Leitsatz (amtlich)
In sinngemäßer Auslegung der Grundsätze des Urteils des Großen Senats Gr. S. 1/55 S vom 10. Februar 1958 (BStBl 1958 III S. 198, Slg. Bd. 66 S. 517) ist - insoweit in Abweichung von dem früheren Urteil des II. Senats II 63/54 U vom 6. Juli 1955 (BStBl 1955 III S. 274, Slg. Bd. 61 S. 198) - für die gerichtliche Anfechtbarkeit von Entscheidungen der Finanzverwaltungsbehörden, die den Erlaß einer im Verwaltungssteuerstrafverfahren erkannten Geldstrafe betreffen, eine Zuständigkeit der Steuergerichte (Finanzgericht und Bundesfinanzhof) zu verneinen. Die Entscheidung der Frage, ob, in welchem Umfang und unter welchen Voraussetzungen gegen einen Verwaltungsakt, der den Erlaß einer solchen Geldstrafe oder der Nebenstrafe der Veröffentlichung (§ 399 AO) ablehnt, ein gerichtliches Rechtsmittel auf Grund des Art. 19 Abs. 4 GG gegeben ist, muß danach den ordentlichen Gerichten (Strafgerichten) überlassen werden.
Normenkette
GG Art. 19 Abs. 4
Gründe
Auf Grund der Feststellungen bei einer Prüfung durch den Steuerfahndungsdienst wurde mit Verfügung des Finanzamts vom 3. November 1954 gegen den Beschwerdeführer (Bf.) gemäß § 441 Abs. 2 der Reichsabgabenordnung (AO) die Untersuchung wegen Umsatzsteuer-, Einkommensteuer- und Gewerbesteuerhinterziehung eingeleitet.
In einer (ersten) Unterwerfungsverhandlung vom 17. Mai 1955 wurden gegen den Bf. Geldstrafen von zusammen 20 000 DM festgesetzt. Entsprechend der Bitte des Bf. wurde davon abgesehen, in der Niederschrift über die Unterwerfungsverhandlung anzuordnen, daß die Bestrafung auf Kosten des Verurteilten bekanntzumachen ist (§ 399 AO). In dem Bericht, mit dem das Finanzamt die Unterwerfungsverhandlung der Oberfinanzdirektion zur Genehmigung vorlegte, begründete das Finanzamt das Absehen von der Nebenstrafe des § 399 AO unter anderem damit, daß durch die Veröffentlichung die Existenz des Beschuldigten (des Bf.) gefährdet werden könne. Die Oberfinanzdirektion lehnte die Genehmigung der Unterwerfungsverhandlung ab, weil sie die Bekanntmachung der Bestrafung gemäß § 399 AO für erforderlich hielt.
Nachdem eine weitere (zweite) Unterwerfungsverhandlung vom 25. August 1955 aus rechtlichen Gründen nicht die Zustimmung der Oberfinanzdirektion gefunden hatte, wurden in der (dritten) Unterwerfungsverhandlung vom 28. September 1955 gegen den Bf. wegen eines Vergehens der fortgesetzten Umsatzsteuerhinterziehung 1953 bis 30. Juni 1954 und wegen eines - in Tatmehrheit damit stehenden - Vergehens der fortgesetzten Einkommensteuerhinterziehung 1949 bis 1951 - insoweit in Tateinheit mit fortgesetzter Gewerbesteuerhinterziehung 1949 bis 1951 - auf Grund der §§ 396 AO, 73, 78 des Strafgesetzbuches Geldstrafen von 1500 und 18 000 DM, zusammen 19 500 DM, festgesetzt. Außerdem wurde in der von dem Bf. unterschriebenen Unterwerfungsverhandlung die Bekanntgabe der Bestrafung auf Kosten des Bf. nach § 399 AO angeordnet.
Die Oberfinanzdirektion hat die Unterwerfungsverhandlung vom 28. September 1955 durch Verfügung vom 7. Oktober 1955 genehmigt (§ 2 Abs. 2 und 4 der Verordnung über die Unterwerfung im Strafverfahren gemäß § 445 der Reichsabgabenordnung vom 1. November 1921, RGBl I S. 1328).
