Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Abgrenzung einer NV-Verfügung von einem Freistellungsbescheid
Leitsatz (NV)
1. Seit Inkrafttreten der AO 1977 ist es grundsätzlich unbeachtlich, ob der Bearbeiter bei Abfassung der Verfügung den Willen hatte, einen Steuerbescheid (Freistellungsbescheid) zu erlassen. Für die Annahme eines Freistellungsbescheids reicht es aus, daß der Anschein eines entsprechenden Entscheidungswillens erweckt wird.
2. Auch bei Verpflichtung des FA zur Erteilung eines Freistellungsbescheids kann die ausdrücklich erklärte Nichtveranlagung nicht ohne weiteres in eine Veranlagung umgedeutet werden.
3. Bei Unklarheit über die Verbindlichkeit der Regelung ist entscheidend auf die äußere Form der Verfügung abzustellen. Hierbei ist vor allem bedeutsam, ob die Verfügung mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen ist.
Normenkette
AO 1977 § 118 S. 1, § 124 Abs. 1, § 155 Abs. 1 S. 3, § 173 Abs. 1; EStG § 46
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) gab für das Streitjahr eine Einkommensteuererklärung ab, in der er Steuerberatungskosten in Höhe von 80 034 DM als Sonderausgaben mit dem Hinweis ,,Steuerberatungskosten und Buchhaltung (davon rd. 76 000 DM für anteilige Kosten aus der Betriebsprüfung 1965 bis 1968)" geltend machte. Diese Kosten überstiegen die erklärten Einkünfte um ein Mehrfaches.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finazamt - FA -) erließ gegenüber dem Kläger eine sogenannte Nichtveranlagungsverfügung über Einkommensteuer 1978, in der ihm mitgeteilt wurde, daß für das Kalenderjahr 1978 eine Veranlagung zur Einkommensteuer nicht durchgeführt werde, weil sich ohne besondere Prüfung ergebe, daß das zu versteuernde Einkommen bei Anwendung der Grundtabelle weniger als 3030 DM betrage.
Nach Einreichung der Steuererklärung für das Folgejahr, in der der Kläger weitere anteilige Kosten der Betriebsprüfung 1965 bis 1968 als Werbungskosten bei den sonstigen Einkünften erklärte, führte das FA für das Streitjahr (1978) eine Veranlagung durch, bei der es die als Sonderausgaben geltend gemachten Steuerberatungskosten zunächst in vollem Umfang und in der Einspruchsentscheidung nur noch in Höhe von 76 000 DM nicht zum Abzug zuließ.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage, mit der der Kläger die ersatzlose Aufhebung des angefochtenen Einkommensteuerbescheids begehrte, statt. Es sah in der Nichtveranlagungsverfügung einen nur nach §§ 172 ff. der Abgabenordnung (AO 1977) änderbaren Steuerbescheid, der wegen Fehlens neuer Tatsachen nicht hätte geändert werden dürfen. Das Urteil des FG ist in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1984, 101 teilweise veröffentlicht.
Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zwecks anderweitiger Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
1. Die Frage nach der Rechtsnatur und der verfahrensrechtlichen Bedeutung einer sogenannten Nichtveranlagungsverfügung läßt sich nicht einheitlich beantworten. Der Begriff der Nichtveranlagungsverfügung, der gesetzlich nicht definiert ist, wird im steuerrechtlichen Schrifttum wie auch in der Verwaltungspraxis für unterschiedliche Fallgestaltungen verwendet. Er umfaßt sowohl den bloßen innerdienstlichen Vermerk des FA als auch die schriftliche Mitteilung an den Steuerpflichtigen, daß eine Veranlagung nicht durchgeführt werde (gelegentlich auch als Nichtveranlagungsmitteilung bezeichnet; vgl. hierzu im einzelnen Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 155 AO 1977, Tz. 3 unter dd; Frotscher in Schwarz, Kommentar zur Abgabenordnung, § 155 Anm. 6 f.; von Wallis in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 155 AO 1977 Anm. 19; Koch, Kommentar zur Abgabenordnung, 2. Aufl., § 155 Anm. 14; Einführungserlaß zur AO 1977 vom 1. Oktober 1976, BStBl I 1976, 576, Nr. 5 zu § 155). Auch die Form der Mitteilung ist nicht einheitlich. Sie reicht von einem formlosen Schreiben bis zu einem mit Rechtsbehelfsbelehrung versehenen förmlichen Bescheid. Neben diesen formellen Gestaltungsmöglichkeiten bestehen auch unterschiedliche sachliche Gründe dafür, von einer Einkommensteuerveranlagung abzusehen. So kann das FA eine Nichtveranlagungsverfügung erlassen, weil es die Voraussetzungen für eine Veranlagung nach § 46 des Einkommensteuergesetzes (EStG) für nicht erfüllt hält. Die insoweit bekanntgegebene Nichtveranlagungsverfügung kann gleichzeitig die Ablehnung eines Antrages des Steuerpflichtigen auf Steuerfestsetzung beinhalten. Eine Veranlagung kann jedoch auch unterbleiben, weil sich bei Prüfung der eingereichten Steuererklärung oder einer Anfrage ergibt, daß keine Steuerpflicht besteht oder das zu versteuernde Einkommen unter der Eingangsstufe des anzuwendenden Tarifs liegt (vgl. Förg, Rechtsnatur und Anfechtbarkeit einkommensteuerlicher Nichtveranlagungsverfügungen, Steuer-Warte 1974, 148).
