Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Gegenüber Steuerpflichtigen, die aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße vertrieben worden sind, darf die Veranlagung und auf ihrer Grundlage die Erstattung zu hoher Vorauszahlungen, die an Finanzämter der ehemaligen Reichsfinanzverwaltung geleistet worden sind, nicht mit der Begründung abgelehnt werden, daß es sich um Veranlagungszeiträume aus der Zeit vor dem Zuzug in ein Land der Bundesrepublik Deutschland handelt.
Normenkette
AO § 73a/2, § 150
Tatbestand
Der Beschwerdeführer (Bf.) war bis Anfang 1945 in Westpreußen ansässig. Seine Frau und er selbst waren an mehreren handelsrechtlichen Personengesellschaften beteiligt. Er wurde vom Finanzamt A / Westpr. veranlagt. Im Januar 1945 floh seine Familie vor den Russen nach dem Westen. Mitte 1945 zog er nach D. Ende 1946 meldete er sich bei dem für ihn zuständigen Finanzamt und beantragte Zuteilung einer Steuernummer. Anfang Februar 1947 reichte er für 1944 seine Steuererklärung ein und gab ein Einkommen von 57.496 RM an. Er wurde zu einer Einkommensteuer von 24.908 RM veranlagt. Hiergegen legte er Anfechtung ein und errechnete eine Abschlußzahlung von 21.758 RM. Weiter führte er aus, daß er auf Grund des Veranlagungsbescheides 1943 des Finanzamts A. für das Jahr 1944 132.516 RM an Vorauszahlungen entrichtet habe, so daß ihm nach Verrechnung noch ein Guthaben von ungefähr 110.000 RM verbleibe, um dessen Erstattung er bitte. Durch Vorlage von Kontokarten wies er dem Finanzamt später folgende Vorauszahlungen nach:
31. März 1944 --- für I/1944 ---------- 47.576 RM, 30. Juni 1944 --- für II/1944 --------- 33.129 RM, 15. September 1944 für III/1944 ------- 33.129 RM, 30. Dezember 1944 für IV/1944 --------- 33.129 RM, -------------------------------------- 146.963 RM. Das Finanzamt nahm durch Einspruchsentscheidung den Einkommensteuerbescheid 1944 zurück. Es führte aus, daß nach den bestehenden Bestimmungen bei Steuerpflichtigen (Stpfln), die nach dem 31. Dezember 1944 aus dem Gebiet außerhalb der vier Besatzungszonen in die britische Zone zugezogen seien, eine Anrechnung früher geleisteter Steuerzahlungen nicht möglich sei. Andererseits werde für das Kalenderjahr 1944 von der Erhebung einer Einkommensteuer abgesehen. Hiergegen legte der Bf. erneut Anfechtung ein. Die Vorauszahlungen seien in die Reichskasse der Reichsfinanzverwaltung geflossen. Es sei deshalb unzulässig, entgegen den gesetzlichen Bestimmungen durch Verwaltungsanweisung ihre Anrechnung oder Erstattung zu verbieten. Er beantragte erneut Durchführung der Veranlagung und Anrechnung sowie Erstattung der Vorauszahlungen. Das Rechtsmittel wurde als Berufung durchgeführt. Das Finanzgericht wies die Berufung als unbegründet ab, und begründete dies wie folgt: In Abweichung von den früher geltenden Vorschriften bestimme Abschnitt 3 Ziffer 2 der Einkommensteuer-Richtlinien (EStR) 1945, die von der Finanzleitstelle erlassen worden seien: "Flüchtlinge, die ihren Wohnsitz bisher innerhalb der Grenzen Deutschlands nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 gehabt haben und nach dem 31. Dezember 1944 in die britische Besatzungszone gezogen sind, werden vom Tage des Zuzugs an unbeschränkt steuerpflichtig. Vorauszahlungen, die solche Personen vor ihrem Zuzug an ihrem früheren Wohnsitz für 1945 an das früher zuständig gewesene Finanzamt gezahlt haben, sind nicht erstattungsfähig und dürfen daher auf das Steuersoll 1945 nicht angerechnet werden." Weiter heiße es in Abschnitt 5 der ergänzenden Anweisung zu den Einkommensteuer-Richtlinien 1946: "Zieht ein Steuerpflichtiger nach dem 31. Dezember 1944 aus dem Gebiet außerhalb der vier Besatzungszonen oder der Stadt Berlin in die britische Zone zu, so tritt er vom Tage des Zuzugs an in die unbeschränkte Steuerpflicht ein. Die Folge davon ist, daß ihm früher geleistete Steuerzahlungen nicht angerechnet werden können." Diese Verwaltungsanweisungen stünden anscheinend