Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an Tatbestand undSachverhaltsdarstellung eines Finanzgerichtsurteils
Leitsatz (NV)
1. Leidet die Sachverhaltsdarstellung in einem Urteil des Finanzgerichts an Widersprüchen, so ist das ein materiell-rechtlicher Mangel, den der BFH als Revisionsgericht ohne Rüge zu berücksichtigen hat.
2. Anforderungen an den Tatbestand einer Entscheidung des Finanzgerichts.
3. Eine Zurückverweisung an das HZA ist rechtlich unzulässig.
Normenkette
FGO § 105 Abs. 3, § 100 Abs. 2 S. 2, § 115 Abs. 2 Nr. 3
Tatbestand
Mit Haftungsbescheid vom 6. November 1980 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 4. November 1981 nahm der Beklagte und Revisionskläger (das Hauptzollamt - HZA -) den Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) für Mineralölsteuer in Höhe von 135 627,40 DM in Anspruch. Durch Änderungsbescheid vom 21. Januar 1985, den der Kläger in der Vorinstanz durch Antrag nach § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Verfahrens gemacht hat, ist der Haftungsbetrag auf 116 046,60 DM herabgesetzt worden. Das HZA begründete die Inanspruchnahme wie folgt: Der als steuerlicher Betriebsleiter des Klägers beauftragte Angestellte P habe in der Zeit vom 12. September 1975 bis zum 24. Mai 1976 zusammen mit dem Zeugen K Heizöl als Dieselkraftstoff verkauft. Der Kläger hafte als der Vertretene nach § 111 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) für die Mineralölsteuer, die sein steuerlicher Betriebsleiter als Bevollmächtigter i. S. der §§ 107, 108 AO in Ausübung seiner Dienstobliegenheiten hinterzogen habe. Durch rechtskräftiges Strafurteil sind K und P wegen Steuerhinterziehung verurteilt worden.
Das Finanzgericht (FG) hat den Haftungsbescheid aufgehoben ,,und die Sache zur weiteren Aufklärung und erneuten Entscheidung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts an den Beklagten zurückverwiesen". Zur Begründung führte es aus:
Rechtsgrundlage für den Haftungsbescheid sei § 111 Abs. 1 AO, der im Streitfall nach Art. 97 § 11 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) noch Anwendung finde. P sei unstreitig steuerlicher Betriebsleiter und damit Bevollmächtigter i. S. des § 108 AO gewesen. Er sei rechtskräftig wegen Steuerhinterziehung verurteilt worden. Die Steuerhinterziehung habe er in Ausübung seiner Obliegenheiten begangen. Zu seinem Aufgabenbereich als Angestellter habe der An- und Verkauf sowie die Freistellung von Mineralöl gehört. In dem gemeinschaftlichen Handeln mit K habe P gerade seine Stellung als Disponent des Klägers ausgenutzt, indem er große Mineralölmengen bei Mineralölgroßhändlern freigestellt und damit dem K das Abholen des Mineralöls ermöglicht habe. Das ergebe sich sowohl aus den Feststellungen des Strafurteils als auch aus der Zeugenaussage des P. Die Steuerhinterziehung brauche nicht zum Vorteil des Vertretenen begangen worden sein. Der Kläger könne sich nicht auf Verjährung berufen; für die Frist des § 144 Abs. 1 Satz 1 AO komme es nur darauf an, daß die Beträge hinterzogen worden seien, nicht aber auf die Frage, wer die Steuerhinterziehung begangen habe.
Ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 111 Abs. 1 AO sei, daß der Haftende selbst nicht Steuerschuldner sei. Das HZA habe sich im Haftungsbescheid vom 6. November 1980 mit dieser Frage erkennbar nicht auseinandergesetzt. In seiner Einspruchsentscheidung habe es nur am Rande erwähnt, Steuerschuldner sei K. Dies sei aber mehr als zweifelhaft; denn das Mineralöl sei von verschiedenen Lieferanten abgeholt worden und auch verschiedene Wege gegangen. Auch dann, wenn man der Behauptung des HZA folge, der Mineralölhändler R habe in der Strecke weiter an den Kläger verkauft, wäre der Kläger und nicht K Steuerschuldner. Im übrigen komme es bei der Frage, wer Steuerschuldner sei, im wesentlichen darauf an, wer in den Rechnungen der abgebenden Stellen als Rechnungsempfänger ausgewiesen und für welche Firmen K in den Rechnungen als abholender Spediteur ausgewiesen worden sei. Dies müsse das HZA bezüglich der einzelnen Lieferungen noch weiter aufklären und darlegen.
