Leitsatz (amtlich)
1. Hat das FA auf den Einspruch des Haftungsschuldners den gegen diesen erlassenen Haftungsbescheid zurückgenommen, so liegt in dem späteren Erlaß eines erneuten Haftungsbescheids für denselben Sachverhalt die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts, die nur unter den Voraussetzungen des § 130 Abs.2 AO 1977 zulässig ist.
2. Zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen der Geschäftsführer einer GmbH durch Niederlegung seines Amtes sich dem Haftungsrisiko für Steuerschulden der Gesellschaft entziehen kann.
Orientierungssatz
1. Die Regelung des § 130 Abs. 2 AO 1977 ist ein Ausfluß des Grundsatzes des Vertrauensschutzes. Sind die Rücknahme eines Haftungsbescheids und die erneute Inanspruchnahme des Haftungsschuldners in derselben Verfügung erfolgt, konnte die Zurücknahme dieses Bescheids kein schutzwürdiges Vertrauen begründen, das eine Neufestsetzung des Haftungsbetrags nur unter eingeschränkten Voraussetzungen rechtfertigen würde (entgegen Lit.).
2. Einspruchsentscheidungen und Abhilfebescheide, die nach erneuter Prüfung der Sache im Einspruchsverfahren ergangen sind, unterliegen wegen des durch sie begründeten Vertrauens des Steuerpflichtigen einer erhöhten Bestandsgarantie. Sie können bei unverändertem Sachverhalt in der Regel nicht lediglich aufgrund geänderter Rechtsauffassung der Verwaltung abgeändert werden (vgl. BFH-Rechtsprechung).
3. Geschäftsführerhaftung: Der Geschäftsführer einer GmbH ist grundsätzlich rechtlich nicht befugt, über finanzielle Mittel eines anderen zugunsten der GmbH zu verfügen, wenngleich dieser Gesellschafter und ebenfalls Geschäftsführer der GmbH ist. Das gilt auch dann, wenn dem Geschäftsführer über das Privatkonto des anderen Vollmacht erteilt worden ist.
4. Reichen die tatsächlichen Feststellungen des FG nicht aus, um den Erlaß des angefochtenen Haftungsbescheids nach § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 wegen unrichtiger Angaben bei der Erwirkung der vorangegangenen Rücknahmeverfügung zu rechtfertigen, liegt ein ohne Rüge nachprüfbarer materieller Mangel des angefochtenen Urteils vor (vgl. BFH-Rechtsprechung; Lit.).
5. Der Geschäftsführer einer GmbH kann jedenfalls aus einem von der GmbH zu vertretenden wichtigen Grund sein Amt jederzeit niederlegen, ohne zugleich das Angestelltenverhältnis kündigen zu müssen (vgl. BGH-Urteil vom 9.2.1978 II ZR 189/76; Lit.). Die Erklärung der Amtsniederlegung führt auch dann zum sofortigen Verlust der Organstellung, wenn über das Vorliegen eines wichtigen Grundes, der den Geschäftsführer zur Kündigung berechtigt, zwischen den Beteiligten Streit besteht. Nach der Amtsniederlegung kommt eine Haftung des (ehemaligen) Geschäftsführers für die von diesem Zeitpunkt an von der GmbH abzuführende Lohnsteuer nicht mehr in Betracht. Dies gilt selbst dann, wenn der ehemalige Geschäftsführer aufgrund eines fortbestehenden Angestelltenverhältnisses weiterhin Lohnsteueranmeldungen für die GmbH unterzeichnet und dem FA eingereicht hat.
Normenkette
AO 1977 § 130 Abs. 2; AO §§ 103, 109 Abs. 1; GmbHG § 38; FGO § 118 Abs. 2, § 76 Abs. 1
Tatbestand
I. Der Kläger war Geschäftsführer einer GmbH, die im Jahre 1973 zahlungsunfähig wurde. Er war als Geschäftsführer für den kaufmännischen Bereich zuständig, während der Mitgeschäftsführer W für den technischen Bereich bestellt worden war. Die GmbH unterhielt Bankkonten bei der Bank für Gemeinwirtschaft (BfG), bei der Stadtsparkasse sowie bei der Kreissparkasse. Der Kläger und W waren einzelverfügungsberechtigt über das Konto bei der BfG; über die Konten bei der Stadt- und Kreissparkasse hatte ausschließlich W die Verfügungsmacht. Über ein privates Konto des Geschäftsführers W bei der Dresdner Bank war dem Kläger Vollmacht erteilt worden.
