Entscheidungsstichwort (Thema)
Prozesszinsen auch bei mangelnder Beteiligung am Rechtsstreit
Leitsatz (amtlich)
Prozesszinsen nach § 236 AO erhält der Feststellungsbeteiligte, dessen Einkommensteuerfestsetzung aufgrund der gerichtlichen Anfechtung eines Grundlagenbescheides durch einen früheren Mitgesellschafter einer KG geändert wird, selbst dann, wenn er nicht Beteiligter im Verfahren gegen den Grundlagenbescheid war.
Normenkette
AO § 236
Verfahrensgang
FG Münster (Entscheidung vom 29.03.2006; Aktenzeichen 1 K 2321/05 E; EFG 2006, 1398) |
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war als Kommanditist an einer KG beteiligt. Zunächst waren für ihn folgende Einkünfte festgestellt und in den Einkommensteuerbescheiden erfasst worden:
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1974 |
1975 |
Laufende Einkünfte |
61 517,41 DM |
-- |
Veräußerungsgewinn |
-- |
196 680,54 DM |
Sonderbetriebsausgaben |
2 400,00 DM |
-- |
Gegen die Gewinnfeststellungsbescheide 1974 und 1975 erhob am 3. Juli 1987 ein anderer Kommanditist der KG Klage. Im Verlauf des Klageverfahrens entsprach das zuständige Finanzamt dem Klagebegehren. Der Rechtsstreit war in der Hauptsache erledigt. Die Gewinnfeststellungsbescheide für die KG wurden am 3. Juni 2004 bzw. 23. Dezember 2002 geändert. Für den Kläger wurden hierin folgende Einkünfte festgestellt:
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1974 |
1975 |
Laufende Einkünfte |
0 DM |
-- |
Veräußerungsgewinn |
-- |
0 DM |
Sonderbetriebsausgaben |
2 400 DM |
-- |
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) änderte daraufhin die Einkommensteuerbescheide des Klägers. Die Änderungsbescheide vom 10. März bzw. 11. April 2005 (für 1974) und vom 10. März 2005 (für 1975) führten zu folgenden Steuererstattungen:
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1974 |
1975 |
Einkommensteuer |
14 640,85 € |
24 630,97 € |
r.-k. Kirchensteuer |
1 509,74 € |
2 263,16 € |
Stabilitätszuschlag |
754,67 € |
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Ergänzungsabgabe |
452,49 € |
-- |
Den Antrag des Klägers, Prozesszinsen gemäß § 236 der Abgabenordnung (AO) festzusetzen, lehnte das FA ab.
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage mit in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2006, 1398 veröffentlichtem Urteil abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Prozesszinsen gemäß § 236 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a AO, weil er nicht Beteiligter des finanzgerichtlichen Verfahrens gewesen sei, das zur Herabsetzung der Einkommensteuer 1974 und 1975 geführt habe.
Mit seiner Revision rügt der Kläger Verletzung von § 236 AO. Er beantragt sinngemäß, das FG-Urteil und die den ablehnenden Verwaltungsakt vom 14. April 2005 bestätigende Einspruchsentscheidung vom 11. Mai 2005 aufzuheben und das FA zu verpflichten, Prozesszinsen nach § 236 AO zur Steuererstattung für 1974 und 1975 gemäß Bescheiden vom 10. März 2005/11. April 2005 (für 1974) und 10. März 2005 (für 1975) festzusetzen und an ihn auszuzahlen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Entgegen der Auffassung des FG ist das FA verpflichtet, die Erstattungsbeträge vom Tag der Rechtshängigkeit der Klage gegen die Gewinnfeststellungsbescheide bis zum Auszahlungstag zu verzinsen.
1. Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis werden nur verzinst, soweit dies gesetzlich vorgeschrieben ist (§ 233 Satz 1 AO). Gemäß § 236 Abs. 1 Satz 1 AO ist der zu erstattende Betrag vom Tag der Rechtshängigkeit an bis zum Auszahlungstag zu verzinsen, wenn durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder aufgrund einer solchen Entscheidung eine festgesetzte Steuer herabgesetzt wird. Dies gilt nach § 236 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a AO entsprechend, wenn eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder ein unanfechtbarer Verwaltungsakt, durch den sich der Rechtsstreit erledigt hat, zur Herabsetzung der in einem Folgebescheid festgesetzten Steuer führt.
Auch nach Einführung der Vollverzinsung nach Maßgabe des § 233a AO gibt es keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass rückständige Staatsleistungen (angemessen) zu verzinsen sind. Das Gesetz kennt vielmehr nur die Verzinsung auf der Grundlage genau umschriebener Tatbestände (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 29. April 1997 VII R 91/96, BFHE 182, 253, BStBl II 1997, 476) wie der Vorschrift betreffend Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge (§ 236 AO). Deren Zweck ist es, dem Gläubiger eines Erstattungsanspruchs für die Vorenthaltung des Kapitals und der damit verbundenen Nutzungsmöglichkeiten zumindest für die Zeit ab Rechtshängigkeit eine Entschädigung zu gewähren (vgl. BFH-Urteile vom 13. Juli 1994 I R 38/93, BFHE 175, 496, BStBl II 1995, 37; vom 16. November 2000 XI R 31/00, BFHE 196, 1, BStBl II 2002, 119; vom 15. Oktober 2003 X R 48/01, BFHE 204, 1, BStBl II 2004, 169). Davon ist bei der Auslegung des § 236 AO auszugehen (BFH-Beschluss vom 20. Januar 1999 IV B 40/98, BFH/NV 1999, 1055, unter Hinweis auf die Entscheidung in BFHE 182, 253, BStBl II 1997, 476).
