Entscheidungsstichwort (Thema)
Maßstab bei Überprüfung eines Bescheids über Hinterziehungszinsen - Schuldner der Hinterziehungszinsen beim Abzugsverfahren - Bedingter Vorsatz bei der Steuerhinterziehung - Grundsatz "in dubio pro reo" im finanzgerichtlichen Verfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Hängt die Rechtmäßigkeit eines Zinsbescheids davon ab, daß Steuern hinterzogen worden sind, so müssen zur Bejahung der Rechtmäßigkeit des Bescheids die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale einer Steuerhinterziehung vorliegen. Es ist nicht erforderlich, daß das FG den Straftäter ausfindig macht; unter Umständen reicht es aus, daß das FG aufgrund seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu dem Ergebnis gelangt, daß von mehreren in Betracht kommenden Personen jedenfalls eine die Steuerhinterziehung zum Vorteil des Zinsschuldners begangen hat.
2. Der leistende Unternehmer, zu dessen Vorteil Umsatzsteuer hinterzogen wurde, schuldet auch dann die Hinterziehungszinsen, wenn der Leistungsempfänger eine sich aus § 51 UStDV 1980 ergebende Verpflichtung, die ihm in Rechnung gestellte Umsatzsteuer einzubehalten und an die Finanzverwaltung abzuführen, nicht erfüllt hat.
Orientierungssatz
1. Eine Steuerhinterziehung muß vorsätzlich begangen werden. Vorsätzlich handelt auch, wer es für möglich hält, daß er den Tatbestand verwirklicht oder das billigt oder doch in Kauf nimmt (bedingter Vorsatz, vgl. BFH-Urteil vom 31.7.1996 XI R 74/95).
2. Obwohl auch im finanzgerichtlichen Verfahren der strafverfahrensrechtliche Grundsatz "in dubio pro reo" zu beachten ist, ist das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale einer Steuerhinterziehung nicht nach der Strafprozeßordnung, sondern nach den Vorschriften der Abgabenordnung und der Finanzgerichtsordnung zu prüfen. Für die Feststellung der Steuerhinterziehung, die nach § 76 Abs. 1 Sätze 1 und 5 FGO von Amts wegen zu treffen ist, ist kein höherer Grad von Gewißheit notwendig als für die Feststellung anderer Tatsachen, für die das FA die Feststellungslast trägt (vgl. BFH-Rechtsprechung).
Normenkette
AO 1977 § 235 Abs. 1, §§ 370, 90 Abs. 2; FGO § 118 Abs. 2, § 76 Abs. 1 Sätze 1, 5, § 96 Abs. 1; UStDV 1980 § 51
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine Aktiengesellschaft schweizerischen Rechts, errichtete in den Streitjahren (1985 und 1986) ein Außenlager in Bayern. Auftraggeber war die A-KG. Die Klägerin stellte ihre Leistungen der A-KG in vier Abschlagsrechnungen und in einer Schlußabrechnung vom 13. Mai 1986 in Rechnung; dabei wies sie insgesamt 703 477,11 DM Umsatzsteuer gesondert aus. Im einzelnen handelt es sich um folgende Rechnungen:
zuzüglich Umsatzsteuer
DM DM
1. Abschlagsrechnung vom 03.06.1985: 2 536 491,23 355 108,77
2. Abschlagsrechnung vom 17.07.1985: 1 369 336,06 191 707,05
3. Abschlagsrechnung vom 14.08.1985: 918 900,63 128 646,10
4. Abschlagsrechnung vom 05.02.1986: 140 374,10 19 652,37
Schlußrechnung vom 13.05.1986: 5 024 836,45 703 477,11
In ihren Umsatzsteuer-Voranmeldungen und Umsatzsteuererklärungen für die Jahre 1985 und 1986 erfaßte sie die Beträge nicht.
