959, da diese Steueransprüche im Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheids vom 19. Juli 1966 bereits verjährt gewesen seien.
Gegen dieses Urteil haben der Haftungsschuldner und das FA Revision eingelegt. Das FA hat seine Revision in der mündlichen Verhandlung vom 16. Juni 1971 zurückgenommen (§ 125 FGO).
Der Haftungsschuldner rügt Verletzung materiellen Bundesrechts und einen Verfahrensmangel.
Er hält an seiner Behauptung fest, durch den Vertrag vom 28. Juli 1955 sei der Schadenersatzanspruch der GmbH an ihn abgetreten worden. Außerdem komme es für die Frage des Verschuldens darauf an, von welchen Vorstellungen er subjektiv ausgegangen sei. In seiner Vorstellung sei jedenfalls der maßgebliche Stichtag für die Übertragung der Forderung der 28. Juli 1955 gewesen.
Vorsorglich - für den Fall, daß die Forderung nach dem Beschluß über die Auflösung der GmbH abgetreten worden sei - führt der Haftungsschuldner aus: Das FG habe zu Unrecht angenommen, er habe gegen § 73 Abs. 1 GmbHG verstoßen. Eine Verteilung von Vermögen setze begrifflich voraus, daß es sich objektiv um Vermögen handele, das einer Verteilung fähig sei und daß die Verteilung subjektiv erfolge, um dieses Vermögen von der GmbH auf den Gesellschafter zu übertragen. An diesen Voraussetzungen fehle es. Zum Betriebsvermögen der GmbH habe im Zeitpunkt der Auflösung der Gesellschaft ein schwebendes Geschäft gehört, das wegen der streitigen Auflagen nicht habe durchgeführt werden können. Man habe zwar damit rechnen können, daß sich im Fall der endgültigen Nichtdurchführbarkeit des Geschäfts nach einem günstigen Urteil des BVerwG ein Schadenersatzanspruch gegen die Bundesrepublik Deutschland ergeben werde. Ende Juli 1955 sei aber in keiner Weise zu übersehen gewesen, ob das BVerwG der Klage stattgeben werde und ob ein daraufhin geltend gemachter, auf Amtspflichtverletzung gestützter Schadenersatzanspruch realisiert werden könne.
Vor allem aber habe das FG die fahrlässige Verletzung der Sicherstellungspflicht nach § 73 GmbHG und § 103 AO genügen lassen, um ein wesentliches Verschulden (grobes Verschulden, schwerwiegendes Verschulden) anzunehmen, wie es für eine Haftung nach § 109 AO erforderlich sei. Er habe nicht die Möglichkeit gesehen, daß noch Steuerschulden der GmbH hinsichtlich der Schadenersatzforderung entstehen könnten. Nach dem Steuerrechtsgutachten, das er sich habe erstatten lassen und an dessen Richtigkeit zu zweifeln er keinen Anlaß gehabt habe, sei davon auszugehen gewesen, daß nur Einkommensteuer in seiner Person entstehen werde. Das FG habe schließlich bei der Prüfung des Verschuldens die Beweggründe für die Übertragung des Schadenersatzanspruchs unzureichend gewürdigt.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht rügt der Haftungsschuldner, das FG habe in der mündlichen Verhandlung die die Entscheidung tragenden Gesichtspunkte nicht zur Sprache gebracht.
Vorsorglich macht der Haftungsschuldner geltend, auch der Gewerbesteueranspruch 1960 sei verjährt gewesen.
Der Haftungsschuldner beantragt, das Urteil des FG und die Haftungsbescheide aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision ist unbegründet.
Der Haftungsschuldner hat seine Pflicht verletzt, Vermögen der GmbH nicht vor Ablauf des Sperrjahres (wenn die Abtretung der Schadenersatzforderung bereits im August 1955 erfolgte) oder nicht vor Sicherstellung der Steuerschulden der GmbH (wenn die Abtretung im November 1956 erfolgte) zu verteilen (§ 73 GmbHG, §§ 103, 106, 109 AO). Er haftet daher neben der GmbH für deren Körperschaftsteuer 1955 bis 1957 und für deren Gewerbesteuer 1960.
