Leitsatz (amtlich)
Die Aufrechnung des FA gegen Lohnsteuererstattungsansprüche ist Im Regelfall keine unzulässlge Rechtsausübung.
Normenkette
AO 1977 § 226
Verfahrensgang
Tatbestand
Berichtigung: Im Urteil vom 19. Oktober 1982 VII R 64/80 (BStBl II 1983, 541) muß es auf Seite 541, linke Spalte, Absatz 1, Zeile 3 statt: "13. Dezember 1964" richtig: "13. Dezember 1974" heißen.
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war Komplementär einer KG, über deren Vermögen am 13. Dezember 1964 der Konkurs eröffnet wurde. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) nahm ihn mit Bescheid vom 7. September 1976, geändert mit Bescheid vom 26. Juli 1978, nach § 120 der Reichsabgabenordnung (AO), §§ 161 Abs. 2, 128 des Handelsgesetzbuches (HGB) u. a. in Höhe von 24 926 DM wegen Umsatzsteuerschulden 1973 als Haftungsschuldner in Anspruch. Dieser Bescheid ist bestandskräftig.
Im Jahr 1976 waren der Kläger und seine Ehefrau bei ihrem Sohn als Arbeitnehmer tätig. Nach Durchführung der Einkommensteuerveranlagung 1976, bei der die Eheleute mit Bescheid vom 8. Mai 1978 zusammenveranlagt wurden, ergab sich infolge eines Verlustabzugs aus den Vorjahren eine Einkommensteuerschuld von null DM und ein Erstattungsanspruch von 5 140 DM. Der Erstattungsbetrag resultierte aus den dem Kläger und seiner Ehefrau einbehaltenen Lohnsteuerabzugsbeträgen in Höhe von 2 618,80 DM bzw. 2 521, 10 DM.
In einem als "Aufrechnungserklärung" bezeichneten Schreiben vom 27. April 1978 erklärte das FA die Aufrechnung mit einem Umsatzsteuerteilbetrag 1973 in Höhe von 2 618,80 DM gegen den Lohnsteuererstattungsanspruch des Klägers.
Das Finanzgericht (FG) gab der nach erfolgloser Beschwerde erhobenen Klage statt und hob die Aufrechnungserklärung des FA vom 27. April 1978 in Gestalt der Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion (OFD) vom 9. April 1979 ersatzlos auf. Zur Begründung führte es aus:
Die Aufrechnungserklärung sei wegen Verstoßes gegen den Grundsatz von Treu und Glauben und den Gleichheitssatz des Art. 3 des Grundgesetzes (GG) rechtswidrig (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 21. Januar 1977 III R 107/73, BFHE 121, 279, BStBl II 1977, 393). Die Zulässigkeit der Aufrechnung könne auch nicht mit dem Hinweis auf die Besonderheiten des Lohnsteuerabzugsverfahrens begründet werden. Dieser Gesichtspunkt spiele keine Rolle bei der im vorliegenden Fall entscheidungserheblichen Frage, ob die Aufrechnung gegen einen Erstattungsanspruch aus einbehaltener Lohnsteuer, von der von vornherein feststehe, daß sie materiell nicht geschuldet werde, gegen den Grundsatz von Treu und Glauben und vor allem gegen den Gleichheitssatz verstoße. Die Aufrechnung erfolge zu einem Zeitpunkt, in dem das Lohnsteuerabzugsverfahren bereits abgeschlossen sei, mithin eine Beeinträchtigung seines Vereinfachungseffektes durch die Berücksichtigung sämtlicher Verhältnisse des Einzelfalles nicht mehr zu befürchten sei. Eine ohne Berücksichtigung des Gleichbehandlungsgebots getroffene Entscheidung, die nur durch die Besonderheiten des Lohnsteuerabzugsverfahrens erlangte formale Aufrechnungsrechtsstellung auszunutzen, stelle einen Ermessensfehlgebrauch dar.
Das FG hat der Nichtzulassungsbeschwerde des FA abgeholfen und die Revision durch Beschluß vom 3. Juli 1980 wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.
Das FA rügt mit seiner Revision Verletzung der §§ 5, 226 der Abgabenordnung (AO 1977) und des § 406 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB).