Das FA nahm den Kläger durch Haftungsbescheid vom 19.Dezember 1973 wegen Lohnsteuer, die die GmbH nicht abgeführt hatte, in Anspruch. Nachdem das FA auf den Einspruch des Klägers den Haftungsbescheid durch Verfügung vom 16.Mai 1975 zurückgenommen hatte, erließ es am 19.August 1975 erneut einen Haftungsbescheid gegen den Kläger. Diesen zweiten Bescheid und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung nahm das FA aus formellen Gründen durch Bescheid vom 5.Oktober 1977 zurück. Es erließ in derselben Verfügung wiederum einen Haftungsbescheid gegen den Kläger, der wie der aufgehobene Bescheid von rückständiger Lohnsteuer der GmbH für die Monate Oktober 1972 bis einschließlich April 1973 im Gesamtbetrag von 36 000 DM ausging. Das FA beschränkte im Haftungsbescheid vom 5.Oktober 1977 das Leistungsgebot auf Rückstände in Höhe von 15 000 DM.
Der Einspruch und die Klage des Klägers gegen den Haftungsbescheid vom 5.Oktober 1977 blieben erfolglos.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision des Klägers führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
1. a) Das FG hat ausgeführt, das FA sei durch die Rücknahme des ursprünglichen Haftungsbescheids vom 19.Dezember 1973 durch die Verfügung vom 16.Mai 1975 nicht gehindert gewesen, den den Gegenstand des Klage- und Revisionsverfahrens bildenden Haftungsbescheid vom 5.Oktober 1977 zu erlassen. Es hat dabei die gesetzlichen Voraussetzungen verkannt, nach denen ein Haftungsschuldner aufgrund desselben Sachverhalts erneut durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden kann, nachdem ein zuvor gegen ihn ergangener Haftungsbescheid zurückgenommen worden ist. Zwar trifft es zu, daß die erneute Inanspruchnahme des Klägers durch den Haftungsbescheid vom 5.Oktober 1977 nicht an das Bekanntwerden neuer Tatsachen gebunden war (vgl. § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977). Denn der angefochtene Haftungsbescheid ist nach Inkrafttreten der AO 1977 aufgrund des § 191 Abs.1 AO 1977 ergangen. Bei derartigen Haftungsbescheiden sind nicht mehr die Vorschriften über die Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden (jetzt §§ 172 ff. AO 1977) sinngemäß anzuwenden (so früher § 97 Abs.2 AO). Das bedeutet aber nicht, daß ein Haftungsbescheid nach § 191 AO 1977 unabhängig davon, ob er einen vorausgegangenen Haftungsbescheid ändert, ersetzt oder nach dessen Zurücknahme neu ergeht, uneingeschränkt erlassen werden kann. Vielmehr gelten nunmehr für die Haftungsbescheide die allgemeinen Vorschriften für Verwaltungsakte im Dritten Teil der AO 1977 (BFH-Urteil vom 28.Januar 1982 V R 100/80, BFHE 135, 27, BStBl II 1982, 292; Urteil des erkennenden Senats vom 24.Juli 1984 VII R 122/80, BFHE 141, 470, BStBl II 1984, 791; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11.Aufl., § 191 AO 1977 Anm.18, 24; Offerhaus in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtordnung, 8.Aufl., § 191 AO 1977 Anm.63, 97; Helsper in Koch, Abgabenordnung - AO 1977, 2.Aufl., § 191 Anm.19; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung (AO 1977)/Finanzgerichtsordnung, 13.Aufl., § 191 AO 1977 Anm.2).
