Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine abweichende Festsetzung von Steuern aus Billigkeitsgründen wegen Abschaffung der besonderen Veranlagung nach § 26 c EStG a. F.
Leitsatz (NV)
Ein Steuerpflichtiger, der im Jahr nach dem Tode seiner ersten Ehefrau eine zweite Ehe eingeht und mit der zweiten Ehefrau zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wird, hat keinen Anspruch auf abweichende Festsetzung von Steuern aus Billigkeitsgründen, weil ihm das Verwitweten-Privileg bzw. eine besondere Veranlagung nach § 26c EStG versagt blieb.
Normenkette
AO 1977 § 163 Abs. 1; EStG § 26 Abs. 1 S. 1, § 26b; EStG a.F. (bis 1974) § 26c
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erzielte im Streitjahr 1982 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Der Lohnsteuerabzug wurde nach der Steuerklasse III vorgenommen, weil die erste Ehefrau des Klägers im Jahre 1981 verstorben war.
Am . . . 1982 schloß der Kläger eine zweite Ehe. Seine Ehefrau bezog im Streitjahr ebenfalls Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Nachdem der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) zunächst eine Zusammenveranlagung des Klägers mit seiner Ehefrau durchgeführt hatte, wählte der Kläger die für ihn etwas günstigere getrennte Veranlagung, die das FA antragsgemäß vornahm. Mit dem dagegen gerichteten Einspruch begehrte der Kläger zunächst die Anwendung der Splittingtabelle und, nachdem er diesen Einspruch zurückgenommen hatte, die Herabsetzung der Einkommensteuer aus Billigkeitsgründen.
Das FA und die Oberfinanzdirektion (OFD) lehnten dies ab. In der Beschwerdeentscheidung vom 6. April 1984 wurde ausgeführt, daß der Kläger weder wirtschaftliche noch sachliche Erlaßgründe im Sinne des § 227 der Abgabenordnung (AO 1977) geltend machen könne. Die Gewährung des Splitting-Tarifs für verwitwete Steuerpflichtige sei eine von Billigkeitserwägungen getragene unsystematische Ausnahme von dem Grundsatz des Ehegatten-Splitting. Habe der Verwitwete aber wieder geheiratet, so fehle es an den sachlichen Voraussetzungen dieser Ausnahmeregelung, auch wenn die Eheschließung erst gegen Ende des ,,Gnadenjahrs" erfolgt sei. Der Kläger könne sich auch nicht auf einen Verstoß gegen Treu und Glauben berufen. Da im Falle der Wiederverheiratung eine Einkommensteuerveranlagung gesetzlich ausdrücklich angeordnet sei, komme allen vorausgegangenen Entscheidungen im Lohnsteuerverfahren nur vorläufiger Charakter zu und die endgültige Steuerfestsetzung erfolge erst im Veranlagungsverfahren.
Die dagegen gerichtete Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte aus, sachliche Billigkeitsgründe, die im Streitfall zwar nicht einen Erlaß aber doch eine niedrigere Steuerfestsetzung nach § 163 AO 1977 rechtfertigen könnten, lägen nicht vor. Mit der Abschaffung des in den Veranlagungszeiträumen 1969 bis 1974 geltenden § 26c des Einkommensteuergesetzes (EStG) habe der Gesetzgeber bewußt in Kauf genommen, daß Härten entstehen. Diese - im übrigen verfassungsmäßige - Änderung könne nicht durch Billigkeitsmaßnahmen unterlaufen werden. Da der OFD im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung nicht bekannt gewesen sei, daß die Regelung des § 26c EStG wieder eingeführt werden sollte, sei auch nicht zu prüfen, ob die Wiedereinführung der besonderen Veranlagung zu einer sachlichen Unbilligkeit im Streitfall führe.
Dagegen richtet sich die vom FG zugelassene Revision, mit der der Kläger die Verletzung materiellen Rechts rügt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
Zutreffend hat das FG die ablehnende Entscheidung des FA in Gestalt der Beschwerdeentscheidung über die begehrte abweichende Festsetzung von Steuern aus Billigkeitsgründen nach § 163 AO 1977 bestätigt.