Nachdem der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) erfahren hatte, daß die A-KG den Vorsteuerabzug für die ihr in Rechnung gestellte Umsatzsteuer geltend gemacht hatte, änderte er die Umsatzsteuerveranlagungen der Klägerin für die Jahre 1985 und 1986 entsprechend. Außerdem setzte das FA gegen die Klägerin insgesamt 47 222 DM Hinterziehungszinsen zur Umsatzsteuer 1985 und 1986 fest (Bescheid vom 12. Oktober 1992).
Mit ihrer nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage machte die Klägerin geltend, sie bzw. ihre Auftraggeber hätten in der Regel von der sog. Null-Regelung (§ 52 Abs. 2 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung --UStDV 1980--) Gebrauch gemacht. Lediglich in einigen Bagatellfällen habe sie (die Klägerin) Rechnungen mit gesondertem Umsatzsteuerausweis ausgestellt. Die Abweichung von der üblichen Praxis bei dem hier fraglichen Auftrag sei auf Veranlassung der A-KG erfolgt. Die in der Schlußrechnung aufgeführten Teilrechnungen über insgesamt 5 660 000 DM seien --dem Diktatzeichen zufolge-- von ihrem damaligen Buchhaltungsleiter B ausgestellt worden. Die Schlußrechnung über den verbleibenden Betrag in Höhe von 68 000 DM habe ihr damaliger Finanzchef K ausgestellt. Beide Personen seien Schweizer Staatsbürger und mit dem deutschen Steuerrecht nicht vertraut gewesen; sie seien inzwischen aus ihrem Unternehmen ausgeschieden. Bei der Kalkulation des Auftrags sei sie (die Klägerin) wie auch die A-KG davon ausgegangen, daß Umsatzsteuer und Vorsteuer sich ausgleichen würden. Im übrigen sei die A-KG als Leistungsempfängerin verpflichtet gewesen, gemäß § 51 Abs. 1 UStDV 1980 für die Einbehaltung und Abführung der geschuldeten Umsatzsteuer Sorge zu tragen. Da sie dies unterlassen habe, habe das FA ... den entsprechenden Betrag auch mit Haftungsbescheid vom 7. Dezember 1990 bei der A-KG angefordert.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage gegen den Zinsbescheid ab. Es bejahte eine Steuerhinterziehung zum Vorteil der Klägerin und hielt die Voraussetzungen des § 235 Abs. 1 Sätze 1
und 2 der Abgabenordnung (AO 1977) für die Festsetzung der Hinterziehungszinsen für gegeben.
Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Revision. Sie rügt die Verletzung von § 235 AO 1977 und mangelhafte Sachaufklärung. Die Klägerin meint, die A-KG sei ihrer Pflicht aus § 51 UStDV 1980 zur Einbehaltung und Abführung der ihr in Rechnung gestellten Umsatzsteuer nicht nachgekommen und deshalb gemäß § 235 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 Zinsschuldnerin; daneben finde § 235 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 keine Anwendung. Im übrigen habe das FG seiner Pflicht aus § 76 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Erforschung des Sachverhalts nicht genügt, da es davon abgesehen habe, die eigentlichen Täter zu konkretisieren, sie zu ermitteln, zu befragen, sich unmittelbar von ihnen ein Bild zu machen und sich von ihrem Hinterziehungsvorsatz zu überzeugen. Tatsächlich sei ein derartiger Vorsatz nicht feststellbar, vielmehr müsse es sich aus ihrer (der Klägerin) Sicht bei der Nichtabgabe der erforderlichen Erklärungen und Nichtabführung der Umsatzsteuer um ein Versehen gehandelt haben.
Die Klägerin beantragt demgemäß, die Vorentscheidung und den angefochtenen Zinsbescheid aufzuheben.
Das FA ist der Revision entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unbegründet.