2. Im Streitfall hat das FA dem Kläger eine Nichtveranlagungsverfügung bekanntgegeben, nachdem es anhand der eingereichten Steuererklärung zu dem Ergebnis gelangt war, daß sich für diesen Veranlagungszeitraum keine Steuer ergeben wird.
a) Die bisherige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes (BFH) hat in derartigen Fällen die Annahme eines Freistellungsbescheides nach § 210 Abs. 3 der Reichsabgabenordnung (AO) abgelehnt und die Nichtveranlagungsverfügung als Verfügung gemäß § 93 Abs. 1 AO gewertet, die grundsätzlich frei zurückgenommen werden konnte. Im Urteil vom 12. Dezember 1963 IV 171/62 S, BFHE 78, 567, BStBl III 1964, 215 hat der IV. Senat unter ausdrücklicher Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung (Urteil vom 30. Oktober 1952 IV 173/52 U, BFHE 57,75, BStBl III 1953, 30) hierzu ausgeführt, daß ein Steuerbescheid (Freistellungsbescheid) einen entsprechenden Willensakt der Behörde voraussetze, mit der Nichtveranlagungsverfügung aber das FA bewußt entschieden habe, daß vom Erlaß eines den Vertrauensschutz des Steuerpflichtigen begründenden, auf null DM lautenden Steuerbescheides (Freistellungsbescheids) abgesehen werde. Auch der erkennende Senat hat einen Freistellungsbescheid nur dann angenommen, wenn nach dem Willen des FA der Steuerpflichtige davon unterrichtet werden sollte, daß eine Steuer von ihm aufgrund des geprüften Sachverhalts dem Grunde nach überhaupt nicht oder für einen bestimmten Veranlagungs- oder Erhebungszeitraum nicht gefordert werde (Urteil vom 26. März 1969 I R 38/67, BFHE 95, 482, BStBl II 1969, 473; vgl. auch Urteil vom 23. Januar 1985 I R 284/81, BFH/NV 1985, 14).
b) Diese zur Reichsabgabenordnung ergangene Rechtsprechung, die entscheidend auf den Willen des zuständigen Bearbeiters abgestellt hat, kann im Hinblick auf die sich nach der AO 1977 ergebenden Rechtslage nicht mehr uneingeschränkt aufrechterhalten werden. Denn nach § 124 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 wird ein Verwaltungsakt mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekanntgegeben wird. Daher ist es seit Inkrafttreten der AO 1977 grundsätzlich unbeachtlich, ob der Bearbeiter bei Abfassung der Verfügung den Willen hatte, einen Steuerbescheid (Freistellungsbescheid) zu erlassen. Es reicht aus, wenn der Anschein eines entsprechenden Entscheidungswillens erweckt wird (vgl. hierzu Tipke/Kruse, a.a.O., § 124 AO 1977, Tz 5). Abweichend vom früheren Rechtszustand wird nunmehr auch die Ablehnung eines Antrags auf Steuerfestsetzung einem Steuerbescheid gleichgestellt (§ 155 Abs. 1 Satz 3 letzter Halbsatz AO 1977). Damit gelten die Regeln für Steuerbescheide auch für Nichtveranlagungsverfügungen, soweit sie die Ablehnung eines entsprechenden Antrages beinhalten.