1. Gemäß § 163 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 können Steuern niedriger festgesetzt werden und einzelne steuererhöhende Besteuerungsgrundlagen unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Da es sich bei der begehrten abweichenden Festsetzung von Steuern aus Billigkeitsgründen nach § 163 AO 1977 um eine Ermessensentscheidung handelt (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 18. August 1987 VIII R 297/82, BFHE 151, 35, BStBl II 1988, 139, und vom 12. Januar 1989 IV R 67/87, BFHE 155, 484, BStBl II 1990, 259), kann die Entscheidung des FA nur darauf überprüft werden, ob es die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem eingeräumten Ermessen in zweckwidriger Weise Gebrauch gemacht hat (§ 102 FGO). Solche Mängel ergeben sich im Streitfall nicht.
2. Zutreffend hat das FG die vom Kläger allein geltend gemachten sachlichen Billigkeitsgründe abgelehnt. Sachliche Billigkeitsgründe sind gegeben, wenn die Besteuerung eines Sachverhalts, der unter einen gesetzlichen Besteuerungstatbestand fällt, im Einzelfall mit dem Sinn und Zweck der Steuergesetze nicht vereinbar ist, wenn also ein Überhang des gesetzlichen Tatbestandes über die Wertungen des Gesetzgebers feststellbar ist (BFH-Urteile vom 25. November 1980 VII R 17/78, BFHE 132, 159, BStBl II 1981, 204, und in BFHE 155, 484, BStBl II 1990, 259).
a) Rechtsfehlerfrei hat das FG einen solchen Überhang des gesetzlichen Tatbestands über die Wertungen des Gesetzgebers im Streitfall mit der Begründung verneint, daß sich der Fall des Klägers nicht als Ausnahmetatbestand darstellt, an den der Gesetzgeber bei Streichung des § 26c EStG im Jahre 1974 nicht gedacht haben könnte. Durch Art. 1 Nr. 39 des Gesetzes zur Reform der Einkommensteuer, des Familienlastenausgleichs und der Sparförderung vom 5. August 1974 - EStRG - (BGBl I 1974, 1769, BStBl I 1974, 530) war die seit 1970 bestehende Möglichkeit entfallen, für den Veranlagungszeitraum der Eheschließung die besondere Veranlagung nach § 26c EStG a.F. zu wählen.
b) Bei Abschaffung der besonderen Veranlagung im Veranlagungszeitraum der Eheschließung war sich der Gesetzgeber durchaus bewußt, daß die Beschränkung der Ehegattenbesteuerung auf die Veranlagungsformen der §§ 26a und 26b EStG im Jahr der Eheschließung zu einer höheren Steuerbelastung führen kann, als wenn die Eheleute weiterhin als Alleinstehende besteuert würden. Maßgebend für die Gesetzesänderung waren - worauf die Revision zutreffend hingewiesen hat - im wesentlichen Vereinfachungsgründe; denn mit der Aufhebung des § 26c EStG a.F. sollten Erschwernisse beim Lohnsteuer-Jahresausgleich und bei der Automatisierung des Lohnsteuerverfahrens ausgeräumt werden (vgl. BTDrucks 7/1470 S. 229; Pogge v. Strandmann / Kieschke, Deutsche Steuer-Zeitung / Ausgabe A - DStZ/A - 1974, 331, 336; Bals / Kleinsorge / Tullius, StWa 1974, 173). Wie der VI. Senat des BFH wiederholt entschieden hat, ist diese Gesetzesänderung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BFH-Urteile vom 23. Januar 1981 VI R 214/77, BFHE 132, 293, BStBl II 1981, 316, und vom 18. Januar 1985 VI R 55/81, BFH/NV 1985, 25). Für den erkennenden Senat, der sich dieser Rechtsprechung anschließt, folgt daraus, daß auch verfassungsrechtliche Erwägungen nicht geeignet sind, im Streitfall einen Überhang des gesetzlichen Tatbestands über die Wertungen des Gesetzgebers zu begründen (vgl. auch FG Berlin, Urteil vom 27. Mai 1986 VII 265/84, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1987, 127).