im Widerspruch zu den früheren reichsrechtlichen Bestimmungen. Trotzdem seien sie nicht als unwirksam anzusehen. Die alten reichsrechtlichen Bestimmungen hätten infolge änderung der tatsächlichen Verhältnisse ihre Grundlage verloren. Sie beruhten auf der Tatsache, daß das Reich und eine einheitliche Finanzverwaltung bestanden hätten. Die Lage habe sich durch den Kriegsausgang grundlegend verändert. In verwaltungsrechtlicher Hinsicht sei das Reich nicht mehr vorhanden. An seine Stelle seien einzelne Länder getreten. Diese betrachteten sich nicht als Rechtsnachfolger des Reiches. Jedes Land habe seine eigene Verwaltung und seinen eigenen Haushalt. Durch diese normative Kraft des Faktischen sei eine solche Veränderung eingetreten, daß die früheren reichsrechtlichen Bestimmungen über Zuständigkeit und Erstattung ihre Grundlage verloren hätten. Es könne deshalb nicht mehr verlangt werden, daß das Wohnsitz-Finanzamt Steuern erstatte, gleich wo und wann sie bezahlt worden seien. Es stehe in der Macht der Länder, die Grenze der Erstattungsmöglichkeit zu bestimmen. Wenn sie dabei die Erstattung der im Reichsgebiet östlich der Oder-Neiße geleisteten Vorauszahlungen nicht einbezogen hätten, so hätten sie im Rahmen des ihnen zustehenden Rechts gehandelt. Sie hätten andererseits auch darauf verzichtet, die Steueransprüche aus der Zeit vor dem 31. Dezember 1944 geltend zu machen.
Entscheidungsgründe
Die Rechtsbeschwerde (Rb.) des Stpfl. wiederholt das Vorbringen bei den Vorbehörden. Sie ist begründet.
Nach dem Zusammenbruch war die Frage strittig, ob das Deutsche Reich als Staat untergegangen sei, oder trotz der bedingungslosen Kapitulation und der totalen Niederlage noch weiter bestehe. Die rechtlichen Grundlagen der gegensätzlichen Auffassungen werden von Stödter in "Deutschlands Rechtslage" (Rechts- und Staatswissenschaftlicher Verlag GmbH Hamburg) und von Nawiaski in "Die Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland" (Kohlhammer-Verlag 1950) im einzelnen dargestellt. Eine übersicht über die Vertreter der gegenteiligen Ansichten enthält der Aufsatz von Klein "Steuer und Wirtschaft" (StW) 1947 Sp. 210 Anm. 107. Klein kommt hierbei zu der Auffassung, daß nicht nur führende Deutsche, sondern auch maßgebliche ausländische Stimmen allmählich zu der fast einheitlichen Meinung gelangt seien, daß es nach wie vor einen Staat und ein völkerrechtliches Subjekt Deutschland gebe. Die gleiche Ansicht hat der Oberste Finanzgerichtshof in dem Gutachten V D 1/46 vom 5. April 1946, StW 1947 Nr. 1, vertreten. Der Schweizer Bundesrat hat den rechtlichen Status Deutschlands im Jahre 1945 dahin formuliert: En droit l Allemagne est demeuree pour la Suisse un Etat, mais n'a plus la capacite en tant que personne internationale." Ausdrücklich heißt es in der Stellungnahme des Bundesrats, daß die Staatsverträge zwischen der Schweiz und Deutschland fortbestünden (im einzelnen siehe Stödter a. a. O. S. 83 und die Bekanntmachungen der Bundesregierung über die Vermeidung von Doppelbesteuerungen im Verhältnis zu Schweden, zur Schweiz und zu österreich vom 27. Juni 1951, Bundesgesetzblatt - BGBl. - II S. 151).
Die entscheidende Frage besteht darin, ob die deutsche Staatsgewalt nach 1945 weiter bestanden hat. Sie hängt nicht von dem Fortbestehen des Regierungssystems ab, sondern ist mit der Frage verbunden, ob das deutsche Volk, wie es in dem Deutschen Reiche vereinigt war, weiterhin die Staatsgewalt über das Staatsgebiet und das Staatsvolk ausgeübt hat. Auf Grund seiner eingehenden Betrachtung kommt Stödter S. 246 seines Werkes zu folgendem Ergebnis: "Das Reich besteht als Staat fort; es befindet sich im Zustande kriegerischer Besetzung. Die alliierten Besatzungsmächte üben in Deutschland eine völkerrechtliche Okkupationsgewalt nach Maßgabe der Haager Landkriegsordnung und des dieser zugrunde liegenden allgemeinen Völkerrechts aus. Die Deutsche Reichsgewalt ist infolge der Okkupation zunächst verdrängt."