3. Im Streitfall stellt die Nichtveranlagungsverfügung allerdings keine Ablehnung eines Antrags auf Steuerfestsetzung dar. Der Kläger hat weder abzugsteuerpflichtige Einkünfte erzielt, noch liegen sonstige Antragsgründe nach § 46 Abs. 2 Nr. 7 und 8 EStG vor, so daß allenfalls eine Veranlagung von Amts wegen nach § 25 Abs. 1 EStG in Betracht gekommen wäre. Zwar ist nach dem Urteil des IX. Senats des BFH vom 4. Juni 1986 IX R 52/82 BFHE 147, 393 BStBl II 1987, 3 auch im Falle einer Amtsveranlagung die Abgabe der Steuererklärung als Antrag auf Steuerfestsetzung anzusehen, falls ein berechtigtes Interesse an einer Steuerfestsetzung dargetan ist. Der erkennende Senat kann offenlassen, ob er sich dieser Auffassung anschließen könnte. Denn das berechtigte Interesse, das der IX. Senat in der Erwartung einer möglichen Steuererstattung sieht, liegt im Streitfall offenkundig nicht vor.
4. a) Ob die Nichtveranlagungsverfügung als Steuerverwaltungsakt im Sinne des § 118 Satz 1 AO 1977 anzusehen ist, der eine verbindliche Feststellung über die Steuerpflicht des Klägers für das Streitjahr enthält und damit einem Steuerbescheid (Freistellungsbescheid) gleichsteht, ist nach dem objektiven Erklärungsinhalt dieser Verfügung zu beurteilen. Hierbei kommt es darauf an, ob für den Adressaten aus dem Akt selbst oder aus den Umständen seines Erlasses objektiv erkennbar ist, daß eine einseitige, verbindliche, der Rechtsbeständigkeit fähige Regelung kraft hoheitlicher Gewalt gewollt ist (vgl. Kopp, Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl., § 35 Anm. 5).
b) Der Wortlaut der angefochtenen Nichtveranlagungsverfügung ist insoweit nicht eindeutig. Er läßt es zu, in der Mitteilung, daß eine Veranlagung nicht durchgeführt wird, eine unverbindliche Auskunft ohne Regelungscharakter zu sehen (vgl. hierzu Tipke/Kruse, a.a.O., Vor § 204 AO 1977 Tz. 3-5), da Entscheidungen über Grund und Höhe des Steueranspruchs grundsätzlich nur im Veranlagungsverfahren getroffen werden. Er schließt es andererseits nicht aus, eine verbindliche Freistellung von der Steuer für das Streitjahr als Folge der Prüfung der Steuererklärung anzunehmen. Denn der Hinweis auf das unter der Eingangsstufe des Tarifs liegende zu versteuernde Einkommen bringt zum Ausdruck, daß keine Steuer geschuldet wird, so daß auch nach dem BFH-Urteil vom 27. November 1984 VIII R 376/83 (BFH/NV 1985, 13) das zum Wesen eines Freistellungsbescheides nach § 155 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 Stellung nimmt, ein derartiger Bescheid ohne ausdrückliche Festsetzung der Steuer auf null DM vorliegen würde.
c) Aus dem Umstand, daß das FA nach § 25 EStG zur Durchführung einer Veranlagung verpflichtet gewesen sein könnte (vgl. hierzu Schmidt/Seeger, Einkommensteuergesetz, 5. Aufl., § 25 Anm. 5), läßt sich ein verbindlicher Regelungsinhalt der Nichtveranlagungsverfügung ebenfalls nicht mit hinreichender Sicherheit herleiten. Selbst wenn man eine Verpflichtung des FA zur Erteilung eines Freistellungsbescheides annimmt, falls das Gesetz ein Steuerfestsetzungsverfahren vorschreibt und dieses Verfahren ergibt, daß keine Steuer geschuldet wird (so Tipke/Kruse, a.a.O., § 155 AO 1977 Tz. 3), kann die ausdrücklich erklärte Nichtveranlagung nicht ohne weiteres in eine Veranlagung umgedeutet werden. Eine derartige Umdeutung ist allenfalls dann denkbar, wenn ein Steuerpflichtiger regelmäßig zur Steuer veranlagt wird. In diesem Fall kann der objektive Erklärungsinhalt der Nichtveranlagungsverfügung bei dem Adressaten den Eindruck hervorrufen, daß das FA nach Prüfung des Steuerfalles lediglich aus Vereinfachungsgründen von der Erteilung eines förmlichen Steuerbescheides abgesehen hat.
