Leitsatz (amtlich)
Bei Beurteilung der Frage, ob bestandskräftige Steuerbescheide wegen nachträglichen Bekanntwerdens von Tatsachen nach § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977 geändert werden dürfen, kommt es grundsätzlich auf den Kenntnisstand der Personen an, die innerhalb der Finanzbehörde dazu berufen sind, den betreffenden Steuerfall zu bearbeiten.
Orientierungssatz
Kennt eine andere als die für die Bearbeitung des Steuerfalls zuständige Dienststelle die betreffende Tatsache, so ist sie deswegen nicht auch der zuständigen Dienststelle als bekannt zuzurechnen, auch wenn die einzelnen Dienststellen je nach ihrem Aufgabenbereich verpflichtet sind, zusammenzuwirken und Erfahrungen auszutauschen (Anschluß an die BFH-Rechtsprechung zu § 222 AO; vgl. auch BFH-Urteile vom 23.3.1983 I R 182/83 und vom 5.11.1970 V R 71/67). Im Streitfall war der Kenntnisstand der dem Veranlagungsbereich zugehörenden Veranlagungsstelle nicht der --mit der Lohnsteuerstelle organisatorisch zusammengefaßten-- Arbeitnehmerveranlagungsstelle zuzurechnen.
Normenkette
AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger), der seit dem 12.August 1977 verheiratet ist, hatte im Streitjahr 1977 Einkünfte aus selbständiger Arbeit (Tätigkeit am A-Kolleg und an der Sprachenschule B). Seine Ehefrau bezog Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit.
Am 16.März 1978 beantragte seine Ehefrau für das Streitjahr Lohnsteuer-Jahresausgleich. Nach den Angaben im Antrag, den auch der Kläger unterschrieb, hatte der Kläger (Berufsbezeichnung: Student) im Streitjahr keine Einkünfte. Die Lohnsteuerstelle des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt --FA--) führte den Lohnsteuer-Jahresausgleich für 1977 im wesentlichen antragsgemäß mit Bescheid vom 13.Juni 1978 durch.
Aufgrund von zwei Kontrollmitteilungen, nach denen der Kläger im Streitjahr 1977 aus seiner Tätigkeit für die Sprachenschule B Einnahmen in Höhe von 2 405 DM bezogen hat, wurde der Bescheid über den Lohnsteuer-Jahresausgleich vom 13.Juni 1978 unter Berücksichtigung der Einkünfte aus der Sprachenschule B in Höhe von 1 053 DM durch einen entsprechenden Einkommensteuerbescheid abgeändert. Die Änderung wurde von der --mit der Lohnsteuerstelle organisatorisch zusammengefaßten-- Arbeitnehmerveranlagungsstelle des FA vorgenommen. Diese Dienststelle war nach einer Dienstanweisung der Oberfinanzdirektion (OFD) Hannover (0 1548 - 2 - StH 114) für Veranlagungen nach § 46 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zuständig, bei denen keine Vorauszahlungen festzusetzen und auch keine Umsatzsteuer-, Gewerbesteuer- oder Vermögensteuerveranlagungen durchzuführen sind. Der Eingabewertbogen, der dem Einkommensteuerbescheid zugrunde lag, wurde am 31.August 1978 von dem Sachgebietsleiter und dem Sachbearbeiter der Arbeitnehmerveranlagungsstelle unterzeichnet; der Bescheid datiert vom 8.November 1978.
Am 17.Juli 1978 --also noch vor der Unterzeichnung des Eingabewertbogens-- war bei der Veranlagungsstelle des FA, die nach den verwaltungsinternen Dienstanweisungen für die Einkommensteuerveranlagung des Klägers wegen der tatsächlichen Höhe seiner Einkünfte zuständig war, eine Einkommensteuererklärung des Klägers eingegangen, in der der Kläger seine Einnahmen aus dem A-Kolleg in Höhe von 11 115 DM angegeben hatte. Der Steuererklärung war ein Anschreiben beigefügt, in dem der Kläger die Zusammenveranlagung mit seiner Ehefrau beantragte. Der Antrag enthielt den Hinweis, daß die Einkünfte der Ehefrau bereits selbständig in einer Einkommensteuererklärung (gemeint war der Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich) erklärt worden seien.