b) Nach § 130 AO 1977 können rechtswidrige Verwaltungsakte grundsätzlich uneingeschränkt zurückgenommen und durch andere Verwaltungsakte ersetzt werden (Abs.1). Diese Vorschrift wird aufgrund des rechtsstaatlichen Grundsatzes des Vertrauensschutzes (vgl. Spanner in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 130 AO 1977 Anm.2 und 13) für begünstigende Verwaltungsakte eingeschränkt. Begünstigende Verwaltungsakte können nach § 130 Abs.2 AO 1977 nur unter bestimmten dort aufgeführten Voraussetzungen zurückgenommen werden. Ausgehend vom Prinzip des Vertrauensschutzes versteht die im Schrifttum herrschende Meinung als "Begünstigung" in diesem Sinne, die den rechtswidrigen Verwaltungsakt nur unter eingeschränkten Voraussetzungen rücknehmbar und damit ersetzbar macht, jede Rechtswirkung, an deren Aufrechterhaltung der vom Verwaltungsakt Betroffene ein schutzwürdiges Interesse hat (Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, 9.Aufl., § 53 II e). Sie sieht deshalb auch Verwaltungsakte mit Mischwirkung, die ein und dieselbe Person teils begünstigen und teils belasten, hinsichtlich ihres begünstigenden Elements --als nämlich der Verwaltungsakt bei richtiger Anwendung des Rechts noch nachteiliger für den Betroffenen ausgefallen wäre-- als begünstigenden Verwaltungsakt an. Für die Rücknahme und Änderung eines fehlerhaften Haftungsbescheids hat das nach dieser Ansicht zur Folge, daß er über den festgesetzten Haftungsbetrag hinaus zum Nachteil des Haftungsschuldners nur unter den Voraussetzungen des § 130 Abs.2 AO 1977 aufgehoben und geändert werden kann (vgl. Wolff/Bachof, a.a.O.; Spanner in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 130 AO 1977 Anm.19; Förster in Koch, a.a.O., § 130 Anm.17; Woerner/Grube, Die Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten (AO 1977), 7.Aufl., S.30; Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 2.Aufl., § 130 Anm.5). Tipke/Kruse (a.a.O., vor § 130 AO 1977 Anm.4, § 130 AO 1977 Anm.3 und 4) begründen die Anwendbarkeit des § 130 Abs.2 AO 1977 auf Geldverwaltungsakte (z.B. Haftungsbescheide, Verspätungszuschlags- und Zwangsgeldbescheide), bei denen der festgesetzte Betrag erhöht werden soll, im Wege der Gesetzesauslegung unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes damit, daß entgegen dem Wortlaut der Vorschrift nicht darauf abgestellt werden dürfe, ob der rechtswidrige Verwaltungsakt begünstigend sei oder nicht, sondern danach unterschieden werden müsse, ob sich seine Korrektur begünstigend oder belastend auswirke.
Der erkennende Senat braucht nicht zu entscheiden, ob jede Korrektur eines von der Verwaltung als rechtswidrig angesehenen Haftungsbescheids, bei der der zunächst festgesetzte Haftungsbetrag erhöht werden soll, den einschränkenden Voraussetzungen des § 130 Abs.2 AO 1977 unterliegt. Der Streitfall zwingt ihn auch nicht dazu, sich mit der im Schrifttum vertretenen Auffassung auseinanderzusetzen, wonach ihrer Natur nach belastende Verwaltungsakte insoweit begünstigend sind, als sie keine höhere Belastung festsetzen. Schließlich braucht der Senat auch nicht dazu Stellung zu nehmen, ob eine Auslegung des § 130 Abs.2 AO 1977, die darauf abstellt, ob das Ergebnis der Zurücknahme begünstigend oder belastend wirkt, sich noch innerhalb der Grenzen des möglichen Wortsinns der Vorschrift hält. Denn nach der besonderen Gestaltung des Streitfalles ging dem im vorliegenden Verfahren angefochtenen Haftungsbescheid ein den Kläger ausschließlich begünstigender Verwaltungsakt voraus, von dem abzuweichen das FA nur unter den Voraussetzungen des § 130 Abs.2 AO 1977 befugt war.
aa) Eine Verletzung des § 130 Abs.2 AO 1977 kommt allerdings insoweit nicht in Betracht, als das FA seinen zweiten gegen den Kläger erlassenen Haftungsbescheid vom 19.August 1975 in dem angefochtenen Bescheid vom 5.Oktober 1977 aus formellen Gründen zurückgenommen und in derselben Verfügung zugleich wieder neu erlassen hat. In dem Bescheid vom 5.Oktober 1977 liegt keine Verböserung gegenüber dem vorangegangenen Haftungsbescheid. Denn durch den im vorliegenden Verfahren angefochtenen Bescheid wird der Kläger für einen geringeren Betrag als Haftungsschuldner in Anspruch genommen als durch den zweiten Haftungsbescheid auch in der Fassung der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung (15 000 DM gegenüber 36 000 DM). Unter dem Blickwinkel des zweiten und dritten Haftungsbescheids lagen demnach die Voraussetzungen für eine Zurücknahme und Ersetzung des Verwaltungsakts nach § 130 Abs.1 AO 1977 vor.
