Leitsatz (amtlich)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist bei eintägiger Verspätung des Klageeingangs zu gewähren, wenn der Kläger den Brief im Laufe des Vortages (mit Poststempel 17 Uhr) am Sitze des FG in den Postbriefkasten einer Großstadt einwarf und die Anschrift umfassend und zutreffend war.

 

Normenkette

FGO §§ 47, 54, 56

 

Tatbestand

Mit der Revision begehrt der Kläger und Revisionskläger (Abgabepflichtiger) die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der rechtzeitigen Klageerhebung.

Das FA (Beklagter und Revisionsbeklagter) hatte durch Bescheid den begehrten Erlaß von Vermögensabgabe abgelehnt. Die Beschwerde des Pflichtigen an die OFD blieb ohne Erfolg. Die Beschwerdeentscheidung wurde dem Pflichtigen am 28. Juli 1969 zugestellt. Die einmonatige Frist für die Klageerhebung gegen die Ablehnung des Erlasses endete am Donnerstag, dem 28. August 1969 (§§ 47, 54 FGO, § 222 Abs. 1 ZPO, § 188 Abs. 2 BGB). Die in München zur Post aufgegebene Klageschrift vom 26. August 1969 ging beim FG am 29. August 1969 ein. Der Briefumschlag trägt den Poststempel "München 27.8.1969-17".

Das FG wies auf die Verspätung hin und stellte anheim, unter Angabe von glaubhaften Gründen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen. Fristgerecht stellte der Pflichtige den Antrag. Er trug zur Begründung vor, er selbst habe den Brief am 26. August 1969 um 19.30 Uhr in München in den Briefkasten eingeworfen, der um 19.45 Uhr geleert werde, so daß er mit dem rechtzeitigen Eingang beim FG am 28. August 1969 bestimmt habe rechnen können.

Das FG lehnte die Wiedereinsetzung ab; es wies die Klage als unzulässig ab. Es hielt auf Grund des Poststempels für erwiesen, daß der Brief erst am 27. August 1969 gegen 17.00 Uhr in den Einlauf des Postamtes gelangt sei. Unter diesen Umständen hätte sich der Pflichtige nicht darauf verlassen dürfen, daß der Brief am folgenden Tag beim FG eingehe. Bei Zuwarten bis kurz vor Fristablauf müßte auf die Wahrung der Frist besondere Sorgfalt, z. B. Übermittlung als Eilbrief oder durch Boten, verwendet werden (Hinweis auf Entscheidung des BFH IV 260/59 U vom 4. August 1960, BFH 71, 475 -, BStBl III 1960, 427). Die Absendung als gewöhnlicher Brief kurz vor Fristablauf sei Verschulden im Sinne des § 56 Abs. 1 FGO, das eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausschließe.

Mit der Revision stellt der Pflichtige den Antrag, das Urteil des FG aufzuheben und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Es liege seinerseits kein Verschulden vor. Es sei ihm unerklärlich, weshalb ein am 26. August 1969 eingeworfener Brief erst am 27. August abgestempelt worden sei. Aber selbst wenn der Poststempel zugrunde gelegt werde, hätte der Brief am gleichen Ort bei ordentlicher Postzustellung am 28. August 1969 zugestellt werden müssen.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision ist zulässig und begründet.

Der Streitwert in der Erlaßsache liegt offensichtlich über 1 000 DM, so daß die Revision nach § 115 Abs. 1 FGO zulässig ist.

Die beantragte Wiedereinsetzung ist zu gewähren, da den Pflichtigen an der eintägigen Verspätung des Eingangs der Klageschrift kein Verschulden trifft (§ 56 Abs. 1 FGO). Der Antrag mit Begründung ist binnen zwei Wochen nach Mitteilung des FG über den verspäteten Eingang der Klage gestellt worden (§ 56 Abs. 2 FGO).

Nicht zu beanstanden ist die Feststellung des FG, daß entsprechend dem Poststempel der Brief am 27. August 1969, und zwar vor 17.00 Uhr, in den Einlauf des Postamts gelangte, wenngleich das Datum des Poststempels nicht zwingend die Behauptung des Pflichtigen, er habe den Brief schon früher in den Postkasten eingeworfen, widerlegt. Der Pflichtige hat jedenfalls keine zur Begründung dieser weitergehenden Behauptung dienenden Tatsachen vorgetragen, wie es erforderlich wäre, wenn gerade auf diesen Umstand der Antrag auf Wiedereinsetzung gestützt würde (vgl. BFH-Entscheidung VI R 326/69 vom 16. Januar 1970, - StRK -, Finanzgerichtsordnung, § 56 Rechtsspruch 139). Die Frage, ob etwa schon am 26. August 1969 der Brief in den Postbriefkasten eingeworfen wurde, kann dahingestellt bleiben. Die Ausnutzung der Frist bis zum letzten Tage ist erlaubt und hindert die Wiedereinsetzung nicht, wenn auch beim Warten bis zum letzten Tage der Pflichtige das erhöhte Risiko des rechtzeitigen Eingangs trägt (BFH-Entscheidung IV 260/59 U vom 4. August 1960, a. a. O., wie auch Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 56 FGO, Anm. 4 in Verbindung mit § 86 der Reichsabgabenordnung - AO - Anm. 21). Er konnte darauf vertrauen, daß der im Laufe des Vortages in München eingeworfene Brief in der Zeit regelmäßigen Postverkehrs am folgenden Wochentage bei dem ebenfalls in München gelegenen FG eingehen werde. Die Anschrift war umfassend und zutreffend. Es handelte sich bei dem 27. und 28. August 1969 um zwei aufeinanderfolgende Wochentage. Die Gründe, die in den BFH-Beschlüssen IV R 126/69 vom 12. März 1970 (BFH 98, 467, BStBl II 1970, 460) und in I R 148/69 vom 15. April 1970 (BFH 98, 536) - nämlich Absendung des Briefes am Sonnabend bzw. verzögerte Postbeförderung wegen falscher Adresse - zur Versagung der Wiedereinsetzung führten, liegen im Streifall nicht vor. Wie der Senat bereits in dem Urteil III 87/64 vom 15. Dezember 1967 (BFH 91, 298, BStBl II 1968, 325) ausgeführt hat, kann nicht allgemein davon ausgegangen werden, Verzögerungen von einigen Tagen müßten im Postverkehr in Rechnung gestellt werden.

Unter den gegebenen Umständen hatte der Steuerpflichtige daher entgegen den Ausführungen des FG keine besondere Veranlassung, die Klageschrift als Eilbrief aufzugeben oder durch Boten befördern zu lassen. Somit hätte das FG auf den rechtzeitig gestellten Antrag des Klägers (Pflichtigen) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müssen. Die Vorentscheidung ist somit aufzuheben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 69372

BStBl II 1971, 240

BFHE 1971, 32

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