Aufgrund der Angaben in der Einkommensteuererklärung des Klägers änderte die Veranlagungsstelle des FA den Einkommensteuerbescheid vom 8.November 1978. Sie erfaßte dabei sowohl die Einkünfte des Klägers aus der Sprachenschule B als auch seine Einkünfte aus dem A-Kolleg (Änderungsbescheid vom 8.August 1980).
Gegen den Änderungsbescheid vom 8.August 1980 wendet sich der Kläger.
Nach erfolglosem Einspruchsverfahren hob das Finanzgericht (FG) den Bescheid vom 8.August 1980 in Gestalt der Einspruchsentscheidung auf. Zur Begründung führte es aus, die Voraussetzungen für eine Änderung hätten nicht vorgelegen. Nach § 173 Abs.1 Nr.1 der Abgabenordnung (AO 1977) könnten Steuerbescheide nur geändert werden, soweit Tatsachen und Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führten. Die Tatsache, daß der Kläger Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit beim A-Kolleg hatte, sei dem FA in dem Zeitpunkt, in dem der Eingabewertbogen für den ersten Einkommensteuerbescheid unterzeichnet worden sei, bereits bekannt gewesen. Denn sowohl der ständige Vertreter des Vorstehers als auch der zuständige Sachgebietsleiter hätten von der --die Einkünfte aus dem A-Kolleg enthaltenden-- Einkommensteuererklärung Kenntnis gehabt. Diese Kenntnis müsse sich das FA zurechnen lassen. Dabei sei es unerheblich, daß die Arbeitnehmerveranlagungsstelle, die den Bescheid vom 8.November 1978 erlassen habe, die Einkommensteuererklärung nicht gekannt habe. Der Änderungsbescheid vom 8.August 1980 habe auch nicht auf § 129 AO 1977 gestützt werden können. Aufgrund dieser Vorschrift sei nur eine Berichtigung von Schreibfehlern, Rechenfehlern und ähnlichen offenbaren Unrichtigkeiten möglich; eine unrichtige Tatsachenwürdigung falle nicht unter den Begriff der offenbaren Unrichtigkeit.
Mit der --vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen-- Revision rügt das FA, daß das FG die Voraussetzungen für eine Änderung des Bescheids nach § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977 verkannt habe.
Das FA beantragt sinngemäß, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Abweisung der Klage. Der Auffassung des FG, es habe an den Voraussetzungen für eine Änderung des Bescheids vom 8.November 1978 gefehlt, kann nicht gefolgt werden.
1. Bestandskräftige Steuerbescheide sind nach § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977 aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen.
a) Für die Frage, ob etwas nachträglich bekannt geworden ist, kommt es auf den Kenntnisstand der Personen an, die innerhalb der Finanzbehörde dazu berufen sind, den betreffenden Steuerfall zu bearbeiten. Es ist davon auszugehen, daß die Dienstgeschäfte innerhalb einer Finanzbehörde auf die einzelnen Dienststellen nach einem verwaltungsinternen Organisationsplan (vgl. hierzu u.a. die Grundsätze zur Neuorganisation der Finanzämter und zur Neuordnung des Besteuerungsverfahrens --GNOFÄ--; BStBl I 1976, 88) verteilt sind und diese Verteilung auch für die Frage des Bekanntseins von Tatsachen maßgebend ist (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 23.März 1983 I R 182/82, BFHE 138, 313, BStBl II 1983, 548). Der Senat schließt sich damit der bereits zur Auslegung des § 222 der Reichsabgabenordnung (AO) vom BFH vertretenen Auffassung an, nach der es für die "Neuheit" einer Tatsache in der Regel auf die Kenntnis der zur Bearbeitung des Steuerfalls organisatorisch berufenen Dienststelle ankommt (BFH-Urteile vom 1.Dezember 1967 VI 379/65, BFHE 90, 485, BStBl II 1968, 145, und vom 17.Juli 1975 IV R 233/71, BFHE 116, 521, BStBl II 1975, 892). Kennt eine andere als die für die Bearbeitung des Steuerfalls zuständige Dienststelle die betreffende Tatsache, so ist sie deswegen nicht auch der zuständigen Dienststelle als bekannt zuzurechnen.
b) Bekannt ist der zuständigen Dienststelle der Inhalt der dort geführten Akten; hierzu gehören alle gehefteten und losen Schriftstücke, die bei der Dienststelle vorliegen oder sie im Geschäftsgang erreicht haben (BFH-Urteil vom 5.November 1970 V R 71/67, BFHE 101, 156, BStBl II 1971, 220). Ist den Beamten der zuständigen Dienststelle im Zeitpunkt der Veranlagung der Inhalt der Schriftstücke in diesem Sinne bekannt, so können die hierin aufgeführten Tatsachen nicht mehr "nachträglich bekannt werden" und damit auch nicht mehr Grundlage für die Änderung eines bestandskräftigen Bescheids gemäß § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977 sein.
