Entscheidungsstichwort (Thema)
Einkommensteuer, Lohnsteuer, Kirchensteuer
Leitsatz (amtlich)
1.Die Vorschrift des § 32a EStG 1957 verstößt nicht dadurch gegen das Grundgesetz, daß sie bei getrennter Veranlagung (§ 26a EStG 1957) auch über 55 Jahre alter Ehegatten die Anwendung der Steuerklasse I anordnet.
2.Es ist mit dem Grundgesetz vereinbar, daß der Altersfreibetrag bei getrennter Veranlagung (§ 26a EStG 1957) jedem über 70 Jahre alten Ehegatten nur mit 360 DM gewährt wird (§ 32 c Satz 3 EStG 1957).
GG Art. 6 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1; EStG 1957 §§ 26a, 32a, 32 c.
Normenkette
EStG §§ 26a, 32a, 32c; GG Art. 6 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1
Tatbestand
Die beschwerdeführenden Eheleute leben seit 1923 im Güterstand der allgemeinen Gütergemeinschaft. Der Ehemann ist 1874, die Ehefrau 1883 geboren. 1955 hatten die Ehegatten aus dem vorbehaltenen Nießbrauch an einem den Kindern übertragenen und von ihnen verpachteten landwirtschaftlichen Besitz Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung von rund 13.000 DM sowie aus Kapitalvermögen von rund 200 DM. Die Beschwerdeführer (Bf.) beantragten gemäß § 26a des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1957 getrennte Veranlagung mit gleichmäßiger Verteilung der Einkünfte, der Sonderausgaben und des Altersfreibetrags. Das Finanzamt veranlagte sie dementsprechend und wandte unter Berufung auf § 32a EStG 1957 die Steuerklasse I an. Beide Bf. erstreben - entgegen § 32a EStG 1957 - die Besteuerung nach Steuerklasse II sowie den vollen Altersfreibetrag von 720 DM (§ 32 c EStG 1957) für jeden von ihnen, weil beide über 70 Jahre alt sind. Sie halten § 32a EStG 1957 für verfassungswidrig, weil er über 55 Jahre alte Ehegatten bei getrennter Veranlagung schlechter stelle als über 55 Jahre alte unverheiratete Personen, die gemäß § 32 Abs. 3 Ziff. 2 EStG 1957 nach Steuerklasse II besteuert werden. Ebenso halten sie es für verfassungswidrig, daß nach § 32 c Satz 3 EStG 1957 bei getrennter Veranlagung nach § 26a EStG 1957 jedem Ehegatten, der das 70. Lebensjahr vollendet hat, ein Freibetrag von 360 DM zusteht statt des Freibetrags von 720 DM, der einem über 70 Jahre alten unverheirateten Steuerpflichtigen gewährt wird.
Das Finanzgericht wies die Sprungberufung als unbegründet zurück. Es hält die von den Bf. erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 32a und § 32 c Satz 3 EStG 1957 für nicht begründet. Seine Entscheidung ist in den Entscheidungen der Finanzgerichte 1958 S. 405 veröffentlicht.
Entscheidungsgründe
Die Rechtsbeschwerden (Rben.) können keinen Erfolg haben.
Zutreffend haben die Vorinstanzen den in Gütergemeinschaft lebenden Ehegatten je die Hälfte der mit dem gemeinschaftlichen Vermögen zusammenhängenden Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung sowie aus Kapitalvermögen zugerechnet (vgl. Gutachten des Senats VI D 1/58 S vom 18. Februar 1959, BStBl 1959 III S. 263).
In der Entscheidung VI 90/58 U vom 8. August 1958 (BStBl 1958 III S. 418, Slg. Bd. 67 S. 375) hat der Senat die Vorschrift des § 32 a EStG 1957 für verfassungsgerecht erklärt. Der vorliegende Tatbestand ist anders als in der Sache VI 90/58 U, weil damals beide Ehegatten das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten und demnach, auch wenn sie als Unverheiratete veranlagt worden wären, in die Steuerklasse I, und nicht gemäß § 32 Abs. 3 Ziff. 2 EStG 1957 in Steuerklasse II eingeordnet worden wären. Die Bf. würden dagegen, weil sie 1955 das 55. Lebensjahr weit überschritten hatten, bei der Veranlagung als Unverheiratete nach § 32 Abs. 3 Ziff. 2 EStG 1957 einen Anspruch auf Einordnung in die Steuerklasse II gehabt haben.