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage. Die Aufrechnungserklärung des FA ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Da die Voraussetzungen des § 226 Abs. 1 AO 1977 i. V. m. §§ 387 ff. BGB vorlagen, stand dem FA grundsätzlich die Befugnis zu, mit seiner Forderung aus dem Haftungsbescheid gegen die Erstattungsforderung des Klägers aufzurechnen. Das Gebrauchmachen von dieser Befugnis stellt entgegen der Auffassung des FG keinen Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben oder den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG dar. Auch ein Ermessensmißbrauch ist darin nicht zu sehen.
Das FG hat in Anlehnung an das Urteil des III. Senats des BFH in BFHE 121, 279, BStBl II 1977, 393 im Ergebnis entschieden, daß die Aufrechnung gegen den Erstattungsanspruch des Klägers eine unzulässige Rechtsausübung darstelle, die darin bestehe, daß das FA eine ihm vom Gesetz nur formal gewährte Rechtsstellung ausgenutzt und gegen Erstattungsansprüche aus Lohnsteuer aufgerechnet habe, von der von vornherein festgestanden habe, daß sie ihm materiell nicht zustand. Der erkennende Senat folgt dieser Auffassung nicht.
a) Die unzulässige Rechtsausübung ist ein aus den §§ 226, 242 BGB abgeleiteter Rechtsgrundsatz, der zu seiner Anwendung im Einzelfall einer Spezialisierung in bezug auf einen bestimmten typischen Sachverhalt bedarf (vgl. Wolff-Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl., § 25 I 2 b; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 4 AO 1977 Anm. 53).
Der vorliegende Fall erfordert kein Eingehen auf die Frage, ob dieser aus Vorschriften des Zivilrechts entwickelte Rechtsgrundsatz ohne Einschränkungen oder Abwandlungen auf das öffentliche Recht übertragen werden kann. Denn seine wesentlichen Voraussetzungen liegen nicht vor.
b) Im bürgerlichen Recht wird nach dem Kommentar Das Bürgerliche Gesetzbuch, herausgegeben von Mitgliedern des Bundesgerichtshofs -- BGB-RGRK -- (12. Aufl., § 242 Anm. 89), von unzulässiger Rechtsausübung üblicherweise in Fällen gesprochen, in denen das gegenwärtige Verhalten eines Teils mit Rücksicht auf sein früheres Verhalten gegen Treu und Glauben verstößt, in denen ferner der Anspruch aus einem gesetz- oder pflichtwidrigen Handeln entstanden ist oder der Gläubiger das, was er erlangt, bald zurückgewähren muß, oder in denen schließlich eine rücksichtslose und unangemessene Verfolgung eigener Interessen vorliegt. Außerdem sind nach diesem Grundsatz auch der Ausübung einer formalen Rechtsstellung -- die im Grunde erworben oder verliehen wird, um ausgeübt zu werden -- Grenzen gezogen, die dem Zweck dieses Rechts, der Rechtsstellung, den ihm zugrunde liegenden gesetzlichen Bestimmungen und deren rechtlichem Sinn zu entnehmen sind (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs -- BGH -- vom 12. Juli 1951 III ZR 168/50, Neue Juristische Wochenschrift -- NJW -- 1951, 917, 918; Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 11. Aufl., § 242 Anm. D 19 und D 83; Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 242 Anm. 408). Die erstgenannten Ausformungen des genannten Rechtsgrundsatzes können hier außer Betracht bleiben. Die Verwaltung setzt sich durch die Aufrechnung nicht mit ihrem früheren Verhalten in Widerspruch. Sie verletzt nicht den Grundsatz, es dürfe nichts gefordert werden, was bald wieder zurückzugewähren ist. Sie hat die Aufrechnungsbefugnis nicht durch gesetz- oder pflichtwidriges Handeln erlangt. Es kann ihr schließlich auch nicht die Arglisteinrede der rücksichtslosen oder unangemessenen Verfolgung eigenen Interesses entgegengesetzt werden. Die Verwaltung macht lediglich von einer Befugnis Gebrauch, die ihr vom Gesetz ohne eine ausdrückliche Einschränkung verliehen worden ist.