2. Im Streitfall erließen die Beamten der Arbeitnehmerveranlagungsstelle des beklagten FA, die sich --aufgrund der im Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich gemachten unrichtigen Angaben des Klägers und seiner Ehefrau-- für zuständig hielten, einen Einkommensteuerbescheid, in dem außer den Einkünften der Ehefrau aus nichtselbständiger Arbeit nur die --aus Kontrollmitteilungen bekannt gewordenen-- Einkünfte aus der Tätigkeit des Klägers an der Sprachenschule B, nicht aber seine Bezüge vom A-Kolleg berücksichtigt waren. In dem Zeitpunkt, in dem der Sachbearbeiter und der Sachgebietsleiter der Arbeitnehmerveranlagungsstelle diesen Bescheid unterzeichneten (31.August 1978), war zwar die Tatsache, daß der Kläger auch noch vom A-Kolleg Einkünfte bezogen hatte, der dem Veranlagungsbereich zugehörenden Veranlagungsstelle bekannt; denn den Bearbeitern dieser Dienststelle war zu diesem Zeitpunkt die --die Einkünfte aus dem A-Kolleg enthaltende-- Einkommensteuererklärung bereits zugegangen. Auf die Kenntnis dieser Dienststelle kommt es indessen für die Änderungsbefugnis nicht an. Entsprechend den unrichtigen und unvollständigen Angaben des Klägers und seiner Ehefrau in dem Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich konnte sich zunächst die Arbeitnehmerveranlagungsstelle zur Bearbeitung des Steuerfalls als berufen ansehen. Ihr damaliger Kenntnisstand ist deshalb auch für die Frage des nachträglichen Bekanntwerdens von Tatsachen maßgebend.
Der Kläger kann sich demgegenüber nicht darauf berufen, daß sich die Beamten der Arbeitnehmerveranlagungsstelle durch Rückfrage bei der zuständigen Veranlagungsstelle einen erschöpfenden Kenntnisstand hätten verschaffen können. Wenn auch die einzelnen Dienststellen je nach ihrem Aufgabenbereich verpflichtet sind, zusammenzuwirken und Erfahrungen auszutauschen (BFHE 138, 313, BStBl II 1983, 548), so bestand doch im Streitfall unter den gegebenen Umständen für die Arbeitnehmerveranlagungsstelle kein Anlaß, bei einer anderen Dienststelle wegen weiterer die Besteuerung betreffenden Tatsachen nachzufragen. Die Arbeitnehmerveranlagungsstelle konnte vielmehr aufgrund der Angaben des Klägers und seiner Ehefrau davon ausgehen, daß ausschließlich sie mit dem Veranlagungsfall des Klägers befaßt war.
Bei Erlaß des strittigen Änderungsbescheids hat die --entsprechend den vervollständigten Angaben des Klägers in der Einkommensteuererklärung-- nunmehr zur Veranlagung berufene Dienststelle zu Recht angenommen, daß aus der Sicht der Arbeitnehmerveranlagungsstelle die Einkünfte des Klägers aus dem A-Kolleg nicht bekannt waren. Diese Dienststelle war sonach nicht gehindert, den von der Arbeitnehmerveranlagungsstelle erlassenen Einkommensteuerbescheid vom 8.November 1978 auf der Grundlage des § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977 zu ändern.
Auf die Frage, ob die Voraussetzungen für eine Fehlerberichtigung nach § 129 AO 1977 vorgelegen haben, kommt es hiernach nicht mehr an.
Fundstellen
Haufe-Index 61024 |
BStBl II 1985, 492 |
BFHE 143, 520 |
BFHE 1985, 520 |
BB 1986, 251-251 (ST) |
DB 1985, 2131-2132 (ST) |
HFR 1986, 3-4 (ST) |