1. Nach den tatsächlichen Feststellungen des FG hat die GmbH den Schadenersatzanspruch gegen die Bundesrepublik Deutschland nicht am 28. Juli 1955, sondern erst im August 1955 oder im November 1956 an den Haftungsschuldner abgetreten. Daran ist der Senat gebunden, da der Haftungsschuldner gegen diese Feststellung keine begründeten Revisionsrügen erhoben hat (§ 118 Abs. 2 FGO). Die einzige Verfahrensrüge, die der Haftungsschuldner in der Revisionsbegründung "vorsorglich" erhoben hat, geht dahin, daß es das FG unterlassen habe, die die Entscheidung tragenden Gesichtspunkte in der mündlichen Verhandlung zur Sprache zu bringen. Diese Rüge ist unbegründet. Denn das Gericht ist nicht verpflichtet, alle Erwägungen, auf die es voraussichtlich seine Entscheidung stützen will, in der mündlichen Verhandlung anzugeben. Denn das liefe letztlich darauf hinaus, daß das Gericht seine Beweiswürdigung vorweg andeutet. Dazu ist es - auch unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs - nicht verpflichtet (BFH-Urteil I R 47/66 vom 10. Januar 1968, BFH 91, 338, BStBl II 1968, 349). Daß die Feststellungen des FG auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt seien, zu denen sich der Steuerpflichtige nicht habe äußern können (§ 96 Abs. 2 FGO), hat der Haftungsschuldner nicht, jedenfalls nicht in der vorgeschriebenen Form gerügt. Denn er hätte die Tatsachen, zu denen er sich nicht habe äußern können, im einzelnen bezeichnen müssen (§ 120 Abs. 2 FGO).
2. Zu Unrecht bestreitet der Haftungsschuldner, durch die Abtretung der Schadenersatzforderung der GmbH gegen die Bundesrepublik Deutschland sei Vermögen verteilt worden. In der Aktennotiz vom August 1955 bekennt der Haftungsschuldner selbst: "Die ... GmbH ... hat gegen die Bundesrepublik Deutschland einen Anspruch wegen eines nicht zur Durchführung gelangten ...-Geschäfts." Es kann auf sich beruhen, wann dieser Anspruch bürgerlich-rechtlich voll wirksam entstand. Denn er gehörte, gleich wann er entstand, zu dem Vermögen der GmbH, das nach § 73 Abs. 1 GmbHG nicht vor Tilgung oder Sicherstellung der Schulden der Gesellschaft und nicht vor Ablauf des Sperrjahres verteilt werden durfte. Außerdem stellte bereits die Aussicht auf den Schadenersatzanspruch einen gegenwärtigen Bestandteil des Vermögens der GmbH dar.
3. Durch die Abtretung des Anspruchs wurde Vermögen der GmbH, wenn die Abtretung im August 1955 erfolgte, vor Ablauf des Sperrjahres und, wenn sie im November 1956 erfolgte, vor Sicherstellung der Steuerschulden der GmbH verteilt (§ 73 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 GmbHG, §§ 103, 106, 109 AO). Das bedarf für den Fall der Abtretung im August 1955 keiner besonderen Begründung. Die Auflösung der GmbH wurde im Juli 1955 beschlossen, das Sperrjahr lief daher frühestens im Juli 1956 ab. Im Fall der Abtretung im November 1956 ist zwar zu berücksichtigen, daß die Steuerschulden, für die der Haftungsschuldner nach den angefochtenen Bescheiden, soweit sie das FG bestätigt hat, haften soll, rechtlich erst mit dem Ablauf des Jahres 1957 - soweit es sich um die Körperschaftsteuer 1955 bis 1957 handelte - und mit dem Ablauf des Jahres 1960 - soweit es sich um die Gewerbesteuer 1960 handelte - entstanden (§ 3 Abs. 5 Nr. 1 c, Nr. 3b StAnpG). Der Senat neigt aber zu der Auffassung, daß nach § 73 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 GmbHG, wenn man Sinn und Zweck dieser Vorschriften beachtet, auch für solche Gläubiger Sicherheit zu leisten ist, deren Ansprüche erst künftig im Zeitraum der Abwicklung entstehen. Er braucht diese Frage indes nicht abschließend zu prüfen. Denn die Pflicht zur Sicherstellung der künftigen, im Zeitraum der Abwicklung entstehenden Steuerschulden der Gesellschaft ergibt sich bereits aus § 106 AO. Nach dieser Vorschrift haben beim Wegfall eines Steuerpflichtigen durch Auflösung die Abwickler dafür zu sorgen, daß Mittel zur Bezahlung der vorher entstandenen Steuerschulden zurückgehalten und diese Steuerschulden bezahlt werden. "Vorher" heißt hier nicht etwa vor der Auflösung der Gesellschaft, sondern vor dem endgültigen Wegfall der Gesellschaft - endgültige Löschung im Handelsregister - (Hachenburg-Schmidt, Kommentar zum Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, 6. Aufl., § 70 Anm. 16; Paulick in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, Anm. 2 zu § 106 AO). Diese Pflicht hat der Haftungsschuldner dadurch verletzt, daß er als Abwickler der GmbH das einzige Vermögensstück der Gesellschaft, das zur Bezahlung der Steuerschulden ausgereicht hätte, an sich abgetreten hat.
