Leitsatz (amtlich)
§ 145 Abs. 2 Nr. 4 AO schiebt den Beginn der Verjährung nur auf, wenn die Steuer deswegen vorläufig festgesetzt wurde, weil objektiv noch nicht endgültig alle Voraussetzungen für die Entstehung der Steuer erfüllt waren.
Normenkette
AO § 145 Abs. 2 Nr. 4
Tatbestand
Auf Antrag der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) fertigte der Beklagte und Revisionskläger (das Hauptzollamt – HZA –) bzw. ein diesem unterstehendes Zollamt (ZA) im September 1971 Tischrechner aus den USA zum freien Verkehr ab. Die Abfertigungen erfolgten hinsichtlich der Feststellung des Zollwertes vorläufig. Mit Schreiben vom 20. Oktober 1971 teilte die Verwaltung der Klägerin mit, daß Ermittlungen zur Überprüfung des Zollwerts eingeleitet worden seien. Unter Einschaltung der Oberfinanzdirektion (OFD) wurde die Zollwertgruppe der Bundeszollverwaltung um Übernahme der weiteren Ermittlungen ersucht Diese empfahl in ihrer gutachtlichen Stellungnahme vom 21. Dezember 1971, die um einen Zuschlag von 4 v. H. berichtigten Rechnungspreise der Zollwertbemessung zugrunde zu legen. Die Zollwertgruppe übersandte das Gutachten der OFD. Von dort erhielt das HZA die Stellungnahme am 4. Januar 1972. Mit endgültigen Steueränderungsbescheiden vom 12. Januar, 18. Februar und 2. März 1972 forderte die Verwaltung den Zoll gemäß der Stellungnahme der Zollwertgruppe nach.
Am 3. September 1973 begannen Beamte der Betriebsprüfungsstelle der Zollwertgruppe aufgrund einer Prüfungsanordnung eines HZA bei der Klägerin mit einer weiteren Wertzollprüfung, die sich auf die Einfuhren ab September 1971 erstreckte. Da die Klägerin mit der im Prüfungsbericht vom 27. September 1973 vorgeschlagenen Bewertung der in den vorliegenden Fällen eingeführten Waren nicht einverstanden war, führte erst eine erneute Prüfung durch die Zollwertgruppe im Jahre 1974 zu einer endgültigen Festsetzung des Zollwerts. Die Verwaltung forderte nunmehr mit Steueränderungsbescheiden vom 9, 12. und 26. August 1974 den Zollbetrag nach, der auf die Tischrechner entfiel. Gegen diese Bescheide legte die Klägerin Einsprüche ein, die das HZA mit Bescheiden vom 2. und 3. Januar 1975 als unbegründet zurückwies.
Mit ihren Klagen beantragte die Klägerin, die Steueränderungsbescheide vom 9, 12. und 26. August 1974 in Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 2. und 3. Januar 1975 aufzuheben.
Die Klagen hatten Erfolg. Zur Begründung der Urteile führte das Finanzgericht (FG) aus:
Der Abgabenanspruch sei verjährt und damit erloschen (§ 148 der Reichsabgabenordnung – AO –). Die Bescheide seien von der Verwaltung nach § 100 Abs. 1 Satz 2 AO für vorläufig erklärt worden. Das FG teile jedoch nicht die Auffassung, daß die Verjährungsfrist erst mit Ablauf des Jahres 1972 neu zu laufen begonnen habe, weil die Ungewißheit i. S. des § 145 Abs. 2 Nr. 4 AO erst im Januar 1972 als beseitigt anzusehen sei.
Zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen die Ungewißheit beseitigt sei, würden in der Literatur unterschiedliche Meinungen vertreten. Das FG sei der Auffassung, daß es grundsätzlich auf die Kenntnis des HZA ankomme; auf seine Unkenntnis könne sich das HZA jedoch dann nicht berufen, wenn es den Sachverhalt hätte kennen müssen. So liege der Fall hier.
Entscheidungsgründe
Die Revisionen sind nicht begründet.
Das FG hat festgestellt, daß die abfertigenden Zollstellen die Eingangsabgaben nach § 100 Abs. 1 Satz 2 AO vorläufig festgesetzt haben. Nach dieser Bestimmung sind die Zollstellen zum Erlaß eines vorläufigen Steuerbescheides befugt, wenn aus besonderen Gründen der Wert eines Gegenstandes nicht sofort ermittelt werden kann. Mit Bekanntgabe dieser Bescheide ist jeweils die Zollschuld entstanden (§ 36 Abs. 3 des Zollgesetzes – ZG –). Damit hat die Verjährung des Abgabenanspruches nach § 145 Abs. 1 AO begonnen. Der Beginn dieser Verjährung ist nicht durch § 145 Abs. 2 Nr. 4 AO aufgeschoben worden.
