Entscheidungsstichwort (Thema)
Aussetzung der Versteuerung bei nießbrauchsbelastetem Erwerb im Jahr 1964
Leitsatz (NV)
1. Die Aussetzung der Versteuerung nach § 31 Abs. 1 ErbStG in der Fassung vom 1. April 1959 hatte durch Verwaltungsakt zu geschehen.
2. Der mit dem Erlöschen des Nutzungsrechts verbundene Erwerb war der zuständigen Behörde anzuzeigen, und zwar auch bei einer amtlich eröffneten letztwilligen Verfügung.
3. Ist das belastete Vermögen vor Erlöschen des Nutzungsrechts durch Erbfolge auf einen Dritten übergegangen und nimmt das FA in Unkenntnis der Regelung des § 31 Abs. 2 ErbStG 1959 den Dritten als Gesamtrechtsnachfolger des ursprünglichen Erben in Anspruch, ist es nach Aufhebung eines derartigen Bescheides auf Einspruch oder Antrag des Dritten unter den sonstigen Voraussetzungen des § 174 Abs. 4 AO berechtigt, den Dritten nunmehr als Erwerber des Vermögens unmittelbar vom ursprünglichen Erblasser zur Steuer heranzuziehen.
Normenkette
ErbStG 1959 § 31 Abs. 1-2; AO § 174 Abs. 4
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der im Januar 1964 verstorbene Erblasser (E) wurde von seinen beiden Kindern beerbt. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist die Witwe des im Juli 1978 verstorbenen Sohnes (S). Sie hatte S zu 1/2 beerbt; weitere Miterben waren die gemeinsamen Kinder (Enkel des E) zu je 1/4. E hatte seiner Haushälterin (H) den lebenslangen Nießbrauch an einem im Nachlass befindlichen Aktienpaket vermacht.
Nachdem die Kinder des E beantragt hatten, die Versteuerung des Erwerbs der nießbrauchsbelasteten Aktien gemäß § 31 Abs. 1 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes in der 1964 geltenden Fassung (ErbStG) auszusetzen, erließ die damals zuständige Behörde am 20. Juli 1965 gemäß § 15 Abs. 1 und 2 der Erbschaftsteuer-Durchführungsverordnung vom 19. Januar 1962 (ErbStDV) einen einheitlichen endgültigen Steuerbescheid, den es dem S bekannt gab und in dem es hieß, das Aktienpaket sei gemäß § 31 ErbStG außer Ansatz gelassen worden; die Versteuerung werde bei Erlöschen des Nießbrauchsrechts der H "berichtigt" werden; es werde gebeten, "die Beendigung des Nießbrauchsrechts rechtzeitig anzuzeigen" und die Verwahrung der Aktien mit Sperrvermerk nachzuweisen.
H verstarb im Juni 1993. Dies teilte die Depotbank der Klägerin noch im selben Jahr unter Hinweis darauf mit, dass über die Aktien nunmehr verfügt werden könne. Bis Oktober 1992 hatten die Steuerbehörden in kurzen Abständen bei der Meldebehörde nachgefragt, ob H noch lebe. Vom Tod der H erfuhren sie erst durch die letzte Nachfrage vom April 1998. Durch getrennte Bescheide vom 1. Dezember 1999 setzte der nunmehr zuständige Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) gegen die Klägerin als Rechtsnachfolgerin des S und gegen die Tochter des E für den Erwerb des Aktienpakets, dessen Wert sich beim Tod der H auf 914 100 DM belief, jeweils eine Erbschaftsteuer von 25 690 DM --berechnet nach einer Bemessungsgrundlage von (457 000 ./. 90 000 =) 367 000 DM-- fest. Gleichlautende Bescheide ergingen im Januar 2000 gegenüber den beiden Enkeln des E als weiteren Gesamtrechtsnachfolgern des S.
Auf die Einsprüche der Klägerin sowie der Enkel des E hin hob das FA den gegen sie ergangenen Bescheid mit Verfügungen vom Juni 2001 auf, weil in ihm der S entgegen § 31 Abs. 2 ErbStG "fälschlicherweise" als Steuerschuldner bezeichnet worden sei. Sodann erließ das FA am 13. Juli 2001 gegenüber der Klägerin einen Erbschaftsteuerbescheid wegen "eines Erwerbs von Todes wegen nach E", mit dem es die Steuer auf 43 700 DM festsetzte. Dabei hatte das FA das Aktienpaket nur noch zu 1/4 --nämlich mit 228 525 DM-- angesetzt und den Freibetrag auf 10 000 DM verringert. In den Erläuterungen zu dem Bescheid hieß es, die Aussetzung der Versteuerung gemäß § 31 ErbStG habe nicht durch Verwaltungsakt erfolgen müssen.
