Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Anwendung von § 4 Abs. 2 Satz 2 MGVO
Leitsatz (NV)
§ 4 Abs. 2 Satz 2 MGVO ist auch dann anzuwenden, wenn die Anlieferungsmenge Milch in den Jahren vor 1983 infolge eines Härtefalls niedriger als üblich war. Der nationale Gesetzgeber hat keine Regelung getroffen, wonach in diesem Fall ein Härtefall berücksichtigt werden könnte.
Normenkette
EWGV 857/84 Art. 3 Nr. 3; EWGV 1371/84 Art. 2; MGVO § 4 Abs. 2 S. 2
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) - ein Milcherzeuger - begehrt die Neufestsetzung der ihm vom Käufer auf der Grundlage des Referenzjahres 1983 zugeteilten Anlieferungsreferenzmenge Milch (ARM) von . . . kg auf . . . kg. Bei seiner Berechnung kürzte der Käufer die im Kalenderjahr 1983 vom Kläger angelieferte Milchmenge von . . . kg um den Basiskürzungssatz von 4 v. H. nach § 4 Abs. 2 Satz 1 der Milch-Garantiemengen-Verordnung (MGVO) und darüber hinaus um den Steigerungsabzug von 4,9 v. H. nach § 4 Abs. 2 Satz 2 MGVO, weil der Kläger im Kalenderjahr 1983 eine höhere Milchmenge als im Vergleichsjahr 1981 angeliefert hatte.
Die zuständige Landesstelle bescheinigte dem Kläger entsprechend § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 MGVO, daß die Milcherzeugung in seinem Betrieb in den Jahren 1981 und 1982 durch ein außergewöhnliches Ereignis i. S. des Art. 3 Nr. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 857/84 (VO Nr. 857/84) des Rates vom 31. März 1984 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften - ABlEG - 1984 L 90/13), nämlich eine Viehseuche, betroffen war.
Der Kläger beantragte beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Hauptzollamt - HZA -) eine neue Berechnung der ARM, und zwar ohne Berücksichtigung des Steigerungsabzuges von 4,9 v. H.; diesen Antrag lehnte das HZA ab.
Einspruch und Klage des Klägers blieben erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) hatte dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) gemäß Art. 177 Abs. 1 und 2 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob die bestehenden gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften eine Auslegung dahingehend zulassen, daß dann, wenn die Milcherzeugung im Kalenderjahr 1981 von einem außergewöhnlichen Ereignis betroffen war, beim Steigerungsabzug nicht die tatsächlich erzeugte Milchmenge im Jahre 1981 zugrunde gelegt wird, sondern eine fiktive Menge, die der Erzeuger erzielt hätte, wenn das Ereignis nicht eingetreten wäre.
Der EuGH hat mit Urteil vom 27. Juni 1990 Rs. C-67/89 (EuGHE 1990 I-2615) wie folgt entschieden:
,,Die in Art. 3 Nr. 3 der VO Nr. 857/84 des Rates vom 31. 03. 1984 in Verbindung mit Art. 3 der VO Nr. 1371/84 der Kommission vom 16. 05. 1984 getroffene Regelung erfaßt nicht die Lage der Erzeuger, die in einem anderen Jahr als dem Referenzjahr von einem außergewöhnlichen Ereignis betroffen wurden. Nach Art. 2 Abs. 2 der VO Nr. 857/84 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 1371/84 kann jedoch, wenn ein Mitgliedstaat das Jahr 1983 als Referenzjahr gewählt und von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, den Prozentsatz zur Bestimmung der Referenzmenge nach der Entwicklung der Lieferungen der Erzeuger zwischen 1981 und 1983 anzupassen, zum Zwecke dieser Anpassung die Lage der Gruppe der Erzeuger berücksichtigt werden, deren Milcherzeugung im Jahr 1981 oder 1982 von einem außergewöhnlichen Ereignis betroffen wurde."
Er hat ferner ausgeführt, es sei Sache des nationalen Gerichts zu prüfen, ob und ggf. inwieweit die nationale Rechtsordnung ihm die Möglichkeit einräumt, eine Lage wie die des Klägers zu berücksichtigen, wenn hierzu ausdrückliche Bestimmungen des nationalen Rechts fehlen.
Das FG kam zu dem Ergebnis, daß der nationale Verordnungsgeber keinen Gebrauch von der Möglichkeit gemacht hat, auch bezüglich des Steigerungsabzugs einen besonderen Härtefall wie den in Art. 3 Nr. 3 VO Nr. 857/84 genannten zu berücksichtigen, und daß es dem nationalen deutschen Gericht verwehrt sei, hier rechtsgestaltend im Sinne des Begehrens des Klägers tätig zu werden. Insofern würde keine zulässige Rechtsfindung oder Rechtsfortbildung praeter legem, sondern eine unzulässige Rechtsschöpfung contra legem vorliegen. Im übrigen sei Deutschland nicht verpflichtet, von einer solchen Möglichkeit Gebrauch zu machen.
Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung der Art. 3 Nr. 3 VO Nr. 857/84, Art. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1371/84 (VO Nr. 1371/84) der Kommission vom 16. Mai 1984 (ABlEG 1984 L 132/11) und von § 4 Abs. 2 Satz 2 MGVO und wehrt sich gegen die Berücksichtigung des Steigerungsabzuges von 4,9 v. H. Unstreitig sei sein Milchviehbestand in den Kalenderjahren 1981 und 1982 durch ein außergewöhnliches Ereignis i. S. von Art. 3 Nr. 3 VO Nr. 857/84 betroffen gewesen, so daß die Anwendung von § 4 Abs. 2 Satz 2 MGVO zu einem ,,irregulären" Ergebnis führe. Die Milcherzeugung im Betrieb des Klägers sei 1983 nur um 6,5 v. H. höher gewesen als diejenige im Jahre 1980 - beides Jahre, in denen ,,regulär" produziert wurde -, und zwar jeweils mit dem zahlenmäßig gleichen Bestand von Milchkühen.
Der Kläger bezieht sich für seine Auffassung auf das Urteil des erkennenden Senats vom 27. Januar 1987 VII R 86/86 (BFHE 148, 564), wonach ein Milcherzeuger, der von einem Härtefall des Art. 3 Nr. 3 VO Nr. 857/84 betroffen ist, bei der Feststellung der Referenzmenge so gestellt werden muß, als ob der Härtefall nicht eingetreten wäre. Der deutsche Verordnungsgeber habe zwar in § 6 MGVO besondere Fälle berücksichtigt, in denen Ausnahmen von § 4 MGVO vorgesehen seien, wenn die besondere Situation zu untragbaren Nachteilen für den Milcherzeuger geführt hätte. Er habe jedoch vergessen, den hier vorliegenden Sachverhalt in seinem Ausnahmekatalog aufzunehmen. Die Rechtsprechung sei deshalb befugt und verpflichtet, durch richterliche Rechtsfortbildung solche Lücken auszufüllen, die von dem Raster des Verordnungsgebers nicht erfaßt seien.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Das FG hat rechtsfehlerfrei erkannt, daß das HZA die ARM unter Berücksichtigung des Steigerungsabzugs von 4,9 v. H. gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 MGVO zutreffend in Höhe von . . . kg festgesetzt hat.
Wie der EuGH in seiner in diesem Verfahren eingeholten Vorabentscheidung vom 27. Juni 1990 Rs. C-67/89 (a. a. O.) erkannt hat, läuft es zwar in einem Fall wie dem vorliegenden dem Gemeinschaftsrecht nicht zuwider, wenn die besondere Lage des Klägers bei der Festsetzung des Steigerungsabzugs berücksichtigt würde; die Regelung dieser Frage bleibt aber der Gestaltung der nationalen Rechtsordnung überlassen. Diese kann - muß aber nicht - so gestaltet werden, daß sie die Berücksichtigung von Umständen, wie sie im Falle des Klägers vorliegen, bei Festsetzung der ARM vorsieht. Mit dem FG ist davon auszugehen, daß die MGVO die Härtefälle abschließend nennt, in denen besondere Situationen bei Festsetzung der ARM zu berücksichtigen sind. Umstände, wie sie beim Kläger vorliegen, wurden dabei nicht in Betracht gezogen.
Der Verordnungsgeber hat insoweit auch nicht unbewußt eine Regelungslücke gelassen, die von der Rechtsprechung im Wege ,,schöpferischer Rechtsfindung" auszufüllen wäre (vgl. Senatsurteil in BFHE 148, 564, 567). Vielmehr ergibt sich aus dem Umstand, daß zwar Art. 3 Nr. 3 VO Nr. 857/84 die Möglichkeit zur Berücksichtigung des Befalls mit Viehseuchen als besonderen Härtefall eingeräumt hat, die zur Durchführung dieser Verordnung erlassene nationale MGVO diesen Härtefall im Zusammenhang mit der Berechnung des Steigerungsabzugs aber nicht erwähnt, daß der Verordnungsgeber diesen Umstand insoweit nicht berücksichtigt wissen wollte. Dies wird auch durch die Erklärung des Vertreters der Bundesregierung in dem Verfahren bestätigt, das in derselben Rechtssache vor dem EuGH stattgefunden hat. Dort hat nämlich der Vertreter der Bundesregierung darauf hingewiesen, daß Art. 3 Nr. 3 VO Nr. 857/84 in keinem Zusammenhang mit der Berechnung des Steigerungsabzuges nach § 4 Abs. 2 Satz 2 MGVO stehe (EuGHE 1990 I-2615, 2622).
Der Kläger beruft sich im übrigen zu Unrecht auf das Urteil des erkennenden Senats in BFHE 148, 564, an dem der Senat allerdings nicht mehr festhält (Urteil vom 28. August 1990 VII R 42/89, BFHE 162, 153). Der Streitfall ist - jedoch unabhängig davon - mit dem in dem genannten Urteil entschiedenen Fall nicht zu vergleichen. In diesem Fall ging es darum, ein anderes Referenzjahr (1981) als das übliche (1982) zu bestimmen und - außerdem - zu klären, ob für das Referenzjahr 1981 auch der in § 4 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 MGVO vorgesehene Kürzungsbetrag zu berücksichtigen ist. Im vorliegenden Fall ist dagegen das zugrunde zu legende Referenzjahr unstreitig, und es geht lediglich um die Anwendung von § 4 Abs. 2 Satz 2 MGVO.
Fundstellen
Haufe-Index 418185 |
BFH/NV 1992, 780 |