Die Anwendbarkeit des § 130 Abs.2 AO 1977 folgt insoweit auch nicht daraus, daß der Bescheid vom 19.August 1975 zurückgenommen und durch den angefochtenen Haftungsbescheid ersetzt worden ist. Wie oben ausgeführt, ist die Regelung des § 130 Abs.2 AO 1977 ein Ausfluß des Grundsatzes des Vertrauensschutzes. Da die Rücknahme des zweiten Haftungsbescheids und die erneute Inanspruchnahme des Klägers in derselben Verfügung vom 5.Oktober 1977 erfolgt sind, konnte die Zurücknahme dieses Bescheids kein schutzwürdiges Vertrauen begründen, das eine Neufestsetzung des Haftungsbetrages nur unter eingeschränkten Voraussetzungen rechtfertigen würde. Soweit die Ausführungen bei Klein/Orlopp (a.a.O., § 130 Anm.5) dahin zu verstehen sein sollten, daß die Änderung eines Haftungsbescheids durch Rücknahme des Verwaltungsakts unter gleichzeitigem Erlaß eines neuen Verwaltungsakts im Hinblick auf die isolierte Betrachtung der Rücknahme als begünstigenden Verwaltungsakt stets (auch bei Herabsetzung des Haftungsbetrags) unter § 130 Abs.2 AO 1977 fiele, könnte der Senat dem nicht folgen.
bb) Im Streitfall ergibt sich aber die Anwendbarkeit des § 130 Abs.2 AO 1977 auf den angefochtenen Haftungsbescheid vom 5.Oktober 1977 daraus, daß dieser eine Änderung der formellen Rechtslage gegenüber der Rücknahme des ursprünglichen Haftungsbescheids vom 19.Dezember 1973 durch die Verfügung vom 16.Mai 1975 zum Nachteil des Klägers bewirkt. Durch die Rücknahmeverfügung vom 16.Mai 1975 ist der ursprüngliche Haftungsbescheid vom FA im Einspruchsverfahren zurückgenommen worden. Diese Rücknahme des Haftungsbescheids stellt selbst einen Verwaltungsakt (vgl. § 118 AO 1977) dar (Tipke/Kruse, a.a.O., § 130 AO 1977 Anm.14), der den Betroffenen gegenüber der vorausgegangenen formellen Rechtslage ausschließlich begünstigte (vgl. Klein/Orlopp, a.a.O., § 130 Anm.5; Woerner/Grube, a.a.O., S.30), indem er nämlich die belastende Wirkung des ursprünglichen Haftungsbescheids beseitigte. Die Rücknahmeverfügung vom 16.Mai 1975 war auch geeignet, einen Vertrauenstatbestand beim Kläger zu begründen, denn dieser konnte, solange die Rücknahme Bestand hatte, davon ausgehen, nicht als Haftungsschuldner in Anspruch genommen zu werden. Nur wenn das Vertrauen des Klägers nicht schutzwürdig war, war es zulässig, ihn erneut in Anspruch zu nehmen. Das bedeutet, daß die Rücknahmeverfügung nur zurückgenommen und durch einen erneuten Haftungsbescheid ersetzt werden durfte, wenn die Voraussetzungen des § 130 Abs.2 AO 1977 vorlagen.