Nach erfolglosem Einspruch hob das Finanzgericht (FG) mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2006, 1553 veröffentlichten Urteil den neuen Erbschaftsteuerbescheid auf. Es war der Ansicht, es könne auf sich beruhen, ob die Klägerin das Ableben der H gemäß § 30 Abs. 1 ErbStG in der 1993 geltenden Fassung (ErbStG n.F.) hätte anzeigen müssen; die Steuer habe auf jeden Fall im Jahr 2001 nicht mehr festgesetzt werden dürfen. Sollte keine Anzeigepflicht bestanden haben, hätte die vierjährige Festsetzungsfrist gemäß § 170 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) mit Ablauf des Jahres 1993 begonnen. Ihr Anlauf wäre nicht durch Abs. 5 Nr. 1 der Vorschrift gehemmt gewesen, da die Klägerin noch 1993 durch die Depotbank Kenntnis von dem Aktienerwerb erhalten habe. Sollte eine Anzeigepflicht bestanden haben, wäre der Fristanlauf zwar zunächst gemäß § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO für drei Jahre gehemmt gewesen; dennoch wäre der angefochtene Steuerbescheid aus dem Jahr 2001 zu spät ergangen. Eine Verlängerung der Festsetzungsfrist auf fünf Jahre wegen leichtfertiger Steuerverkürzung --wie vom FA angenommen-- scheide aus. Der Ablauf der Festsetzungsfrist sei auch nicht etwa gemäß § 174 Abs. 4 Satz 3 AO unbeachtlich. Der Tatbestand des § 174 Abs. 4 AO sei nicht erfüllt. Es fehle an einem anderen Bescheid im Sinne der Vorschrift. Der angefochtene Bescheid sei weder gegen einen anderen Steuerschuldner noch bezüglich einer anderen Steuerart oder bezüglich eines anderen Besteuerungszeitraums bzw. -zeitpunkts ergangen. Dass die Klägerin mit dem aufgehobenen Bescheid als Gesamtrechtsnachfolgerin des S in Anspruch genommen worden sei, während sie mit dem neuen Bescheid als Erwerberin besteuert werde, sei ohne Bedeutung.
Mit der Revision rügt das FA fehlerhafte Anwendung des § 174 Abs. 4 AO. Die Vorschrift verlange lediglich, dass der aufgehobene Bescheid auf einer irrigen Beurteilung des Sachverhalts beruht habe, wobei unerheblich sei, ob der Irrtum im Tatsächlichen oder im Rechtlichen gelegen habe. Im Streitfall sei es zunächst zu solch einer (rechts-)irrigen Beurteilung gekommen. Erst durch den angefochtenen Bescheid seien die richtigen Folgerungen aus dem nämlichen Sachverhalt gezogen worden. Der Rechtsirrtum habe das "Steuerobjekt" betroffen. Steuerobjekt sei der Erwerb. Im nämlichen Sachverhalt sei zunächst ein Erwerb durch die Klägerin als Gesamtrechtsnachfolgerin des S gesehen worden und erst später ein Erwerb unmittelbar durch die Klägerin.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Die vierjährige Festsetzungsfrist lief im Streitfall gemäß § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO wegen Nichtanzeige des Erwerbs mit Ablauf des Jahres 1996 an und mit Ablauf des Jahres 2000 ab. Der aufgehobene Bescheid vom 1. Dezember 1999 war daher noch innerhalb der Festsetzungsfrist ergangen. Die Voraussetzungen gemäß § 174 Abs. 4 AO für den Erlass des neuen Steuerbescheides lagen vor. Der zwischenzeitlich eingetretene Ablauf der Festsetzungsfrist ist nach Abs. 4 Satz 3 der Vorschrift unbeachtlich. Der neue Bescheid ist noch im Jahr der Aufhebung des ersten Bescheides ergangen. Da das FG demgegenüber die Anwendbarkeit des § 174 Abs. 4 AO verneint hat, war die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
1. Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 ErbStG konnte der Steuerpflichtige beim Erwerb von Vermögen, dessen Nutzung einem anderen zustand, verlangen, die Versteuerung bis zum Erlöschen des Nutzungsrechts auszusetzen. Stellte der Steuerpflichtige einen solchen Antrag, war die Aussetzung durch Verwaltungsakt zu verfügen (so die Finanzverwaltung in Kartei der Oberfinanzdirektion Koblenz zur Erbschaftsteuer 1959, § 31 Karte 1 Tz 2 und 8; Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 24. Mai 2007 II R 58/05, BFH/NV 2007, 1665, zu dem insoweit vergleichbaren § 25 Abs. 1 Buchst. a ErbStG 1974). Der Steuerpflichtige erreichte mit seinem Aussetzungsantrag, dass die Versteuerung so vorgenommen wird, als ob das Vermögen ihm erst im Zeitpunkt des Erlöschens des Nutzungsrechts angefallen wäre (so Megow, Erbschaftsteuergesetz, Kommentar, 5. Aufl. 1969, S. 481). Die Steuerschuld für den Erwerb des mit dem Nutzungsrecht belasteten Vermögens gilt erst als mit dem Zeitpunkt des Erlöschens des Nutzungsrechts entstanden. Dies ergab sich zunächst aus § 14 Abs. 2 ErbStG und ergibt sich ab 1974 aus § 9 Abs. 2 ErbStG in den späteren Fassungen (vgl. zur Weitergeltung der Regelung: Gebel in Troll/Gebel/Jülicher, ErbStG, § 9 Rz 118; Meincke, Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz, Kommentar, 14. Aufl. 2004, § 9 Rz 58).