d) Soweit hiernach der erklärte Wille des FA, wie ihn der Kläger bei objektiver Würdigung verstehen konnte, den Charakter der Verfügung als verbindliche Regelung eines Einzelfalles nicht hinreichend klar erkennen läßt, ist entscheidend auf die äußere Form der Verfügung abzustellen. Der Senat hält es insoweit vor allem für bedeutsam, ob die Verfügung mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen war. Denn mit einer derartigen Belehrung gibt die Behörde unmißverständlich zu erkennen, daß sie eine Mitteilung als Regelungsverfügung verstanden wissen will (vgl. hierzu Urteile des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 13. Juli 1973 VII C 6.72, BVerwGE 44, 1 und vom 26. Oktober 1978 5 C 52.77, BVerwGE 57, 26).
5. Die Vorentscheidung ist aufzuheben, da das FG zu Unrecht davon ausgegangen ist, daß jede Nichtveranlagungsverfügung als Steuerbescheid (Freistellungsbescheid) zu werten ist, und hierbei weder die unterschiedlichen Regelungsinhalte beachtet noch auf die äußere Form abgestellt hat. Die Sache ist zurückzuverweisen, da die Tatsachenfeststellungen des FG für eine abschließende Entscheidung nicht ausreichen.
6. Der Senat vermag ebenfalls nicht abschließend zu beurteilen, ob das FA die Änderungsmöglichkeit des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 im Streitfall in Anspruch nehmen kann. Zutreffend ist das FG davon ausgegangen, daß eine Verletzung der Ermittlungspflicht des FA auch bei dieser Vorschrift entsprechend den zu § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO entwickelten Grundsätzen von Bedeutung ist. Der BFH hat an der bisherigen Rechtsprechung insoweit ausdrücklich festgehalten (Urteil vom 13. November 1985 II R 208/82, BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241).
Das FG konnte auch in einer revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Weise zu dem Ergebnis gelangen, daß das FA seine Ermittlungspflicht verletzt hat. Es hätte schon angesichts der beträchtlichen Höhe der geltend gemachten Kosten näherer Ermittlungen bedurft. Das FA hätte die näheren Umstände auch deshalb prüfen müssen, weil der Kläger den streitigen Aufwand als Sonderausgaben erklärte, der Hinweis auf ,,Buchhaltungskosten" und ,,anteilige Kosten der Betriebsprüfung 1965 - 1968" aber auf Betriebsausgaben hindeutete.
Keine ausreichenden Feststellungen enthält das Urteil jedoch zur Frage einer Verletzung der dem Kläger nach § 90 AO 1977 obliegenden Mitwirkungspflicht. Mit dem FG hält der erkennende Senat die Angaben in der eingereichten Steuererklärung nicht für unrichtig. Denn aus den zusätzlichen Hinweisen in der Spalte Steuerberatungskosten konnte das FA unschwer entnehmen, daß es sich bei dem geltend gemachten Betrag jedenfalls teilweise um keine Steuerberatungskosten im eigentlichen Sinne handeln konnte.
Soweit das FG meint, der Kläger sei durch seine kurzen Angaben in der Steuererklärung seiner Mitwirkungspflicht nicht in vollem Umfang nachgekommen, hat es nicht dargelegt, welche entscheidungserheblichen Tatsachen hätten vorgetragen werden müssen, um die Steuererklärung nicht als unvollständig erscheinen zu lassen. Der Senat kann daher nicht beurteilen, ob dem Kläger ein Verschulden zur Last gelegt werden kann und ob demgegenüber das Verschulden des FA weitaus schwerer wiegt. Es kann somit offenbleiben, wie das Verschulden des FA und das des Klägers gegeneinander abzuwägen sind.
Fundstellen
Haufe-Index 414812 |
BFH/NV 1988, 10 |