Zwar liegt streng genommen in dem Erlaß des angefochtenen Haftungsbescheids keine Rücknahme der Rücknahmeverfügung vom 16.Mai 1975, da der begünstigende Verwaltungsakt formell bestehen blieb und der später ergangene Haftungsbescheid einen eigenständigen, von der Rücknahmeverfügung unabhängigen Verwaltungsakt darstellt. Unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des § 130 Abs.2 AO 1977, das Vertrauen des Betroffenen auf eine ihm günstige Verwaltungsregelung zu schützen, hat der Senat aber jedenfalls dann keine Bedenken, die Vorschrift auch auf neu ergehende Haftungsbescheide anzuwenden, wenn sie eine im Einspruchsverfahren erstrittene günstige Rechtsposition (Rücknahme eines vorangegangenen Haftungsbescheids) der Sache nach wieder beseitigen. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des BFH, daß Einspruchsentscheidungen und Abhilfebescheide, die nach erneuter Prüfung der Sache im Einspruchsverfahren (§ 248 Abs.2 Satz 1 AO, § 367 Abs.2 Satz 1 AO 1977) ergangen sind, wegen des durch sie begründeten Vertrauens des Steuerpflichtigen einer erhöhten Bestandsgarantie unterliegen. Sie können bei unverändertem Sachverhalt in der Regel nicht lediglich aufgrund geänderter Rechtsauffassung der Verwaltung abgeändert werden (vgl. Urteile des erkennenden Senats vom 21.Mai 1963 VII 175/61 U, BFHE 77, 201, BStBl III 1963, 390, und vom 30.März 1971 VII R 38/68, BFHE 102, 27, BStBl II 1971, 450; BFH-Urteil vom 16.März 1965 I 54/64 S, BFHE 82, 387, BStBl III 1965, 388). Nachdem der ursprüngliche gegen den Kläger ergangene Haftungsbescheid im Einspruchsverfahren nach § 94 Abs.1 Nr.2 AO zurückgenommen worden ist, ist es auch nach den vorstehenden Ausführungen gerechtfertigt, die erneute Inanspruchnahme des Klägers als Haftungsschuldner vom Vorliegen bestimmter vertrauenausschließender Umstände abhängig zu machen, wie sie in § 130 Abs.2 AO 1977 genannt sind.
cc) Die zugunsten des Klägers eingetretene Schutzwirkung aus § 130 Abs.2 AO 1977 ist nicht dadurch beseitigt worden, daß das FA bereits am 19.August 1975 den zweiten Haftungsbescheid erlassen und damit die Rücknahme des ersten Bescheids wieder aufgehoben hatte. Das folgt bei formaler Betrachtung bereits daraus, daß dieser zweite Haftungsbescheid seinerseits wiederum durch den Bescheid vom 5.Oktober 1977 zurückgenommen worden ist und keine Wirkung mehr entfalten kann. Dem Kläger konnte aber auch eine im Einspruchsverfahren erstrittene schutzwürdige Rechtsposition --das Vertrauen darauf, nicht mehr als Haftungsschuldner herangezogen zu werden--, falls diese bestand, nicht dadurch entzogen werden, daß sich das FA über sie hinwegsetzte. Nachdem der ursprüngliche Haftungsbescheid zurückgenommen worden war, durfte auch der unter der Geltung der AO ergangene zweite Haftungsbescheid vom 19.August 1975 nicht frei von formellen Voraussetzungen erlassen werden. Die erneute Haftungsinanspruchnahme des Klägers setzte vielmehr das Bekanntwerden neuer Tatsachen voraus (§§ 97 Abs.2, 222 Abs.1 Nr.1 AO). Eine etwaige Verletzung dieser Berichtigungsvorschrift durch das FA kann vom Kläger nicht mehr gerügt werden, weil der zweite Haftungsbescheid zurückgenommen und nicht Gegenstand des Klage- und Revisionsverfahrens ist. Es ist daher geboten, die durch die Rücknahme des ursprünglichen Haftungsbescheids eingetretene Verfahrenssituation auch noch beim Erlaß des Haftungsbescheids vom 5.Oktober 1977 zu berücksichtigen.
2. Die Vorinstanz hat den Erlaß des Haftungsbescheids vom 5.Oktober 1977 u.a. mit der Begründung als zulässig angesehen, daß der Kläger die Rücknahme des ersten Haftungsbescheids mit der Behauptung erwirkt habe, er habe keinerlei Verfügungsbefugnis über die finanziellen Mittel der GmbH gehabt. Diese Behauptung sei unzutreffend gewesen, weil sich später herausgestellt habe, daß er doch über Bankkonten verfügungsbefugt gewesen sei. Diese Feststellungen des FG deuten auf ein Vorliegen der Voraussetzungen des § 130 Abs.2 Nr.3 AO 1977 hin, der die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts für den Fall zuläßt, daß ihn der Begünstigte durch Angaben erwirkt hat, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren. Die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz reichen aber nicht aus, um den Erlaß des angefochtenen Haftungsbescheids nach Rücknahme des ursprünglichen Haftungsbescheids unter Anwendung der Korrekturvorschrift des § 130 Abs.2 Nr.3 AO 1977 zu rechtfertigen.