Mit einem auf dem Dienstwege an das Bayerische Staatsministerium der Finanzen gerichteten Schreiben vom 31. Oktober 1955 beantragte der Vertreter des Bf., die in der Unterwerfungsverhandlung vom 28. September 1955 ausgesprochene Veröffentlichung der Strafe im Gnadenwege zu erlassen. Die Oberfinanzdirektion reichte das Schreiben vom 31. Oktober 1955 an das Ministerium mit dem Vorschlage weiter, das Gnadengesuch abzulehnen.
Das Bayerische Staatministerium der Finanzen richtete an die Oberfinanzdirektion unter dem 21. Januar 1956 einen Bescheid folgenden Inhalts:
"Ich trete Ihrer Auffassung bei, daß wegen der Schwere der Taten die Nebenstrafe der Veröffentlichung (§ 399 AO) anzuordnen war. Dem Antrag auf gnadenweisen Erlaß (§ 477 AO) der Nebenstrafe kann nicht entsprochen werden."
Auf Veranlassung der Oberfinanzdirektion gab das Finanzamt dem Bf. Kenntnis von dem Inhalt dieser Entschließung des Ministeriums. Der Bf. legte gegen die ablehnende Entscheidung des Bayerischen Staaatsministeriums der Finanzen durch Schreiben vom 3. Februar 1956, beim Finanzamt eingegangen am gleichen Tag, Berufung an das Finanzgericht ein. Zur Begründung der Berufung machte er geltend, daß die Ablehnung des Erlasses der Nebenstrafe (§ 399 AO) wegen Ermessensmißbrauchs eine Rechtsverletzung darstelle.
Das Finanzgericht erklärte unbeschadet erörterter Bedenken gegen die Zulässigkeit des Rechtsmittels und die Zuständigkeit der Steuergerichte die Berufung für zulässig, wies sie aber als unbegründet zurück....
Entsprechend der in dem Urteil des Finanzgerichts erteilten Rechtsmittelbelehrung hat der Bf. gegen das Urteil fristgemäß Rechtsbeschwerde eingelegt
Die Prüfung der Rechtsbeschwerde, deren Bearbeitung wegen der Anrufung des Großen Senats des Bundesfinanzhofs in der Frage der Zuständigkeit der Steuergerichte in Strafsachen zurückgestellt war, ergibt folgendes:
Der erkennende Senat hat in dem Urteil II 63/54 U vom 6. Juli 1955 (BStBl 1955 III S. 274, Slg. Bd. 61 S. 198) ausgesprochen, daß gegen Entscheidungen über Anträge auf Erlaß einer im Verwaltungsstrafverfahren erkannten Geldstrafe bei behaupteter Ermessenverletzung der erweiterte Rechtsweg nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) vor den Steuergerichten (Finanzgericht und Bundesfinanzhof) gegeben ist. Die Entscheidung des II. Senats entsprach im wesentlichen dem vorangegangenen Urteil des IV. Senats IV 187/52 U vom 21. August 1952 (BStBl 1952 III S. 306, Slg. Bd. 56 S. 797), das den steuergerichtlichen Rechtsweg in einem Verfahren nach § 477 AO gegen eine einen Gnadenerweis ablehnende Entscheidung eines Finanzministeriums auf Grund des Art. 19 Abs. 4 GG für zulässig erklärte.
