Leitsatz (amtlich)
1. Auch wenn bei unbekanntem Aufenthalt des Prozeßbevollmächtigten in entsprechender Anwendung des § 177 ZPO (§ 155 FGO) die Zustellung an den Beteiligten selbst zulässig sein sollte, dürfte sie nur erfolgen, wenn die zustellende Behörde alle Möglichkeiten der Ermittlung des Aufenthalts des Prozeßbevollmächtigten ausgeschöpft hat.
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Normenkette
ZPO § 177; FGO § 53 Abs. 2, § 62 Abs. 3 S. 3, § 90 Abs. 3 Sätze 2-3; VwZG § 8 Abs. 4, §§ 9, 15
Tatbestand
Der Senat hat in dieser Sache am 30. März 1976 einen Vorbescheid erlassen. Die Zustellung des Vorbescheids durch Postzustellungsurkunde (PZU) an die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) konnte nicht durchgeführt werden, da die Empfänger nach einem Vermerk des zuständigen Postbeamten auf dem Briefumschlag unbekannt verzogen waren. Die Geschäftsstelle des Senats teilte dies der Klägerin mit und bat um Äußerung, ob sie noch durch die Prozeßbevollmächtigten vertreten werde, bejahendenfalls um Bekanntgabe der neuen Anschrift. Dieses Schreiben wurde nicht beantwortet. Auf eine entsprechende Anfrage der Geschäftsstelle teilte die OFD eine neue Anschrift der Prozeßbevollmächtigten mit. Auch das an diese Adresse gerichtete Zustellungsschreiben kam mit dem Vermerk "Empfänger unbekannt verzogen" zurück. Daraufhin stellte die Geschäftsstelle den Vorbescheid unter entsprechender Anwendung des § 177 ZPO mit PZU am 8. Juli 1976 dem Geschäftsführer der Klägerin zu. Diese stellte bis zum Ablauf der Antragsfrist des § 90 Abs. 3 FGO - 9. August 1976 - keinen Antrag auf mündliche Verhandlung.
Am 9. September 1976 beantragte der Prozeßbevollmächtigte H der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und Anberaumung einer mündlichen Verhandlung. Er legte ein Schreiben der Klägerin vom 24. August 1976 vor, aus dem sich ergibt, daß der Vorbescheid erst an diesem Tage von der Klägerin an die Prozeßbevollmächtigten abgesandt worden ist.
Entscheidungsgründe
Der Antrag auf Anberaumung einer mündlichen Verhandlung ist rechtzeitig gestellt. Der Vorbescheid gilt damit als nicht ergangen (§ 90 Abs. 3 Satz 2 und 3 FGO). Gemäß § 62 Abs. 3 Satz 3 FGO ist, wenn ein Bevollmächtigter bestellt ist, die Zustellung an ihn zu richten. Zugestellt wird gem. § 53 Abs. 2 FGO von Amts wegen nach den Vorschriften des VwZG. Auch nach § 8 Abs. 4 dieses Gesetzes müssen Zustellungen in einem finanzgerichtlichen Verfahren an den bestellten Prozeßbevollmächtigten bewirkt werden. Der Senat läßt es dahingestellt, ob Zustellungen im finanzgerichtlichen Verfahren nur nach den vorstehend aufgeführten Vorschriften durchzuführen sind oder ob im Falle des unbekannten Aufenthalts des Prozeßbevollmächtigten auch eine Zustellung nach § 177 ZPO i. V. m. § 155 FGO zulässig ist. Nach dieser die Zustellungen auf Betreiben der Parteien betreffenden Vorschrift hat das Prozeßgericht auf Antrag die Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten, in Ermangelung eines solchen an den Gegner zu bewilligen, wenn der Aufenthalt eines Prozeßbevollmächtigten unbekannt ist. Selbst wenn diese Bestimmung im finanzgerichtlichen Verfahren anwendbar wäre (Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 7. Aufl., verneinen das unter Anm. 14 zu § 56; Köhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 1960, hält eine entsprechende Anwendung für möglich, § 67 Anm. V 2), würde eine wirksame Zustellung nach dieser Vorschrift im Streitfalle daran scheitern, daß der Aufenthalt der Prozeßbevollmächtigten nicht "unbekannt" i. S. dieser Vorschrift war. Zur Annahme dieses Tatbestandsmerkmals ist nämlich erforderlich, daß der Aufenthalt des Zustellungsgegners nicht nur der Partei, sondern allgemein unbekannt ist. Diese Auffassung wird nicht nur zu § 177 ZPO vertreten (vgl. Baumbach-Lauterbach-Albers-Hartmann, Zivilprozeßordnung, 35. Aufl., § 177 Anm. 2 i. V. m. § 203 Anm. 1), sondern auch zu § 15 VwZG, wonach bei unbekanntem Aufenthaltsort des Empfängers durch öffentliche Bekanntmachung zugestellt werden kann (vgl. Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 8. Aufl., § 15 VwZG Anm. 2, und die unter Anm. 1 abgedruckten Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Verwaltungszustellungsgesetz Nr. 19). Für eine Zustellung an den Vertretenen unter Ausschaltung des Vertreters genügt es deshalb nicht, daß an den Prozeßbevollmächtigten gerichtete Zustellungsschreiben wegen einer Änderung seiner Anschrift als unzustellbar zurückkommen. Vielmehr muß der Antragsteller bzw. bei entsprechender Anwendung des § 177 ZPO die Behörde alle Möglichkeiten einschließlich der Einholung einer polizeilichen Bescheinigung und Auskunft ausnutzen, um die Anschrift des Prozeßbevollmächtigten zu erfahren. Daran hat es die Geschäftsstelle im Streitfalle fehlen lassen. Die Zustellung an die Klägerin als die Vertretene unter Umgehung ihres Bevollmächtigten war deshalb unwirksam (vgl. Tipke-Kruse, a. a. O., § 62 Anm. 13 FGO).
Die Prozeßbevollmächtigten haben den Vorbescheid nachweislich am 27. August 1976 erhalten. Sie haben am 9. September 1976, also innerhalb der Monatsfrist des § 90 Abs. 3 Satz 2 FGO, mündliche Verhandlung beantragt. Bei dieser Sachlage kommt es nicht darauf an, ob die Zustellung eines Vorbescheids, was die Heilung von Zustellungsmängeln betrifft, unter § 9 Abs. 1 VwZG fällt oder ob wegen der mit der Zustellung beginnenden Monatsfrist des § 90 Abs. 3 Satz 2 FGO, § 9 Abs. 2 VwZG anzuwenden ist. Wäre § 9 Abs. 1 VwZG anwendbar, so hätte die Klägerin den Antrag innerhalb der mit der Heilung beginnenden Monatsfrist gestellt, wäre § 9 Abs. 2 VwZG anzuwenden, so hätte die Frist nicht zu laufen begonnen, so daß eine Fristversäumnis schon aus diesem Grunde nicht in Betracht käme (vgl. zu diesen Fragen den Beschluß des erkennenden Senats vom 3. Oktober 1972 VII B 152/70, BFHE 107, 163, BStBl II 1973, 84).
Auf den von der Klägerin gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand kommt es danach nicht an.
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Fundstellen
Haufe-Index 72398 |
BStBl II 1977, 665 |
BFHE 1978, 241 |