c) Der Senat kann dem Kläger nicht darin folgen, daß sich die Anwendung des § 26c EStG aus Billigkeitsgründen aus dem Sinn und Zweck des Verwitweten-Privilegs ergebe. Zwar sollten mit der zeitlich begrenzten Anwendung des Splittingtarifs auf Verwitwete Härten vermieden und insbesondere sollte verhindert werden, daß beim Tod eines Ehegatten für den Überlebenden alsbald eine steuerliche Schlechterstellung eintritt (Begründung zu Art. 1 Nr. 23 des Entwurfs des Steueränderungsgesetzes 1958, BTDrucks 3/260 S. 58; BFH-Urteil vom 26. November 1985 IX R 1/81, BFHE 145, 383, BStBl II 1986, 353). Dieser Zweck entfällt, wenn der verwitwete Steuerpflichtige alsbald wieder heiratet und bereits aus diesem Grunde im Wege der Zusammenveranlagung mit dem neuen Ehegatten den Splittingtarif erhält und damit steuerlich ebenso behandelt wird wie andere Ehegatten, denen gemäß § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG nur das Wahlrecht zwischen Zusammenveranlagung und getrennter Veranlagung eingeräumt ist. Auch diese Gleichbehandlung aller verheirateten und nicht dauernd getrennt lebenden unbeschränkt steuerpflichtigen Eheleute steht einer Begünstigung des Klägers durch die begehrte Billigkeitsentscheidung entgegen.
d) Nicht zu beanstanden ist schließlich, daß das FG bei Überprüfung der Ermessensentscheidung der Wiedereinführung der besonderen Veranlagung durch § 26c EStG 1986 deshalb keine Bedeutung beigemessen hat, weil die Änderung der Rechtslage der Finanzbehörde im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung nicht bekannt gewesen sein konnte. Entgegen der Auffassung des Klägers sind für die Entscheidung über ein Erlaßbegehren die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der letztinstanzlichen Verwaltungsentscheidung (Beschwerdeentscheidung) zugrunde zu legen (vgl. z. B. BFH-Urteile vom 26. Juli 1972 I R 158/71, BFHE 106, 489, BStBl II 1972, 919, und vom 22. Oktober 1981 IV R 81/79, BFHE 134, 415, BStBl II 1982, 446).
Allerdings hat der Kläger unter Hinweis auf das BFH-Urteil vom 13. Juni 1960 VI 149/59 U (BFHE 71, 254, BStBl III 1960, 344, 345) vorgetragen, das FG habe den Grundsatz des Vertrauensschutzes verkannt; denn führe eine Gesetzesänderung zu einer Besserstellung des Steuerpflichtigen, so könne die Anwendung der alten ungünstigen Vorschrift unbillig sein. In der einen Billigkeitserlaß ablehnenden Entscheidung des BFH (in BFHE 71, 254, BStBl III 1960, 344, 345) wird jedoch lediglich ausgeführt, Billigkeitsmaßnahmen seien insbesondere in den Fällen denkbar, bei denen kurz vor dem 1. Januar aufgrund der damals geltenden Fassung eines Gesetzes die Steuerpflicht zutreffend bejaht worden sei, bei denen im Falle der Besteuerung unmittelbar nach diesem Zeitpunkt aber Steuerfreiheit gegeben wäre. Davon unterscheidet sich der Streitfall indessen ganz wesentlich; denn die besondere Veranlagung im Veranlagungszeitraum der Eheschließung nach § 26c EStG ist erst zwei Jahre nach Ablauf des Streitjahres wieder eingeführt worden.
Der Kläger vermag die begehrte Billigkeitsmaßnahme schließlich auch nicht deswegen aus dem Grundsatz von Treu und Glauben herzuleiten, weil der Steueranspruch durch Mitwirken der Finanzbehörde entstanden sei. Nach den Feststellungen des FG weist der ,,Leitfaden für alle Lohnsteuerzahler" zwar auf das Gnadensplitting hin, nicht aber darauf, daß diese Vergünstigung durch Wiederheirat entfällt. Wie das FG jedoch zutreffend ausgeführt hat, liegt in dem Fehlen eines solchen Hinweises kein treuwidriges Verhalten. Es liegt in der Natur der Sache, daß ein derartiger Leitfaden nur typische und häufig vorkommende Fallgestaltungen behandelt und daher notwendigerweise unvollständig bleibt. Das FG weist ferner zu Recht auf die ausdrückliche Regelung einer Veranlagung bei Wiederverheiratung eines verwitweten Steuerpflichtigen in § 46 Abs. 2 Nr. 5 EStG hin. Der Senat ist im übrigen der Auffassung, daß für den Kläger bei seiner erneuten Eheschließung durchaus Anlaß bestanden hätte, sich Gewißheit über die Frage der Besteuerung zu verschaffen; denn als Verheiratetem mußten sich dem Kläger zumindest Zweifel aufdrängen, ob er auch weiterhin den Regelungen für verwitwete Steuerpflichtige unterliegt.
Fundstellen