Das FG stützt seine Schlußfolgerung, der Kläger habe die Rücknahme des ersten Haftungsbescheids durch unzutreffende Behauptungen über die ihm fehlende Verfügungsbefugnis über finanzielle Mittel der GmbH erwirkt, darauf, daß er doch über Bankkonten verfügungsbefugt gewesen sei. Es führt hierzu lediglich die Verfügungsbefugnis über das Geschäftskonto bei der BfG und die dem Kläger erteilte Vollmacht über das Privatkonto des Mitgeschäftsführers W bei der Dresdner Bank an. Aufgrund der Vollmacht über das Konto bei der Dresdner Bank ergeben sich schon deshalb keine Verfügungsmöglichkeiten über Mittel der GmbH, weil Inhaber dieses Kontos nicht die Gesellschaft, sondern W als Privatmann war. Es besteht grundsätzlich keine rechtliche Befugnis eines GmbH-Geschäftsführers, über finanzielle Mittel eines anderen, wenngleich dieser Gesellschafter und ebenfalls Geschäftsführer der GmbH ist, zugunsten der GmbH zu verfügen. Das gilt auch dann, wenn dem Geschäftsführer über das Privatkonto des anderen Vollmacht erteilt worden ist. Daß der Kläger aufgrund bestehender Vereinbarungen im Innenverhältnis zwischen ihm und W dennoch generell befugt gewesen sein sollte, die Geldmittel auf dem Konto des W zur Tilgung der Verbindlichkeiten der GmbH zu verwenden, hat das FG nicht festgestellt. Hinsichtlich des Geschäftskontos bei der BfG hat das FG keine Feststellungen darüber getroffen, ob auf diesem Konto während des Zeitraums, für den der Kläger als Haftungsschuldner in Anspruch genommen worden ist, tatsächlich Geldbestände der GmbH vorhanden waren, über die der Kläger als Geschäftsführer hätte verfügen können. Feststellungen hierzu waren deshalb erforderlich, weil die GmbH Konten bei mehreren Banken unterhielt und weil der Kläger in allen Rechtsbehelfs- und Klageverfahren stets vorgetragen hatte, er habe zu keiner Zeit über Mittel verfügt, mit denen er die Steueransprüche des FA hätte begleichen können. Auch der ungewöhnliche Sachverhalt, daß dem Kläger als Geschäftsführer Vollmacht über ein Privatkonto des Gesellschafters und Mitgeschäftsführers erteilt worden war, mußte es dem FG als geboten erscheinen lassen, die vom Kläger bestrittene Verfügungsmöglichkeit über Gelder der GmbH näher zu überprüfen.
Daß die tatsächlichen Feststellungen des FG nicht ausreichen, um den Erlaß des angefochtenen Haftungsbescheids nach § 130 Abs.2 Nr.3 AO 1977 wegen unrichtiger Angaben bei der Erwirkung der vorangegangenen Rücknahmeverfügung zu rechtfertigen, stellt einen ohne Rüge nachprüfbaren materiellen Mangel des angefochtenen Urteils dar (vgl. BFH-Urteile vom 5.März 1968 II R 36/67, BFHE 92, 416, BStBl II 1968, 610, und vom 5.November 1968 II R 118/67, BFHE 94, 116, BStBl II 1969, 84; Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 118 Anm.13). Es kommt deshalb nicht darauf an, ob der Kläger hinsichtlich seiner vom FG angenommenen Verfügungsmöglichkeit über finanzielle Mittel der GmbH zulässige und begründete Verfahrensrügen erhoben hat. Da der Senat als Revisionsgericht nicht befugt ist, die vom FG unterlassene Tatsachenfeststellung selbst zu treffen, war die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache an das FG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO).