Der Senat hält jedoch die Vorschrift des § 32 a EStG 1957 auch in Fällen der vorliegenden Art für verfassungsrechtlich einwandfrei. Grundsätzlich verstößt es, wie in der Entscheidung VI 90/58 U ausgeführt ist, nicht gegen Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG), wenn der Gesetzgeber in dem Gesetz zur Änderung steuerrechtlicher Vorschriften vom 26. Juli 1957 (BGBl 1957 I S. 848, BStBl 1957 I S. 352) Ehegatten, die die getrennte Veranlagung gemäß § 26a EStG 1957 beantragen, also bei der Zurechnung der Einkünfte wie Unverheiratete behandelt werden wollen, auch hinsichtlich der Steuerklasse wie Unverheiratete behandelt. Das ist verfassungsrechtlich um so unbedenklicher, als das Gesetz den Ehegatten freistellt, die Zusammenveranlagung zu beantragen und dadurch die Anwendung der familiengerechten Steuerklasse auf ihr ganzes gemeinsames Einkommen zu erreichen. Wesentlich ist auch, daß die Regelung des Übergangsgesetzes vom 26. Juli 1957 eine durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Januar 1957 notwendig gewordene, kurz befristete Übergangslösung ist, die bereits zum 1. Januar 1958 durch die endgültige Regelung einer auf dem Splittingtarif aufgebauten Ehegattenbesteuerung abgelöst wurde, die unbestritten dem GG nicht widerspricht. Bei der überraschend notwendig gewordenen Übergangslösung für die Ehegattenbesteuerung mußte der Gesetzgeber mannigfache, sich teilweise überschneidende Gesichtspunkte berücksichtigen. Er mußte vor allem auch dem Gedanken Rechnung tragen, daß die Ehegatten, die eine getrennte Veranlagung erreichen konnten, teilweise wesentlich weniger an Einkommensteuer zu entrichten hatten als Ehegatten in den zahlenmäßig weit überwiegenden Fällen, in denen der Ehemann allein das Familieneinkommen erzielte und die Ehefrau als Hausfrau tätig war und sich der Erziehung der Kinder widmete. Im Streitfall minderte sich z. B. trotz des verhältnismäßig geringen Einkommens bei der getrennten Veranlagung gegenüber der Zusammenveranlagung für beide Bf. zusammen die Einkommensteuer um 370 DM. Wie der Bundesfinanzhof wiederholt ausgesprochen hat, sieht er das Schwergewicht der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darin, daß die Zusammenveranlagung der Ehegatten gemäß § 26 EStG alter Fassung in Verbindung mit dem steilen Progressionstarif als mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar betrachtet wurde (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs I 335/56 U vom 2. April 1957, BStBl 1957 III S. 162, Slg. Bd. 64 S. 432; I 231/56 S vom 3. Dezember 1957, BStBl 1958 III S. 27, Slg. Bd. 66 S. 66). Den vom Bundesverfassungsgericht erhobenen Bedenken hat der Gesetzgeber dadurch Rechnung getragen, daß er für die Veranlagungszeiträume 1949 bis 1957 die getrennte Veranlagung der Ehegatten mit ihren Einkünften vorschrieb. Wenn er darüber hinaus den Ehegatten die Wahl ließ, zusammen veranlagt bzw. unter bestimmten Voraussetzungen nur mit bestimmten Einkünften zusammen veranlagt zu werden (§§ 26b - 26e EStG 1957), so hat er mehr getan, als nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts notwendig geworden war. Mit der Neuregelung hatte der Gesetzgeber dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Art. 6 Abs. 1 GG, wie ihn das Bundesverfassungsgericht ausgelegt hatte, jedenfalls voll Rechnung getragen (Urteil des Senats VI 315/58 U vom 20. März 1959, BStBl 1959 III S. 218). Er war nicht gehalten, bei der Neuregelung den Tatbestand der Ehe in jeder Hinsicht außer Betracht zu lassen und Ehegatten, die die getrennte Veranlagung vorzogen, weil es ihnen steuerlich günstiger war, in jeder Hinsicht wie Unverheiratete zu behandeln (Urteil des Senats VI 9/56 S vom 24. Januar 1958, BStBl 1958 III S. 77, Slg. Bd. 66 S. 197). Ehegatten sind eben nicht Unverheiratete. Der Gesetzgeber war nicht verpflichtet, insbesondere auch nicht auf Grund von Art. 6 Abs. 1 GG, wenn er Unverheirateten wegen der durch ihren Familienstand im allgemeinen veranlaßten Mehrbelastungen unter dem Gesichtspunkt der steuerlichen Leistungsfähigkeit einige steuerliche Sondervergünstigungen von nicht erheblicher Tragweite zugestand, Ehegatten, bei denen nach der Lebenserfahrung gewöhnlich diese Voraussetzungen nicht vorliegen, dann, wenn sie die getrennte Veranlagung wegen der damit verbundenen steuerlichen Vorteile wählten, auch die gleichen Tarifvorteile wie Unverheirateten zu gewähren. Es lassen sich jedenfalls für die im Gesetz getroffene Regelung gut Gründe anführen. Keinesfalls kann man sagen, daß der Gesetzgeber sich im Übergangsgesetz vom 26. Juli 1957 ohne ernsthaftes Abwägen willkürlich über die Grundrechte des Art. 3 Abs. 1 (Gleichheitsgrundsatz) und Art. 6 Abs. 1 GG (Schutz und Förderung der Ehe durch den Staat) hinweggesetzt habe.