Nach § 145 Abs. 2 Nr. 4 AO beginnt die Verjährung in den Fällen, in denen die Steuerfestsetzung wegen befristeter, bedingter oder sonst Ungewisser Verhältnisse ausgesetzt ist oder das FA die Steuer vorläufig festgesetzt hat, mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Ungewißheit beseitigt worden ist; dies gilt nicht für die Fälle des § 100 Abs. 2 und 3 AO. Diese Vorschrift ist dahin auszulegen, daß sie den Beginn der Verjährung nur in den Fällen der sog. objektiven Ungewißheit hinausschiebt, d. h. in den Fällen, in denen die Steuer deswegen vorläufig festgesetzt worden ist, weil objektiv noch nicht endgültig alle Voraussetzungen des Steuerentstehungstatbestandes erfüllt sind (vgl. Koch, die Neuregelung der Verjährung im Steuerrecht, Deutsche Steuer-Zeitung, Ausgabe A 1965 S. 353, 356 – DStZ A 1965, 353, 356 –; Becker/Riewald/Koch, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 9. Aufl., Bd. IV 1966, § 145 AO Anm. 2 Abs. 5; Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 7. Aufl., § 145 AO Anm. 6 Abs. 4; Stier, Wann beginnt die Verjährungsfrist bei Ungewißheit?, Deutsches Steuerrecht 1966 S. 364 – DStR 1966, 364 –; anderer Auffassung Loose, Die Neufassung der Verjährungsvorschriften, Betriebs-Berater 1965 S. 1064 – BB 1965, 1064 –; Speich, Die Unterbrechung und Hemmung der Verjährung nach dem AO-Änderungsgesetz, Steuerwarte 1966 S. 67, 69 – StW 1966, 67, 69 –; wohl auch – wenn auch widersprüchlich – Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 1. bis 6. Aufl., § 145 AO Anm. 7). § 145 Abs. 2 Nr. 4 AO gilt dagegen nicht für Fälle der sog. subjektiven Ungewißheit, d. h. für Fälle, in denen die Voraussetzungen für die Entstehung der Steuerschuld zwar bereits voll erfüllt sind, die Zollstelle aber noch nicht die Einzelheiten kennt und diese erst noch aufklären will. Um Fälle der subjektiven Ungewißheit handelt es sich hier. Die Zollschuld ist jeweils in der gesetzlich vorgesehenen Höhe durch Erlaß des Steuerbescheides nach § 36 Abs. 3 ZG entstanden. Die abfertigende Zollstelle konnte die Höhe des Zollwerts jedoch nicht sofort ermitteln, war sich also subjektiv ungewiß über die Höhe des Zollwerts.
Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist (vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichts – BVerfG – vom 21. Mai 1952 2 BvH 2/52, BVerfGE 1, 299, 312). Der Wortlaut des § 145 Abs. 2 Nr. 4 ist nicht eindeutig. Der Sinn der Vorschrift erschließt sich erst, wenn der Zusammenhang berücksichtigt wird, in dem die Vorschrift steht.
§ 145 AO regelt nach seiner Überschrift den Beginn der Verjährung. Seine grundsätzliche Bestimmung ergibt sich aus Absatz 1. Danach beginnt die Verjährung mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entstanden ist. Absatz 2 bestimmt für einige besonders gelagerte Fälle, daß die Verjährung abweichend von Absatz 1 später beginnt, da andernfalls der Verwaltung u. U. zu wenig Zeit für ein Tätigwerden bliebe. Dabei handelt es sich bei den Nrn. 1 bis 3 und 5 (ausgenommen Nr. 2 a) jeweils um Tatbestände, in denen das Aufschieben des Beginns der Verjährung ebenso wie in Absatz 1 (Erfüllung des Steuertatbestandes) an die Erfüllung ganz bestimmter objektiver Merkmale geknüpft ist (Nr. 1: Abgabe der Steuererklärung; Nr. 2 b: Tod des Schenkers; Nr. 2 c: Erfüllung der Verpflichtung; Nr. 3: Fälligkeit des Wechsels; Nr. 5: Leistung der Erstattung oder Vergütung). Lediglich im Fall Nr. 2 a wird auf ein subjektives Moment abgestellt, nämlich auf den Zeitpunkt der Kenntniserlangung durch den Erwerber. Aber auch diese Bestimmung weist wenigstens insoweit Parallelen zu den genannten anderen Vorschriften auf, als ein Umstand für maßgebend erklärt wird, der außerhalb des Bereichs der Verwaltung liegt, von dieser also nicht beeinflußt werden kann.
In diesem Zusammenhang paßt die Nr. 4 jedenfalls insoweit, als sie Fälle regelt, in denen die Steuerfestsetzung „wegen befristeter, bedingter oder sonst Ungewisser Verhältnisse” ausgesetzt ist. Auch hier sind es objektive, der Einwirkung durch die Verwaltung entzogene Tatbestandsmerkmale, von denen der einstweilige Nichtbeginn der Verjährung abhängt. Das ist ganz zweifelsfrei hinsichtlich der befristeten und bedingten Verhältnisse. Es gilt aber auch für die Worte „sonst Ungewisser Verhältnisse”, die sich nur auf die Existenz von Tatsachen beziehen, die geeignet sind, für die Steuerpflicht relevante Tatbestandsmerkmale zu erfüllen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 25. März 1969 II R 5/66, BFHE 95, 422, 424 ff., BStBl II 1969, 445, 446).