Im Urteil II 63/54 U wurde ausdrücklich erwähnt, daß im gerichtlichen Gnadenverfahren entsprechend der wohl überwiegenden Meinung der Rechtsweg unzulässig sei. Gleichwohl erklärte der erkennende Senat die Zulassung des Rechtsweges beim Verfahren über Anträge nach § 477 AO auf Erlaß der im steuerlichen Verwaltungsstrafverfahren erkannten Geldstrafen für begründet. Dabei verwies das Urteil II 63/54 U unter anderem auf die allgemein anerkannte Zulässigkeit der Anfechtbarkeit von letztinstanzlichen Verwaltungsbeschwerdeentscheidungen nach Art. 19 Abs. 4 GG, die im Steuern betreffenden Billigkeitsverfahren nach § 131 AO ergehen. Es erscheine mit folgerichtiger Rechtsauffassung unvereinbar, beim Verfahren nach § 131 AO den Rechtsweg zuzulassen, jedoch beim Verfahren über den Erlaß der Strafe nach § 477 AO, die unter Umständen den Steuerpflichtigen viel härter als die Steuer selbst treffe, die richterliche Nachprüfung auszuschließen. § 477 AO bilde für das Verwaltungsstrafverfahren die Vorschrift, die § 131 AO für das Steuerverfahren darstelle. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Begründung des genannten Urteils verwiesen. (Vgl. dazu auch den Bericht des 11. Ausschusses der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung - Drucksache Nr. 1460 der Nationalversammlung S. 50, 144 -, wo es zu der Vorschrift des dem heutigen § 477 AO entsprechenden § 440 des damaligen, vom Ausschuß beschlossenen Entwurfs der Reichsabgabenordnung, des späteren gleichlautenden § 443 AO 1919 heißt: "§ 440 stellt den bisherigen Zustand dar; die Begnadigung bezieht sich auf gerichtliche Erkenntnisse.")
Das Urteil II 63/54 U hat - wie schon das vorangegangene Urteil IV 187/52 U - im Schrifttum teils eine zustimmende, teils eine kritische Beurteilung erfahren. In dem ablehnenden Schrifttum wird vor allem .... geltend gemacht, daß es ein Recht auf Gnade nicht gebe und daß deshalb eine einen Gnadenerweis ablehnende Entscheidung nicht auf Grund des Art. 19 Abs. 4 GG angefochten werden könne, der voraussetze, daß jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt werde.
Eine nähere Erörterung der unterschiedlichen Beurteilungen erübrigt sich für den erkennenden Senat, da es sich bei den Fragen, ob eine im Verwaltungssteuerstrafverfahren erkannte Geldstrafe oder die Nebenstrafe der Veröffentlichung (§ 399 AO) zu erlassen ist und ob gegen den einen Erlaß ablehnenden Verwaltungsakt ein Rechtsweg auf Grund des Art. 19 Abs. 4 GG gegeben ist, um Entscheidungen auf dem Gebiete des Strafrechts und Strafverfahrensrechts handelt. Der strafrechtliche Inhalt der Maßnahme wird nicht durch die Frage berührt, ob und inwieweit nach wie vor - entsprechend der Bezugnahme in dem Bescheid des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen vom 21. Januar 1956 - § 477 AO die Rechtsgrundlage für die Niederschlagung einer Strafe im Erlaßwege bilden könnte, der nach der AO zu den Vorschriften über das Strafverfahren gehört, oder ob es sich bei dem gnadenweisen Erlaß einer Strafe und der Ablehnung einer solchen Maßnahme ausschließlich um die Ausübung des dem genannten Ministerium durch Entschließung des Bayerischen Ministerpräsidenten vom 6, März 1952 (Bayerischer Staatsanzeiger, 7. Jahrgang, Nr. 11 vom 15. März 1952) zur Ausübung übertragenen Begnadigungsrechtes aus Art. 47 Abs. 4 Satz 1 der Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. Dezember 1946 (Gesetz- und Verordnungsblatt 1946 S. 333) handelt.