Die Bf. verkennen die verfassungsrechtliche Stellung der Gerichte in einem demokratischen Rechtsstaat, wenn sie glauben, die Gerichte seien berufen oder auch nur berechtigt, durch Auslegung der Grundrechte in den Bereich des politischen Ermessens der Gesetzgebung einzugreifen. Das GG wollte die Gerichte dadurch, daß es ihnen in Art. 1 Abs. 3 den Auftrag gab, auch die Wahrung der Grundrechte durch den Gesetzgeber zu überwachen, keineswegs, wie es der Senat in der Entscheidung VI 20/58 U vom 28. Februar 1958 (BStBl 1958 III S. 196, Slg., Bd. 66 S. 512) ausgedrückt hat, zum "Obergesetzgeber" machen. Sie sollten nicht etwa bis in Einzelheiten hinein die Gesetzgebung gängeln und letzten Endes ihre Vorstellungen von politischer Zweckmäßigkeit dem Gesetzgeber aufdrängen können. Eine solche Betrachtung wäre mit dem Grundsatz der Dreiteilung der Staatsgewalt (Art. 20 GG) unvereinbar. Er ist das Fundamentalprinzip eines demokratischen Rechtsstaats und ist deshalb mindestens nicht weniger Verfassungsrecht als die Grundrechte der Bürger. Es wäre mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung unvereinbar, wenn die politisch nichtverantwortlichen Gerichte dadurch, daß sie die Grenzen zur Kontrolle der Gesetzgebung durch Auslegung der Grundrechte allzu weit steckten, versuchen wollten, in den Bereich der den Wählern politisch verantwortlichen Gesetzgebung einzudringen. Eine solche Entwicklung würde, wie Klein sich ausdrückt ("Finanzarchiv" 1957/1958 S. 274), zu einer "Juridifizierung der Politik" oder zu einer "Politisierung der Justiz" führen. Das liegt nicht im Sinne des GG (Hartz, Steuerberater-Jahrbuch 1958/1959 S. 66 ff., 87 ff.).
Der Gesetzgeber war offensichtlich bemüht, beim Übergangsgesetz vom 26. Juli 1957 - allen Schwierigkeiten zum Trotz - den vom Bundesverfassungsgericht zu Art. 6 Abs. 1 GG entwickelten Grundsätzen Rechnung zu tragen; er hat deswegen sogar erhebliche Komplizierungen in der Rechtsgestaltung hingenommen, die jetzt den Verwaltungsbehörden und den Steuerpflichtigen die Rechtsanwendung wesentlich erschweren. Wenn der Gesetzgeber dann in einer Randfrage, der keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, und bei der, wie zuzugeben ist, auch eine andere Regelung vertretbar gewesen wäre, sich unter Abwägung aller Gesichtspunkte für eine der mehreren möglichen Lösungen entschieden hat, so kann es nicht Sache der Gerichte sein, die Gesetzgebung zu korrigieren und zu verlangen, daß die Gesetzgebung die dem Gericht besser scheinende Lösung anwenden müsse (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs III 125/57 S vom 28. Februar 1958, BStBl 1958 III S. 191 ff., besonders S. 194; Urteil des Senats VI 164/58 U vom 19. September 1958, BStBl 1958 III S. 442, Slg. Bd. 67 S. 442).
Die von den Bf. als verfassungswidrig beanstandeten Vorschriften der §§ 32 a und 32 c Satz 3 EStG 1957 sind mit dem GG vereinbar und verletzen kein Grundrecht. Da weitere Einwendungen nicht erhoben werden, mußten die Rben. als unbegründet zurückgewiesen werden.
Wegen der streitigen Rechtsfrage schwebt ein Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ("Der Betrieb" 1958 S. 788). Der Senat hält es nicht für richtig, entsprechend den Anträgen der Bf. die Entscheidungen über die Rben. auszusetzen, bis die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergangen ist (Urteil des Senats VI 147/58 U vom 20. Februar 1959, BStBl 1959 III S. 172). Ist die Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm bestritten, so entspricht es der Stellung des zuständigen oberen Bundesgerichts, bei der ersten Gelegenheit seine Auffassung zu der Streitfrage bekanntzugeben.
Fundstellen
Haufe-Index 409475 |
BStBl III 1959, 409 |
BFHE 69, 398 |