3. Das FG wird bei seiner neuerlichen Entscheidung folgendes zu beachten haben:
Für den Fall, daß die Verfahrensvorschriften den Erlaß des angefochtenen Haftungsbescheids zuließen, ist zu berücksichtigen, daß der Kläger seine Verpflichtung zur Abführung der mit dem Bescheid geltend gemachten Steuerabzüge jedenfalls für einen Teilbetrag mit der Begründung bestreitet, er sei aufgrund seines Kündigungsschreibens vom 14.Dezember 1972 von seinem Amt als Geschäftsführer der GmbH zurückgetreten. In Rechtsprechung und Schrifttum besteht Einigkeit darüber, daß ein Geschäftsführer einer GmbH jedenfalls aus einem von der GmbH zu vertretenden wichtigen Grund sein Amt jederzeit niederlegen kann, ohne zugleich das Anstellungsverhältnis fristlos kündigen zu müssen. Er soll nicht gezwungen sein, die Verantwortung und das erhebliche Haftungsrisiko seines Amtes unter für ihn unzumutbaren Bedingungen weiter zu tragen (Urteil des Bundesgerichtshofs --BGH-- vom 9.Februar 1978 II ZR 189/76, Der Betrieb --DB-- 1978, 878; Schneider in Scholz, Kommentar zum GmbH-Gesetz, 6.Aufl., § 38 Anm.54, 55; Mertens in Hachenburg, Kommentar zum Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, 7.Aufl., § 38 Anm.75; Baumbach/Hueck, GmbH-Gesetz, 13.Aufl., § 38 Anm.4; Fischer, GmbH-Gesetz, 10.Aufl., § 38 Anm.8). Die Erklärung der Amtsniederlegung führt nach einer im Vordringen begriffenen neueren Auffassung, der der erkennende Senat zuneigt, auch dann zum sofortigen Verlust der Organstellung, wenn über das Vorliegen eines wichtigen Grundes, der den Geschäftsführer zur Kündigung berechtigt, zwischen den Beteiligten Streit besteht. In diesem Falle kommt lediglich eine Haftung des Geschäftsführers wegen Verletzung des Vertragsverhältnisses in Betracht (BGH-Urteil vom 14.Juli 1980 II ZR 161/79, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1980, 2415; Schneider in Scholz, a.a.O., § 38 Anm.56; Mertens in Hachenburg, a.a.O., § 38 Anm.75; Fischer, a.a.O., § 38 Anm.8; anderer Ansicht wohl Baumbach/Hueck, a.a.O., § 38 Anm.4). Die Amtsniederlegung erfolgt, jedenfalls wenn --wie im Streitfall-- außer dem kündigenden Geschäftsführer nur ein weiterer Gesellschafter vorhanden ist, diesem gegenüber. Ihre Wirksamkeit ist nicht von der Eintragung im Handelsregister (vgl. § 39 GmbHG) abhängig, da diese nur deklaratorisch wirkt (vgl. Schneider in Scholz, a.a.O., § 38 Anm.12). Nach der Amtsniederlegung kommt eine Haftung des Geschäftsführers für die von diesem Zeitpunkt an abzuführende Lohnsteuer der GmbH auch über die Regelung des § 15 des Handelsgesetzbuches (HGB) bis zur Eintragung der Beendigung der Vertretungsbefugnis des Geschäftsführers im Handelsregister nicht mehr in Betracht, da für die Haftung des gesetzlichen Vertreters nach den §§ 109 AO, 69 AO 1977 der öffentliche Glaube des Handelsregisters zum Schutz des Geschäftsverkehrs ohne Bedeutung ist.
Das FG wird, wenn der Haftungsbescheid nach dem formellen Recht zulässig war, prüfen müssen, ob der Kläger nach den vorstehenden Grundsätzen mit dem angeführten Schreiben vom 14.Dezember 1972 gegenüber dem Mitgeschäftsführer und Gesellschafter W sein Amt als Geschäftsführer wirksam niedergelegt hat. Für diesen Fall könnte er für die nach diesem Zeitpunkt an das FA abzuführende Lohnsteuer nicht mehr als Haftungsschuldner in Anspruch genommen werden. Das gilt selbst dann, wenn der Kläger aufgrund eines fortbestehenden Anstellungsverhältnisses weiterhin Lohnsteueranmeldungen für die GmbH unterzeichnet und dem FA eingereicht hat, denn die Haftung nach den steuerrechtlichen Vorschriften trifft den Geschäftsführer nur in seiner Stellung als Organ der Gesellschaft. Das FG wird aber Feststellungen darüber treffen müssen, ob der Kläger aus seinem Kündigungsschreiben auch die tatsächlichen Folgerungen gezogen hat. Sollte er auf Bewirken des Mitgeschäftsführers W seine Kündigung stillschweigend rückgängig gemacht haben und weiterhin als Geschäftsführer der GmbH aufgetreten sein, so bliebe seine Haftung unberührt. Hierfür reicht allerdings die mangelnde Mitwirkung des W an einer Änderung des Gesellschaftsvertrags nicht aus.
Fundstellen
Haufe-Index 60938 |
BStBl II 1985, 562 |
BFHE 143, 203 |
BFHE 1985, 203 |
BB 1985, 1652-1654 (ST) |
DB 1985, 1324-1326 (LT) |
HFR 1985, 301-303 (ST) |