Diese Auffassung hat sich auch im Grundgesetz durchgesetzt.
Wie in dem Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, neue Folge Bd. 1 (1951 J. C. B. Mohr, Tübingen) S. 21 dargestellt wird, lagen dem Herrenchiemsee-Konvent zwei Vorschläge zur Präambel des Grundgesetzes vor. Nach der Auffassung der überwiegenden Mehrheit des Konvents war das Deutsche Reich als Staat und Rechtssubjekt nicht untergegangen, sondern lediglich desorganisiert und seiner Geschäftsfähigkeit beraubt worden. Es könne sich also nicht darum handeln, Deutschland staatlich neu zu konstituieren, sondern ausschließlich darum, es neu zu organisieren. Demgegenüber vertrat eine Minderheit die Auffassung, daß Deutschland auf Grund der 1945 erfolgten Debellation aufgehört habe, als staatliche Wirklichkeit zu bestehen, und es also nicht nur neu organisiert, sondern neu konstituiert werden müsse.
Im Parlamentarischen Rat wurden die Auffassungen des Mehrheitsvorschlages übernommen. In der Präambel des Grundgesetzes ist in gleicher Weise wie in derjenigen der Verfassung des Deutschen Reiches von 1919 das "Deutsche Volk" als Träger des Staates bezeichnet und damit eindeutig festgelegt, daß kein Wandel hinsichtlich des Inhabers der Staatsgewalt eingetreten ist.
Die Gedanken, die in der Präambel des Grundgesetzes ihren Ausdruck finden sollten, wurden in der siebenten Sitzung des Grundsatzausschusses eingehend erörtert und von dem Vorsitzenden, Abgeordneter Dr. v. Mangoldt, in der achten Sitzung (7. Oktober 1948 als Richtlinie für die mit der Formulierung betraute Redaktionskommission festgestellt. Ziffer 5 der übersicht lautet: "Die Kontinuität des neuen Bundesstaates im Verhältnis zur Weimarer Republik, wie überhaupt zum Deutschen Reich der Jahre vor 1945, sowohl hinsichtlich der Staatsgewalt wie auch hinsichtlich des Gebietes." Im einzelnen siehe Jahrbuch des öffentlichen Rechts Bd. 1 S. 23.
Die gleichen Ansichten werden auch in der neuen Literatur vertreten, so in dem Aufsatz von Krüger "Bundesrepublik Deutschland und Deutsches Reich", Süddeutsche Juristenzeitung 1950 Sp. 113 ff., und von Scheuner "Die staatsrechtliche Kontinuität in Deutschland", Deutsches Verwaltungsblatt 1950 S. 481 ff.
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß es heute unbestritten ist, daß das Deutsche Reich als Staat nicht untergegangen ist, sondern völkerrechtlich weiterbesteht, nicht mehr als Reich, sondern nach dem Grundgesetz als Bundesrepublik. Diese Auffassung muß zu dem Ergebnis führen, daß die Bundesrepublik Deutschland (der Bund und die Länder, siehe überschrift Abschnitt II GG) in die Rechte und Verpflichtungen des Reiches eingetreten ist, soweit die Westzonen an ihnen beteiligt sind. Diese Folgerung hat bereits das Grundgesetz gezogen, so in den Artikeln 123 und 131. Auch die spätere Gesetzgebung der Bundesrepublik hat dem stets Rechnung getragen.
Von den gleichen Gedankengängen hinsichtlich des Fortbestehens Deutschlands als Staat ging auch die bisherige Rechtsprechung des Obersten Finanzgerichtshofs und des Bundesfinanzhofs aus, so in dem Gutachten des Obersten Finanzgerichtshofs I D 6/49 S vom 27. August 1949, Ministerialblatt des Bundesministeriums der Finanzen (MinBlFin.) 1950 S. 336, Amtsblatt des Bayer. Staatsministeriums der Finanzen (Bay. FMBl.) 1949 S. 383; Entscheidung des Obersten Finanzgerichtshofs IV 23/49 S vom 25. November 1949, MinBlFin. 1950 S. 340, Bay.FMBl. 1950 S. 32; Gutachten des Bundesfinanzhofs I D 4/50 S vom 25. Januar 1951, Bundessteuerblatt (BStBl.) III S. 68, Bay.FMBl. 1951 S. 143; Entscheidung des Bundesfinanzhofs I 22/51 S vom 30. April 1951, BStBl. III S. 131, Bay.FMBl. 1951 S. 342.