1. Nach § 235 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 sind hinterzogene Steuern zu verzinsen. Eine Steuerhinterziehung begeht, wer den Finanzbehörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht oder sie pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis läßt und dadurch Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO 1977). Die Steuerhinterziehung muß vorsätzlich begangen werden. Vorsätzlich handelt auch, wer es für möglich hält, daß er den Tatbestand verwirklicht oder das billigt oder doch in Kauf nimmt (bedingter Vorsatz, vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 31. Juli 1996 XI R 74/95, BFHE 181, 230, BStBl II 1997, 157).
Hängt die Rechtmäßigkeit eines Zinsbescheids davon ab, daß Steuern hinterzogen worden sind, so müssen zur Bejahung der Rechtmäßigkeit des Bescheids die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale einer Steuerhinterziehung vorliegen (vgl. BFH-Urteil vom 27. August 1991 VIII R 84/89, BFHE 165, 330, BStBl II 1992, 9). Das FA trägt insoweit die Feststellungslast. Obwohl auch im finanzgerichtlichen Verfahren der strafverfahrensrechtliche Grundsatz "in dubio pro reo" zu beachten ist, ist das Vorliegen dieser Tatbestandsmerkmale nicht nach der Strafprozeßordnung, sondern nach den Vorschriften der Abgabenordnung und der Finanzgerichtsordnung zu prüfen. Für die Feststellung der Steuerhinterziehung, die nach § 76 Abs. 1 Sätze 1 und 5 FGO von Amts wegen zu treffen ist, ist kein höherer Grad von Gewißheit notwendig als für die Feststellung anderer Tatsachen, für die das FA die Feststellungslast trägt (Beschluß des Großen Senats des BFH vom 5. März 1979 GrS 5/77, BFHE 127, 140, BStBl II 1979, 570; BFH-Urteil vom 21. Oktober 1988 III R 194/84, BFHE 155, 232, BStBl II 1989, 216). Eine strafrechtliche Verurteilung des Täters ist nicht erforderlich (BFH in BFHE 165, 330, BStBl II 1992, 9). Es ist deshalb auch nicht erforderlich, daß das FG den Straftäter ausfindig macht; es reicht aus, daß das FG aufgrund seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 96 Abs. 1 FGO) zu dem Ergebnis gelangt, daß von mehreren in Betracht kommenden Personen jedenfalls eine die Steuerhinterziehung begangen hat. Deshalb greift die von der Klägerin in diesem Zusammenhang erhobene Rüge mangelnder Sachaufklärung nicht durch.
Der BFH ist an die im angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, es sei denn, daß in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind (§ 118 Abs. 2 FGO). Zu den der Bindung unterliegenden Feststellungen gehören auch die Schlußfolgerungen tatsächlicher Art. Die Bindung entfällt nur dann, wenn die Folgerungen mit den Denkgesetzen oder Erfahrungssätzen unvereinbar sind. Die Gesamtwürdigung durch das FG bindet das Revisionsgericht selbst dann, wenn sie nicht zwingend ist; sie muß nur möglich sein (BFH in BFHE 165, 330, BStBl II 1992, 9).
Legt man diesen Prüfungsmaßstab zugrunde, so ist die Annahme einer bei der Fertigung der Steuererklärungen der Klägerin begangenen Steuerhinterziehung durch das FG revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Die Klägerin hat in ihren Steuererklärungen unrichtige und unvollständige Angaben über die von ihr getätigten Umsätze gemacht und dadurch Umsatzsteuer verkürzt; sie hat in ihren Steueranmeldungen die an die A-KG erbrachten Leistungen nicht erfaßt.