4. Der Haftungsschuldner hat auch schuldhaft im Sinne des § 109 AO gehandelt. Er wußte im August 1955 wie auch im November 1956, daß der GmbH möglicherweise ein Schadenersatzanspruch zustehe. Er hätte ferner bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns wissen müssen, daß dieser Schadenersatzanspruch je nach seiner Höhe zur Entstehung weiterer Steuerschulden der GmbH führen könne. Zutreffend hat das FG festgestellt, daß der Haftungsschuldner trotz des Steuerrechtsgutachtens vom 12. November 1956 allen Anlaß hatte, daran zu zweifeln, ob die damalige Bewertung der Schadenersatzforderung der GmbH richtig war. Ein Abwickler, der unter diesen Umständen Vermögen der Gesellschaft verteilt, verkürzt damit schuldhaft, und zwar vorsätzlich oder jedenfalls grob fahrlässig im Sinn der bisherigen Rechtsprechung (BFH-Urteil III 267/57 U vom 11. Juli 1958, BFH 67, 245, BStBl III 1958, 367), Steueransprüche (§ 109 Abs. 1 AO). Dabei kann nicht außer Betracht bleiben, daß ein Abwickler, der zugleich alleiniger Gesellschafter ist, die Trennungslinie zwischen dem Vermögen der Gesellschaft und seinem eigenen Vermögen zu beachten und mit besonderer Sorgfalt zu prüfen hat, ob Vermögensverlagerungen von der Gesellschaft auf ihn rechtlich zulässig sind.
Die Behauptung des Haftungsschuldners, nach seiner Vorstellung sei der Schadenersatzanspruch bereits am 28. Juli 1955 an ihn abgetreten worden, vermag ihn nicht zu entschuldigen. Denn für seine Annahme einer rechtswirksamen Abtretung am 28. Juli 1955 fehlen nach den tatsächlichen Feststellungen des FG jegliche Anhaltspunkte. Die tatsächlichen Umstände, vor allem auch die vorliegenden Schriftstücke, deuten darauf hin, daß die Abtretung erst nach Auflösung der GmbH, wahrscheinlich erst im November 1956 erfolgte. Ein Irrtum des Steuerpflichtigen über den Zeitpunkt der Abtretung des Schadenersatzanspruches würde daher selbst auf grober Fahrlässigkeit beruhen.
5. Die Beweggründe für die Übertragung der Schadenersatzforderung, die der Steuerpflichtige in seiner Revision anführt, schließen weder die Rechtswidrigkeit seines Handelns noch seine Schuld aus. Denn der Steuerpflichtige durfte ihnen nicht den Vorrang vor der ihm in erster Linie obliegenden Pflicht einräumen, die Gläubiger zu befriedigen oder sicherzustellen.
6. Zutreffend hat das FG festgestellt, daß der Gewerbesteueranspruch 1960 im Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheids vom 19. Juli 1966 noch nicht verjährt war. Die Verjährung des Gewerbesteueranspruchs 1960 wurde, wie das FG zutreffend festgestellt hat, durch das Schreiben vom 8. Dezember 1965 an den Abwickler der GmbH unterbrochen. Es bestehen keine Anhaltspunkte für die Annahme des Haftungsschuldners, die Aufforderung des FA vom 8. Dezember 1965 habe sich nur auf den Zeitraum der Abwicklung seit Bestellung des neuen Abwicklers bezogen.
Fundstellen
Haufe-Index 69509 |
BStBl II 1971, 614 |
BFHE 1971, 227 |