Diese Grundsätze führen dazu, daß die Veranlagung eines Stpfl., sofern im übrigen die Voraussetzungen hierzu gegeben sind, nicht mit der Begründung verweigert werden kann, wie sie die Ausführungen der Finanzleitstelle für die britische Zone enthalten. Es ist denkbar, daß bei vertriebenen Deutschen von der Durchführung einer Veranlagung mit Rücksicht auf § 131 der Reichsabgabenordnung (AO) verzichtet wird, weil es der Billigkeit widersprechen würde, formell entstandene Steuern von Stpfln. einfordern zu wollen, die ihr Vermögen und ihre Existenzgrundlage in den Gebieten östlich der Oder-Neiße verloren haben. Es ist aber nicht zulässig, auf diese Weise die Erstattung überzahlter Steuern verweigern zu wollen. Die Teilung Deutschlands in die verschiedenen Besatzungszonen, insbesondere in die Ostzone auf der einen Seite und die Westzonen auf der anderen Seite, kann für die Zeit vor dem 20. Juni 1948 dazu führen, nach Art eines innerdeutschen Finanzausgleiches den Gesamtbetrag der geschuldeten Steuer auf die Beträge, die auf die einzelnen Einkommensquellen in den verschiedenen Zonen zurückgehen, zum Zwecke der Erhebung durch verschiedene Finanzämter aufzuteilen. Dieser Tatsache kann auch schon bei der Veranlagung Rechnung getragen werden. Der Gesamtbetrag der geschuldeten Steuer wird dann nicht mehr einheitlich bei einem Finanzamt festgestellt und erhoben, sondern teilweise z. B. durch ein Finanzamt der Ostzone, teilweise durch ein Finanzamt der Westzonen. Für die Zeit vor der Währungsreform, wo für Deutschland einheitlich das Einkommensteuergesetz 1939 unter Berücksichtigung der änderungen des Kontrollratsgesetzes (KontrRG) Nr. 12 gegolten hat, darf jedoch kein Betrag festgesetzt und erhoben werden, der den Gesamtbetrag der nach dem Einkommensteuergesetz geschuldeten Steuern übersteigt. Im einzelnen wird auf das Gutachten des Obersten Finanzgerichtshofs I D 6/49 S vom 27. August 1949 verwiesen. Auf Grund des § 1 Absatz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1950 hat sich die Rechtslage geändert. In begrenztem Umfange ist dies bereits für II/1948 und 1949 mit Rücksicht auf die gegenüber der Ostzone abweichenden Fassung des Einkommensteuergesetzes 1949 der Fall.
Im vorliegenden Falle ist für den Stpfl. ein Finanzamt in Nordrhein-Westfalen zuständig. Man muß davon ausgehen, daß für die im Jahre 1945 in die Westzonen übersiedelten Deutschen aus dem Gebiet östlich der Oder-Neiße die Westzonen die Verpflichtung zur Tragung der aus dem Jahre 1944 stammenden steuerlichen Verbindlichkeiten des Reiches übernommen haben. Einer einseitigen Belastung einzelner Länder auf diesem Gebiete würde der Finanzausgleich unter den Ländern entgegenwirken. Für den Bf. ist somit die Veranlagung 1944 durch das nunmehr zuständige Finanzamt durchzuführen. Etwaige zu hohe Vorauszahlungen an das Finanzamt in Westpreußen sind entsprechend den Vorschriften der §§ 150 ff. AO zu erstatten. Dem steht nicht entgegen, daß der Bf. nach den Angaben in seiner Rb. von 1937 bis Mitte 1945 einen zweiten Wohnsitz in den jetzigen Westsektoren in Berlin hatte.
Nach Auffassung des Finanzgerichts entspricht der Einkommensteuerbescheid des Finanzamts nicht den tatsächlichen Verhältnissen. Es erscheint angezeigt, die Vorentscheidung die Einspruchsentscheidung und den Steuerbescheid des Finanzamts aufzuheben und die Sache an das Finanzamt zurückzuverweisen. Es wird auf diese Weise die Möglichkeit gegeben, ein vollkommen neues Verfahren unter Berücksichtigung der oben dargestellten Grundsätze durchzuführen.
Fundstellen
Haufe-Index 407365 |
BStBl III 1952, 128 |
BFHE 1953, 324 |
BFHE 56, 324 |