Das FG konnte aufgrund seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu dem Ergebnis gelangen, daß die Steuer vorsätzlich verkürzt wurde, auch wenn es die mit Hinterziehungsvorsatz handelnde Person nicht im einzelnen benennen konnte. Denn gleichwohl durfte es den Sachverhalt dahin würdigen, daß eine an der Erstellung der Steuererklärungen beteiligte Person die an die A-KG erbrachten Umsätze bewußt nicht erklärt und damit jedenfalls in Kauf genommen hat, daß die Umsatzsteuer der Klägerin verkürzt wurde. Das FG hat dies unter anderem daraus geschlossen, daß die Klägerin ihre Vermutung, die Steuerverkürzung sei nur aus Versehen oder Rechtsunkenntnis erfolgt, weder durch eine substantiierte Darlegung entsprechender Tatumstände noch durch sonstige konkrete Hinweise untermauert oder gar unter Beweis gestellt hat, daß sie vielmehr seit Jahren zahlreiche geschäftliche Kontakte zu Unternehmen in Deutschland unterhalten hatte und die an diese erbrachten Umsätze, soweit sie dem FA zu erklären waren, (samt Vorsteuer) auch ordnungsgemäß erklärt hatte. Hinzu kommt, daß die unrichtigen Steuererklärungen, durch die die Steuer verkürzt wurde, von der Klägerin in der Schweiz erstellt wurden und die Ermittlungspflichten des FG deshalb eingeschränkt waren (vgl. § 90 Abs. 2 AO 1977).
Unter diesen Umständen ist die Bejahung einer vorsätzlichen Steuerhinterziehung durch das FG für den Senat bindend.
2. Der Zinsbescheid ist auch zu Recht gegen die Klägerin als Zinsschuldnerin ergangen. Nach § 235 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 ist Zinsschuldner derjenige, zu dessen Vorteil Steuern hinterzogen worden sind. Die der A-KG in Rechnung gestellte Umsatzsteuer ist zum Vorteil der Klägerin hinterzogen worden; die Klägerin hat die Umsatzsteuerbeträge vereinnahmt, es aber unterlassen, sie in ihren Steueranmeldungen zu berücksichtigen und an das FA abzuführen.
3. § 235 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 steht der Inanspruchnahme der Klägerin nicht entgegen. Diese Vorschrift betrifft den Fall, daß die Steuerhinterziehung dadurch begangen wird, daß ein anderer als der Steuerschuldner seine Verpflichtung, einbehaltene Steuern an die Finanzverwaltung abzuführen oder Steuern zu Lasten eines anderen zu entrichten, nicht erfüllt; es ist dann der andere der Zinsschuldner. Diese Vorschrift ist schon tatbestandsmäßig nicht erfüllt, da die A-KG die Umsatzsteuer nicht einbehalten, sondern an die Klägerin gezahlt hat. Die Steuerhinterziehung, um die es hier geht, ist nicht dadurch begangen worden, daß die A-KG ihre --sich möglicherweise aus §§ 51 ff. UStDV 1980 ergebende-- Verpflichtung, die ihr in Rechnung gestellte Umsatzsteuer einzubehalten und an die Finanzverwaltung abzuführen, nicht erfüllt hat, sondern dadurch, daß die Klägerin die an die A-KG erbrachten Leistungen in ihren Umsatzsteuer-Voranmeldungen und Umsatzsteuererklärungen für die Jahre 1985 und 1986 nicht aufführte.
Fundstellen
BFH/NV 1998, 1279 |
BFH/NV 1998, 1279-1280 (Leitsatz und Gründe) |
BStBl II 1998, 466 |
BFHE 185, 351 |
BFHE 1998, 351 |
BB 1998, 1522 |
BB 1998, 1522 (Leitsatz) |
DB 1998, 1548 (Leitsatz) |
DStRE 1998, 613 |
DStRE 1998, 613-614 (Leitsatz und Gründe) |
DStZ 1998, 692 |
DStZ 1998, 692-693 (Leitsatz und Gründe) |
HFR 1998, 725 |
StE 1998, 454 |
LEXinform-Nr. 0146202 |
NJW 1998, 3000 |
SteuerBriefe 1999, 361 |
SteuerBriefe 1999, 6 |
BuW 1998, 703 |
NWB-DokSt 1999, 586 |
stak 1998 |