2. Die Voraussetzungen des § 236 AO sind im Streitfall erfüllt. Unabhängig davon, welcher Kommanditist mit seiner Klage die Änderung der Gewinnfeststellungsbescheide der vollbeendeten KG für 1974 und 1975 erreicht hat, war dieser Rechtsstreit für die Herabsetzung der Einkommensteuer des Klägers kausal (so auch Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 236 AO Rz 28; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler --HHSp--, § 236 AO Rz 33; Wagner in: Kühn/v.Wedelstädt, 18. Aufl., AO, § 236 Rz 13; Schwarz in Schwarz, AO, § 236 Rz 12). Allein darauf stellt § 236 AO ab.
a) Weder der Wortlaut des § 236 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a AO noch der des § 236 Abs. 1 AO lassen die Auslegung zu, dass Prozesszinsen nur derjenige beanspruchen kann, der durch die Anfechtung des Grundlagenbescheides mittelbar die Änderung seiner Einkommensteuerfestsetzung eingeklagt hat. Voraussetzung für den Zinsanspruch ist vielmehr lediglich, dass ein unanfechtbarer Verwaltungsakt, durch den sich --wie im Streitfall-- ein Rechtsstreit erledigt hat, zur Herabsetzung der im Folgebescheid festgesetzten Steuer führt.
b) Gegenteiliges kann auch nicht aus § 236 Abs. 3 AO entnommen werden. Diese Vorschrift schließt den Zinsanspruch aus, wenn einem Beteiligten die Kosten des Rechtsbehelfs nach § 137 Satz 1 FGO auferlegt worden sind. Derjenige, der sich einen Tatsachenvortrag bis zum finanzgerichtlichen Verfahren vorbehält, soll keinen Vorteil gegenüber demjenigen erlangen, der seiner Mitwirkungspflicht (§ 90 AO) bereits im Verwaltungsverfahren nachkommt. Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz dahingehend, dass nur Beteiligten im Rechtsstreit gegen den Grundlagenbescheid ein Zinsanspruch bei Änderung des Folgebescheides zusteht, kann daraus jedoch nicht abgeleitet werden.
c) Auch die verfahrensrechtliche Symmetrie ("Waffengleichheit") gebietet, Feststellungsbeteiligten Prozesszinsen zuzuerkennen, die von der gerichtlichen Anfechtung eines Grundlagenbescheides durch einen früheren Mitgesellschafter profitieren. Die Aussetzung der Vollziehung eines Grundlagenbescheides hemmt dessen Vollziehbarkeit insgesamt. Nach § 361 Abs. 3 Satz 1 AO bzw. § 69 Abs. 2 Satz 4 FGO sind deshalb im Falle einer vollbeendeten Gesellschaft sämtliche Folgebescheide auszusetzen. Bleibt ein gegen einen Grundlagenbescheid gerichtetes Rechtsbehelfs- oder Klageverfahren endgültig erfolglos, sind Aussetzungszinsen nach § 237 AO somit auch von den Steuerpflichtigen zu erheben, die den Grundlagenbescheid nicht angefochten haben.
d) Zudem verlangt die Prozessökonomie, früheren Gesellschaftern einer vollbeendeten Personengesellschaft auch dann Prozesszinsen zuzusprechen, wenn sie den Grundlagenbescheid nicht selbst angefochten haben. Könnten nur (Haupt-)Beteiligte im Verfahren gegen den Grundlagenbescheid Prozesszinsen beanspruchen (so aber das Urteil des Hessischen FG vom 7. November 2002 7 K 2143/02, EFG 2003, 508), würden nicht nur die FG, sondern auch die Steuerpflichtigen und Finanzbehörden mit einer Vielzahl vermeidbarer Prozesse belastet.
e) Die in § 236 Abs. 2 AO angeordnete entsprechende Anwendung des § 236 Abs. 1 AO gebietet es, den Streitfall anders zu behandeln als die Fälle eines Musterverfahrens, wonach ein Steuerpflichtiger, dessen Einspruchsverfahren im Hinblick auf ein von einem anderen Steuerpflichtigen angestrengtes Musterverfahren ausgesetzt wurde, bei einem günstigen Ausgang dieses Prozesses ebenso wenig einen Anspruch auf Prozesszinsen (BFH-Urteil vom 31. Oktober 1974 IV R 160/69, BFHE 114, 397, BStBl II 1975, 370) hat wie wenn die Steuerfestsetzung wegen eines Musterverfahrens für einen anderen Steuerabschnitt zu Gunsten des Steuerpflichtigen geändert wird. Für diese Fälle fehlt es an der Anordnung der entsprechenden Anwendung des § 236 Abs. 1 AO.
3. Nach alledem ist die dem Kläger erstattete Einkommensteuer für 1974 und 1975 zu verzinsen. Gleiches gilt für die erstattete Kirchensteuer für 1974 und 1975 (vgl. Heuermann in HHSp, § 236 AO Rz 11). Zudem sind auch die Ergänzungsabgabe und der Stabilitätszuschlag als "Folgesteuern" (vgl. BFH-Beschluss vom 24. Januar 1979 I R 91/78, BFHE 127, 300, BStBl II 1979, 441) zu verzinsen. Der Zinslauf begann mit Rechtshängigkeit der Klage gegen die Gewinnfeststellungsbescheide (3. Juli 1987) und endete mit der Auszahlung der Erstattungsbeträge.
Fundstellen
BFH/NV 2007, 1553 |
BStBl II 2007, 506 |
BFHE 216, 396 |