§ 145 Abs. 2 Nr. 4 AO betrifft darüber hinaus auch Fälle, „in denen das FA die Steuer vorläufig festgesetzt hat”. Dabei kann es sich nur um vorläufige Steuerfestsetzungen nach § 100 Abs. 1 AO handeln, da nach dem zweiten Halbsatz der Nr. 4 die Fälle des § 100 Abs. 2 und 3 AO von der Regelung ausgeschlossen sind. Unter § 100 Abs. 1 AO fallen grundsätzlich auch und sogar in erster Linie solche der subjektiven Ungewißheit im oben definierten Sinn (vgl. Becker/Riewald/Koch, a. a. O.). Nach dem geschilderten systematischen Zusammenhang, in den die Bestimmung der Nr. 4 hineingestellt ist, müssen aber die Worte „der das FA die Steuer vorläufig festgesetzt hat” einschränkend dahin ausgelegt werden, daß sie nur Bescheide betreffen, die nach § 100 Abs. 1 AO allein aus Gründen der objektiven Ungwißheit vorläufig erlassen wurden. Denn es erscheint ausgeschlossen, daß der Gesetzgeber in Abweichung von allen anderen Regelungen des § 145 AO Abs. 2 in der Nr. 4 den Nichtbeginn der Verjährung auch in Fällen des subjektiven, erst durch Ermittlungen zu beseitigenden Nichtwissens der Verwaltung vorsehen, insoweit also der Verwaltung gewissermaßen die Disposition über den Beginn der Verjährungsfrist überlassen wollte. Das gilt um so mehr, als der Gesetzgeber den Einfluß von Ermittlungshandlungen des FA auf den Lauf der Verjährungsfrist systematisch an anderer Stelle und in anderer Weise geregelt hat (§§ 146 a Abs. 3, 147 Abs. 1 AO).
Für die Richtigkeit dieser Auslegung spricht auch die Entstehungsgeschichte der Bestimmung. Zwar kommt dieser nur insoweit Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den genannten Grundsätzen gewonnenen Auslegung bestätigt (BVerfGE 1, 299, 312). So liegt es aber hier. Die Bestimmung wurde 1965 in die Reichsabgabenordnung eingefügt. Sie übernahm die bisherige Regelung des § 225 Satz 3 zweiter Halbsatz AO aus systematischen Gründen in die Verjährungsvorschriften. Nach der Begründung der Bundesregierung zu dem entsprechenden Gesetzesentwurf (vgl. Bundesrats-Drucksache 192/64 S. 12) – der vom Gesetzgeber insoweit unverändert beschlossen wurde – sollte dabei zu verschiedentlich in der Praxis aufgetretenen Zweifeln klargestellt werden, „daß der Beginn der Verjährung in den Fällen des § 100 Abs. 2 und 3 AO nicht durch die vorläufige Festsetzung der Steuer hinausgeschoben wird, da keine Ungewißheit im Sinn des § 225 Satz 1 AO besteht”. Der Ausschluß der Fälle des § 100 Abs. 2 und 3 AO beruht danach auf der zuerst von Riewald vertretenen Auffassung (Reichsabgabenordnung, Kommentar, 1951, § 225 Anm. 3), daß nur bei Vorliegen einer objektiven Ungewißheit im oben definierten Sinn der Verjährungsablauf nach § 225 Satz 3 AO a. F. gehemmt ist, da es sonst sein könnte, daß das FA den Steuerfall aus den Augen verliert und gleichwohl die Verjährung nicht zu laufen beginnt, obwohl die Verhältnisse aufgeklärt werden könnten (vgl. auch Kohlrust, Zur vorläufigen Steuerfestsetzung nach § 100 Abs. 2 AO, DStZ A 1962, 253, 255 f.; Speich, Verjährung nach der vorläufigen Steuerfestsetzung nach § 100 AO, Finanz-Rundschau 1964 S. 148 – FR 1964, 148 –). Da das der Grund für den Ausschluß der Fälle des § 100 Abs. 2 und 3 AO ist, ist es folgerichtig anzunehmen, daß der Gesetzgeber auch jene Fälle vom Anwendungsbereich des § 145 Abs. 2 Nr. 4 AO ausnehmen wollte, in denen die vorläufige Festsetzung zwar nach § 100 Abs. 1 AO erfolgte, der Grund dafür aber wie in den Fällen des § 100 Abs. 2 und 3 AO in der subjektiven Ungewißheit der Verwaltung lag. Denn es ist kein Grund ersichtlich, die Fälle der subjektiven Ungewißheit hinsichtlich des Beginns der Verjährung unterschiedlich zu behandeln, je nachdem, ob die vorläufige Steuerfestsetzung auf Absatz 1 oder auf den Absätzen 2 und 3 des § 100 AO beruht.
Fundstellen
Haufe-Index 510594 |
BFHE 1980, 530 |