Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld: Keine Korrektur eines während des Kalenderjahres ergangenen bestandskräftigen Kindergeldbescheides aufgrund geänderter Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG
Leitsatz (NV)
1. § 70 Abs. 4 EStG ist nicht anwendbar, wenn der maßgebliche Jahresgrenzbetrag allein deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat. Dies gilt auch dann, wenn der anteilige Grenzbetrag nur aufgrund des Abzugs der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge nicht überschritten wird.
2. Der in einem Kindergeldbescheid enthaltene Hinweis, es könne ein erneuter Antrag auf Kindergeldfestsetzung gestellt werden, falls nach Ablauf des Jahres feststehe, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den jährlichen Grenzbetrag nicht überschritten hätten, ist weder als verbindliche Zusage noch als Festsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung oder als vorläufige Festsetzung hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge des Kindes zu werten.
Normenkette
AO § 164 Abs. 1, § 165 Abs. 1; BGB § 242; EStG § 32 Abs. 4, § 70 Abs. 4
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) hat eine am 22. Januar 1987 geborene Tochter, für welche er Kindergeld erhielt.
Mit Bescheid vom 17. Dezember 2004 lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) den Antrag des Klägers auf Kindergeld für die Monate Februar bis Dezember 2005 ab, da die Einkünfte und Bezüge der Tochter in diesem Zeitraum voraussichtlich den anteiligen Grenzbetrag in Höhe von (7 680 € x 11/12 =) 7 040 € (§ 32 Abs. 4 Sätze 2 und 7 des Einkommensteuergesetzes --EStG-- in der für das Jahr 2005 geltenden Fassung) überstiegen.
Am 12. April 2005 bat der Kläger unter Vorlage einer Bescheinigung über die Berufsausbildungsbeihilfe um eine Neuberechnung der Einkünfte und Bezüge der Tochter. Mit Bescheid vom 18. April 2005 lehnte die Familienkasse abermals die Festsetzung von Kindergeld ab, weil die voraussichtlichen Einkünfte und Bezüge der Tochter weiterhin den anteiligen Jahresgrenzbetrag überstiegen. Im Anschluss an die Rechtsbehelfsbelehrung enthielt dieser Bescheid folgenden "wichtigen Hinweis": "Falls nach Ablauf des Jahres feststeht, dass die Einkünfte und Bezüge Ihres Kindes den Grenzbetrag nicht überschritten haben, können Sie einen erneuten Antrag auf Festsetzung des Kindergeldes stellen." Der Bescheid wurde nicht angefochten.
Nach Veröffentlichung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260), nach der die Einbeziehung von Sozialversicherungsbeiträgen des Kindes in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes verstoße, setzte die Familienkasse auf Antrag des Klägers mit Bescheid vom 11. November 2005 Kindergeld ab Mai 2005 fest. Für die Monate Februar bis April 2005 lehnte sie die Festsetzung von Kindergeld ab, da mit dem Bescheid vom 18. April 2005 die Kindergeldfestsetzung bestandskräftig abgelehnt worden sei. Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb ohne Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) änderte den Bescheid vom 11. November 2005 unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung und gewährte dem Kläger ab dem Monat Februar 2005 Kindergeld. Es führte im Wesentlichen aus, die Bestandskraft des Bescheids vom 18. April 2005 stehe der Festsetzung von Kindergeld ab Februar 2005 nicht entgegen, da dieser Bescheid nach § 70 Abs. 4 EStG geändert werden könne. Hinzu komme, dass der Kläger den dort erteilten "wichtigen Hinweis" nur dahingehend habe verstehen können, dass vor einer abschließenden Beurteilung der Einkünfte und Bezüge jederzeit eine Änderung der Kindergeldfestsetzung möglich sei. Eine Berufung der Familienkasse auf die Bestandskraft des Ablehnungsbescheids verstoße daher gegen Treu und Glauben (vgl. Urteil des Hessischen FG vom 6. April 2006 3 K 3760/05, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2006, 1181).
Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse die Verletzung des § 70 Abs. 4 EStG.
Sie beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Entgegen der Auffassung des FG kann für den Zeitraum Februar bis April 2005 kein Kindergeld gewährt werden, da der Bescheid, mit dem die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für diesen Zeitraum abgelehnt hat, bestandskräftig geworden ist und weder aufgrund einer Zusage der Familienkasse noch nach § 70 Abs. 4 EStG zu ändern ist.
1. Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG besteht für ein volljähriges Kind kein Anspruch auf Kindergeld, wenn es Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von mehr als 7 680 € im Kalenderjahr 2005 hat. Für jeden Kalendermonat, in dem die Voraussetzungen nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 oder 2 EStG an keinem Tag vorliegen, ermäßigt sich der Betrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG um ein Zwölftel (§ 32 Abs. 4 Satz 7 EStG). Einkünfte und Bezüge des Kindes, die auf diese Kalendermonate entfallen, bleiben außer Ansatz (§ 32 Abs. 4 Satz 8 EStG).
2. Die Familienkasse hat mit dem Bescheid vom 18. April 2005 die Kindergeldfestsetzung ab Februar 2005 abgelehnt, weil nach ihrer Berechnung die Einkünfte und Bezüge des Kindes in den Monaten Februar bis Dezember 2005 den anteiligen Jahresgrenzbetrag in Höhe von 7 040 € überstiegen. Dieser Bescheid ist bestandskräftig geworden, da der Kläger nicht innerhalb der Monatsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) Einspruch eingelegt hat. Die darin getroffene Regelung über den Kindergeldanspruch ist bindend bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe dieses Bescheids, also bis Ende April 2005 (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 25. Juli 2001 VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88).
Die Bestandskraft des Ablehnungsbescheids vom 18. April 2005 wird durch den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 nicht berührt. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, grundsätzlich unberührt. Dies gilt analog, wenn das BVerfG --wie im Streitfall-- lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt hat (Senatsurteil vom 28. Juni 2006 III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).
Der Bescheid ist auch wirksam. Denn ein Bescheid, der auf einer von einer Entscheidung des BVerfG abweichenden Auslegung einer Rechtsnorm beruht, ist zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig (Senatsurteil in BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).
3. Der Bescheid vom 18. April 2005 ist entgegen der Auffassung des FG nicht nach § 70 Abs. 4 EStG zu ändern. § 70 Abs. 4 EStG ist nicht anwendbar, wenn der Jahresgrenzbetrag allein deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat. § 70 Abs. 4 EStG ermöglicht nur dann die Aufhebung oder Änderung eines Kindergeldbescheids, wenn sich nach Ablauf des Kalenderjahrs von der Prognose der Familienkasse abweichende tatsächliche Änderungen hinsichtlich des Betrags der Einkünfte und Bezüge ergeben haben (Senatsurteil vom 28. November 2006 III R 6/06, BFH/NV 2007, 338). Dies gilt auch dann, wenn --wie im Streitfall-- der anteilige Grenzbetrag nur aufgrund des Abzugs der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge nicht überschritten wird.
4. Entgegen der Auffassung des FG kann der Bescheid vom 18. April 2005 auch nicht aufgrund des darin enthaltenen "wichtigen Hinweises" geändert werden. Ein solcher Hinweis ist weder als verbindliche Zusage, der Bescheid könne vor einer abschließenden Beurteilung der Einkünfte und Bezüge des Kindes jederzeit geändert werden, noch als Festsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO) oder als vorläufige Festsetzung hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge des Kindes (§ 165 Abs. 1 AO) zu werten (Senatsurteil vom 15. März 2007 III R 39/06, BFH/NV 2007, 1459).
Fundstellen