Eine unzulässige Rechtsausübung käme daher im vorliegenden Fall nur dann in Betracht, wenn dem Recht der Aufrechnung selbst bzw. der Rechtsnorm, auf der es beruht, zu entnehmen wäre, daß es so, wie es das FA ausgeübt hat, nicht angewendet werden darf, wenn also das FA von der Bestimmung des § 226 Abs. 1 AO 1977 "in einer zweckfremden Weise und mit zweckfremdem Ziel Gebrauch gemacht" hätte (vgl. BGH in NJW 1951, 917, 918). Das ist aber nicht der Fall.
c) Das Wesen der Aufrechnung nach § 226 AO 1977 i. V. m. §§ 387 ff. BGB liegt darin, daß der Schuldner seine Schuld tilgt, indem er seine zur Aufrechnung verwandte Forderung dem Gläubiger als Erfüllungssurrogat aufdrängt (Tilgungserleichterung) und sich gleichzeitig für diese Forderung durch außergerichtlichen Selbsthilfezugriff auf die Gläubigerforderung befriedigt (Durchsetzbarkeitserleichterung); vgl. Enneccerus, Schuldrecht, 15. Bearbeitung, S. 276). Voraussetzung für die Ausübung des Rechts ist im wesentlichen nur, daß die Forderung, mit der aufgerechnet wird, voll wirksam ist und die Forderung, gegen die aufgerechnet wird, besteht (Enneccerus, a. a. O., S. 283). Dagegen ist die Aufrechnung vom Schuldgrund, der Rechtsnatur der Forderungen, grundsätzlich unabhängig (vgl. BGB-RGRK, a. a. O., § 387 Anm. 58). Es liegt insoweit eine gewisse Parallele vor zur Regelung der Vollstreckung der AO 1977, wonach Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit des zu vollstreckenden Verwaltungsakts selbst nur außerhalb des Vollstreckungsverfahrens zulässig sind (vgl. § 256 AO 1977).
Der Aufrechnung kann daher zwar -- das ergibt sich schon aus § 387 BGB -- die Einrede entgegengesetzt werden, die Hauptforderung bestehe nicht, z. B. weil die Norm, auf der sie beruht, verfassungswidrig ist. Diese Einrede ist hier jedoch nicht gegeben, denn das BVerfG hat mit seinem Beschluß vom 26. Januar 1977 1 BvL 7/76 (BVerfGE 43, 231, BStBl II 1977, 297) die gegen das Lohnsteuererhebungsverfahren vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken zurückgewiesen. Es kann auch nicht angenommen werden, das BVerfG wäre zu einem anderen Ergebnis gelangt, wenn es den -- im Gesamtzusammenhang nicht sehr wesentlichen -- Zusammenhang mit dem Aufrechnungsrecht erkannt und mitberücksichtigt hätte.
Dagegen können Einreden, die ihre Wurzel in der Rechtsnatur der Hauptforderung haben, nach den obigen Ausführungen das Vorliegen einer unzulässigen Rechtsausübung nicht begründen. Eine Behörde macht von ihrer Aufrechnungsbefugnis keinen zweckfremden Gebrauch, wenn sie gegen eine Forderung aufrechnet, die in einer bestimmten, gesetzlich vorgesehenen und verfassungskonformen Weise entstanden ist. Das muß auch dann gelten, wenn das Entstehen dieser Forderungen für bestimmte Personen gewisse Nachteile mit sich bringt, die andere Personen nicht treffen. Die Annahme, es liege eine unzulässige Rechtsausübung vor, rechtfertigt nicht jedes Interessenungleichgewicht; es muß vielmehr eine grobe, als unerträglich empfundene Unbilligkeit vorliegen (vgl. Münchener Kommentar, a. a. O., § 242, Anm. 387). Daran fehlt es hier.