Die Frage, ob bereits deswegen der Haftungsbescheid rechtswidrig sei, könne dahingestellt bleiben; denn auch die Ermessensentscheidung des HZA sei nicht ausreichend begründet. Nach § 191 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977), der im Streitfall nach Art. 97 §§ 1, 18 EGAO 1977 Anwendung finde, entscheide die Behörde nach ihrem Ermessen. Werde dieses nicht begründet, so sei die Entscheidung regelmäßig fehlerhaft. Im Streitfall enthielten weder der Haftungsbescheid noch die Einspruchsentscheidung eine Begründung für die getroffene Ermessensentscheidung. Diese Akte befaßten sich nur mit den haftungsbegründenden Tatsachen, seien also reine Rechtsentscheidungen. Im Streitfall werde die Ermessensentscheidung auch nicht durch die Rechtsentscheidung vorgeprägt; denn der Kläger habe unstreitig keine Steuerhinterziehung begangen. Es liege somit ein Ermessensfehlgebrauch in Form einer sog. Ermessensunterschreitung vor. Die Sache sei daher zur erneuten Entscheidung an das HZA zurückzuverweisen (§ 100 Abs. 2 Satz 2 FGO). Das HZA werde bei seiner erneuten Ermessensbetätigung bestimmte (vom FG näher dargelegte) Erwägungen zu berücksichtigen haben.
Mit seiner Revision macht das HZA folgendes geltend:
Zu Unrecht verneine das FG, daß die Einspruchsentscheidung keine Ermessensbegründung erkennen lasse. In der Einspruchsentscheidung sei ausdrücklich auf § 191 AO 1977 und die notwendige Ermessensentscheidung hingewiesen und das Ergebnis der Interessenabwägung unmißverständlich dargelegt worden. Es, das HZA, habe sich auch entgegen der Auffassung des FG mit der Frage auseinandergesetzt, ob der Kläger Steuerschuldner sei. Das FG weise selbst darauf hin, in der Einspruchsentscheidung sei der Steuerschuldner benannt worden. Nähere Ausführungen dazu dürfe die Verwaltungsentscheidung schon wegen § 30 AO 1977 nicht enthalten. Die vom FG vertretene Auffassung zum Übergang der bedingten Mineralölsteuerschuld stehe nicht im Einklang mit den gesetzlichen Bestimmungen. Denn es komme dabei nicht auf die schuldrechtliche Geschäftsabwicklung an, sondern darauf, wem der Besitz am Mineralöl übertragen werde. Über den Umfang der Mineralöllieferungen, die dem Haftungsbescheid in der Fassung des Änderungsbescheids zugrunde lägen, bestünden keine Unklarheiten. Denn es, das HZA, sei von den Mengen ausgegangen, die Grundlage des Strafurteils seien.
Das HZA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Er macht u. a. geltend: Er habe keinerlei Vorteile erlangt. Durch die Betrügereien von P sei er zudem schwer geschädigt worden. Er sei vom Landgericht M nicht gehört worden. Er habe selbst die Prüfung durch das Zollamt beantragt. Das Zollamt habe stets erklärt, er habe keine Aufsichtsund Überwachungspflicht verletzt. So sei auch das Bußgeldverfahren nach § 47 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) eingestellt worden. Die Höhe der Haftungssumme müsse angezweifelt werden, da bereits mehrmals Herabsetzungen erfolgt seien.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Die Sachverhaltsdarstellung des FG leidet an Widersprüchen. Das ist ein materiell-rechtlicher Mangel (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 115 Anm. 27, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung), den der Senat auch ohne ausdrückliche Rüge berücksichtigen muß.