Für die gerichtliche Zuständigkeit in Strafsachen ist folgendes zu berücksichtigen:
In Abweichung von dem Urteil des erkennenden Senats II 97/53 S vom 7. April 1954 (BStBl 1954 III S. 165, Slg. Bd. 58 S. 664) hat der Große Senat des Bundesfinanzhofs durch Urteil Gr. S. 1/55 S vom 10. Februar 1958 (BStBl 1958 III S. 198, Slg. Bd. 66 S. 517) entschieden, daß Beschwerdeentscheidungen der Oberfinanzdirektionen im Verwaltungsstrafverfahren (§§ 450, 452 AO) nicht der Nachprüfung durch die Steuergerichte unterliegen. Der Große Senat hat weiter ausgesprochen, daß demgemäß die Entscheidung der Frage, ob und in welchem Umfang Art. 19 Abs. 4 GG einem Beschuldigten ein gerichtliches Nachprüfungsrecht gegenüber einem Beschwerdebescheid im Sinne des § 452 AO gewährt, den ordentlichen Gerichten (Strafgerichten) überlassen bleiben muß. In diesem Urteil, auf dessen Begründung insoweit im wesentlichen Bezug genommen wird, hat der Große Senat außerdem darauf hingewiesen, daß auch die Möglichkeit einer Nachprüfung von Beschwerdeentscheidungen der Oberfinanzdirektionen nach § 453 AO durch die Steuergerichte nach seiner Auffassung entfällt. Wenn auch der Große Senat in dem angeführten Urteil dies ausdrücklich nur für die gerichtliche Anfechtbarkeit von Beschwerdeentscheidungen der Oberfinanzdirektionen im Sinne der §§ 452, 453 AO ausgesprochen hat, so ergeben die Urteilsgründe gleichwohl eindeutig, daß in Strafsachen schlechthin eine Zuständigkeit der Steuergerichte verneint werden sollte. Es entspricht daher sinngemäßer Auslegung des Urteils des Großen Senats, auch in der anhängigen Streitsache die Entscheidung der Frage, ob und inwieweit gegen einen Verwaltungsakt, der den Erlaß einer im Verwaltungssteuerstrafverfahren erkannten Nebenstrafe ablehnt, ein gerichtliches Rechtsmittel nach Art. 19 Abs. 4 GG gegeben ist, dem ordentlichen Gericht (Strafgericht) zu überlassen.
Der Große Senat hat die bei ihm anhängig gewesene Streitsache an das in Betracht kommende ordentliche Gericht (Strafgericht) gemäß § 81 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht verwiesen, insbesondere um der beteiligten Beschwerdeführerin die Wirkungen der Rechtshängigkeit zu erhalten (§ 81 Satz 2 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht).
Im Hinblick auf diese Entscheidung des Großen Senats verweist der erkennende Senat die bei ihm anhängige, insoweit verfahrensmäßig ähnlich liegende Streitsache nach § 81 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht an das Amtsgericht X, das nach § 476a Abs. 1 AO in der Fassung des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Dritten Teils der Reichsabgabenordnung vom 11. Mai 1956 (Bundesgesetzblatt 1956 I S. 418) zuständig ist. Dabei war wegen der Verweisung auch das Urteil des Finanzgerichts .... aufzuheben (vgl. dazu auch Urteil des Bundesgerichtshofs V ZR 48/53 vom 18. Februar 1955, Neue Juristische Wochenschrift 1955 S. 502 ff., besonders den letzten Satz der Begründung).
Die Entscheidung über die Feststellung des Streitwertes und die Kosten des bisher bei den Steuergerichten anhängigen Rechtsstreits wird dem Amtsgericht X überlassen (übrigens hinsichtlich der Kosten in Übereinstimmung mit der Übung des Bundesverwaltungsgerichts in Verweisungsfällen - vgl. dazu die Ausführungen des am Bundesverwaltungsgericht tätigen Bundesrichters Dr. Hanswerner Müller in Juristische Rundschau 1956 S. 48, 49, besonders Anmerkung 19 mit Zitaten der Rechtsprechung -).
Der erkennende Senat hält es jedoch für geboten, die Rechtsmittelgebühren für das Verfahren vor dem Finanzgericht und vor dem Bundesfinanzhof sowie die diesen Gerichten erwachsenen Auslagen gemäß § 319 Abs. 1 AO zu erlassen.
Fundstellen
Haufe-Index 409263 |
BStBl III 1959, 254 |
BFHE 1959, 670 |