d) Diese Auffassung steht nicht im Widerspruch zum Gleichheitssatz. Sie stellt vielmehr gerade sicher, daß alle Aufrechnungsbeteiligten ohne Unterschied, d. h. ohne Berücksichtigung des Rechtsgrunds der Forderungen, gleichbehandelt werden. Daß die gesetzliche Regelung der Lohnsteuererhebung zu einer verschiedenen Behandlung von solchen Steuerpflichtigen führt, die nur Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit haben, gegenüber den Steuerpflichtigen, die andere Einkünfte als solche aus nichtselbständiger Arbeit oder neben derartigen Einkünften noch andere Einkünfte haben und die Verluste aus Vermietung und Verpachtung geltend machen wollen, ist zwar richtig. Das BVerfG hat aber entschieden, daß diese Regelung dennoch mit dem Gleichheitssatz zu vereinbaren ist. Es besteht kein Anlaß und auch keine Rechtsgrundlage dafür, diese verfassungskonforme Differenzierung zwischen Lohnsteuer- und sonstigen Einkommensteuerpflichtigen dadurch einzuebnen, daß eine umgekehrte Ungleichbehandlung (Besserstellung der Lohnsteuerpflichtigen gegenüber anderen Steuerpflichtigen) im Rahmen des Aufrechnungsrechts gewährt wird. Überdies darf nicht übersehen werden, daß das BVerfG die Nachteile des Lohnsteuererhebungssystems für den Lohnsteuerzahler im wesentlichen in der zeitnäheren Zahlung (und Überzahlung) sowie in der verspäteten und zinslosen Erstattung durch den Fiskus sieht, also im wesentlichen in dem daraus resultierenden Zinsnachteil. Es ist kein plausibler Grund dafür zu finden, warum wegen dieses Zinsnachteils für den Lohnsteuerpflichtigen -- der nach Auffassung des BVerfG durch den Arbeitnehmerfreibetrag ausreichend ausgeglichen wird -- die Aufrechnung der Behörde gegen diesen Erstattungsanspruch mit der eigenen fälligen Steuerforderung unzulässig sein sollte, die eben dieser Lohnsteuerpflichtige unter Mißachtung der dadurch dem Fiskus verursachten Zinsnachteile bisher nicht erfüllt hat.
e) Da demnach das FA vom Recht zur Aufrechnung im Einklang mit dessen Zweck Gebrauch gemacht hat, kann in dieser seiner Entscheidung auch kein Ermessensfehlgebrauch erblickt werden. Aus dem gleichen Grund scheidet auch aus, im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung § 226 Abs. 1 AO 1977 einengend so auszulegen, daß in ihn die ungeschriebene Einschränkung hineininterpretiert wird, gegen Erstattungsforderungen von Lohnsteuerzahlern könne das FA niemals aufrechnen.
3. Der erkennende Senat weicht mit dieser Entscheidung nicht von der Entscheidung des III. Senats des BFH in BFHE 121, 279, BStBl II 1977, 393 ab. Der III. Senat hat nicht etwa die Entscheidung getroffen, die Aufrechnung des FA gegen Lohnsteuererstattungsforderungen sei schlechthin eine unzulässige Rechtsausübung. Für seine Entscheidung waren vielmehr die besonderen Umstände des von ihm beurteilten Falles maßgebend. Diese sind im wesentlichen in folgendem zu sehen: Der Gemeinschuldner führt sein in Konkurs gefallenes Unternehmen im Auftrag des Konkursverwalters als Angestellter weiter und wird lohnsteuerpflichtig; die Vermögensabgaberückstände sind teilweise bevorrechtigt, teilweise nicht; das FA erhält durch die Aufrechnung von Lohnsteuererstattungsansprüchen des Gemeinschuldners mit den nicht bevorrechtigten Steuerforderungen praktisch ein Instrument zur bevorrechtigten Befriedigung. Daß der III. Senat sich von diesen besonderen Umständen -- die im vorliegenden Fall keine Entsprechung finden -- hat leiten lassen, ergibt sich eindeutig aus seinen Entscheidungsgründen. Dort heißt es ausdrücklich, dem Senat erscheine es nicht gerechtfertigt, "für das Konkursverfahren" dem FA das Aufrechnungsrecht zu gewähren, das sich, "je länger das Konkursverfahren dauert, immer stärker dadurch auswirkt, daß das FA immer mehr Aufrechnungsmöglichkeiten erhält". Ferner hat der III. Senat des BFH auch auf den sich besonders im Konkursverfahren auswirkenden Effekt hingewiesen, "daß immer nur das FA bestimmen kann, mit welchen Forderungen (hier den nicht bevorrechtigten) es aufrechnen will".
Der erkennende Senat ist daher nicht verpflichtet, nach § 11 Abs. 3 FGO den Großen Senat des BFH anzurufen.
Fundstellen
Haufe-Index 74663 |
BStBl II 1983, 541 |
BFHE 1983, 308 |