Das FG hat seine Entscheidung im wesentlichen damit begründet, es liege ein Ermessensfehlgebrauch in Form einer sog. Ermessensunterschreitung vor. Diese Auffassung hat das FG mit der Feststellung belegt, weder der Haftungsbescheid noch die Einspruchsentscheidung enthalte eine Begründung für die getroffene Ermessensentscheidung, den Kläger in Anspruch zu nehmen (S. 9 der Vorentscheidung). Diese Feststellung steht im Widerspruch zum Inhalt der Einspruchsentscheidung vom 4. November 1981. Zwar hat das FG diese nicht ausdrücklich in Bezug genommen, aber immerhin mehrfach erwähnt. Damit kann sie als in Bezug genommen angesehen werden (Beschluß des Großen Senats des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 17. Juli 1967 GrS 3/66, BFHE 91, 213, 217, BStBl II 1968, 285; vgl. BFH-Urteil vom 23. Januar 1985 I R 30/81, BFHE 143, 117, 119, BStBl II 1985, 305, wo der I. Senat den Inhalt der Niederschrift über die mündliche Verhandlung als Teil der tatsächlichen Feststellungen des FG angesehen hat, obwohl dieses die Niederschrift nicht in Bezug genommen hatte). Die Einspruchsentscheidung enthält eine ausführliche Begründung der Ermessenserwägungen des HZA (S. 6 und 7 des Entwurfs).
Da die Vorentscheidung bereits aus diesem Grund aufzuheben war, bedarf es nicht der Prüfung der Frage, ob die Vorentscheidung auch deswegen an einem Rechtsmangel leidet, weil sie die Darstellung der entscheidungserheblichen Tatsachen vermissen läßt (vgl. § 105 Abs. 3 FGO; BFH-Urteil vom 21. Januar 1981 I R 153/77, BFHE 133, 33, 34; Gräber/von Groll, a. a. O., § 105 Anm. 16-21).
Die Sache ist nicht spruchreif und daher an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 FGO). Der Senat kann die Feststellung, daß das HZA eine Ermessensentscheidung getroffen und begründet habe, als Revisionsgericht nicht selbst treffen. Überdies ist es dem Senat auch nicht möglich, anhand der wenigen Ausführungen in der Vorentscheidung, die als tatsächliche Feststellungen gewertet werden können, zu überprüfen, ob das FG zu Recht davon ausgegangen ist, daß P eine Steuerhinterziehung begangen hat. Das FG hat sich nicht dazu geäußert, ob und ggf. in welchem Umfang es die Feststellungen in dem Strafurteil - dieses Urteil hat die Vorinstanz ausdrücklich zum Gegenstand des Verfahrens gemacht - sich zueigen macht (vgl. auch Senatsurteil vom 10. Januar 1978 VII R 106/74, BFHE 124, 305, BStBl II 1978, 311).
Bei seiner neuerlichen Entscheidung wird das FG zu berücksichtigen haben, daß eine etwaige Entscheidung nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO nur zur Aufhebung der angefochtenen Bescheide, aber weder zu einer - im Verfahrensrecht nicht vorgesehenen - Zurückverweisung an das HZA noch zur Erteilung gerichtlicher Weisungen für die etwaige neuerliche Ermessensentscheidung des HZA führen kann. Außerdem muß das FG ggf. berücksichtigen, daß eine Entscheidung nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO die Feststellung eines wesentlichen Verfahrensmangels voraussetzt und bei einer solchen Feststellung von der materiellen Rechtsauffassung des HZA auszugehen ist (vgl. BFH-Urteil vom 29. Mai 1984 VIII R 177/78, BFHE 141, 272, 276, BStBl II 1984, 661, 663). Im übrigen verweist der Senat auf sein Urteil vom 7. Mai 1985 VII R 51-53/81 (BFH/NV 1986, 565), falls es auf die in diesem Urteil entschiedenen Rechtsfragen bei der neuerlichen Entscheidung des FG ankommen sollte.
Fundstellen
Haufe-Index 415688 |
BFH/NV 1988, 717 |