Ging das mit dem Nutzungsrecht belastete Vermögen vor dem Erlöschen auf einen anderen über, so war die Steuer für diesen Übergang nicht zu erheben; vielmehr trat die gleiche Behandlung ein, wie wenn derjenige, dem das Vermögen zur Zeit des Erlöschens gehört, das Vermögen unmittelbar von dem ursprünglichen Erblasser erworben hätte. Für die Besteuerung ist dann das Verwandtschaftsverhältnis desjenigen zu dem ursprünglichen Erblasser maßgeblich, der zum Zeitpunkt des Erlöschens Eigentümer ist (Troll, Erbschaftsteuergesetz, Kommentar 1959, § 31 Rz 8). Die Versteuerung erfolgt jeweils mit dem Wert des unbelasteten Vermögens zur Zeit des Erlöschens (Megow, a.a.O., S. 481).
Der mit dem Erlöschen des Nutzungsrechts einhergehende Erwerb war und ist der zuständigen Steuerbehörde anzumelden bzw. anzuzeigen (§ 26 Abs. 1 ErbStG/§ 30 Abs. 1 ErbStG n.F.), und zwar unabhängig davon, ob sich das bis dahin belastete Vermögen noch in der Hand des ersten Erwerbers befindet oder in der Hand eines Erwerbers nach § 31 Abs. 2 ErbStG. Ein Wegfall der Anmeldungs- bzw. Anzeigepflicht nach Abs. 3 der Vorschriften schied auch bei einer amtlich eröffneten letztwilligen Verfügung aus, da sich der Erwerb durch Erlöschen des Nutzungsrechts wegen des ungewissen Todeszeitpunkts des Nutzungsberechtigten und wegen des im Hinblick auf § 31 Abs. 2 ErbStG ungewissen Erwerbers nicht unzweifelhaft aus einer letztwilligen Verfügung ergeben kann.
2. Ist das belastete Vermögen vor Erlöschen des Nutzungsrechts durch Erbfolge auf einen anderen übergegangen und geht die Behörde in Unkenntnis der Regelung des § 31 Abs. 2 ErbStG davon aus, den neuen Eigentümer als Gesamtrechtsnachfolger für den Erwerb des zunächst belasteten Vermögens in Anspruch nehmen zu müssen, ist ein solchermaßen begründeter, fristgemäß ergangener Erbschaftsteuerbescheid zwar wirksam, aber rechtswidrig. Wird er auf Einspruch des neuen Eigentümers aufgehoben, kann die Behörde gemäß § 174 Abs. 4 AO innerhalb eines Jahres nach der Aufhebung den neuen Eigentümer noch gemäß § 31 Abs. 2 ErbStG als Erwerber des Vermögens unmittelbar vom ursprünglichen Erblasser zur Steuer heranziehen.
a) Ist aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der aufgrund eines Einspruchs durch die Finanzbehörde zugunsten des Steuerpflichtigen aufgehoben wird, so können aus dem Sachverhalt gemäß § 174 Abs. 4 Satz 1 AO nachträglich durch Erlass eines Steuerbescheides die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden. Voraussetzung ist gemäß § 174 Abs. 4 Satz 4 AO --von einer hier nicht in Betracht kommenden Ausnahme abgesehen--, dass der aufgehobene Bescheid noch innerhalb der Festsetzungsfrist für die spätere richtige Steuerfestsetzung ergangen war (so Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 174 AO Rz 52; Klein/Rüsken, Abgabenordnung, Kommentar, 9. Aufl. 2006, § 174 Rz 64). Ansonsten ist gemäß Satz 3 der Vorschrift der Ablauf der Festsetzungsfrist unbeachtlich, wenn die steuerlichen Folgerungen innerhalb eines Jahres nach Aufhebung des fehlerhaften Steuerbescheides gezogen werden.
b) § 174 Abs. 4 AO enthält eine gegenüber den Abs. 1 bis 3 der Vorschrift eigenständige Änderungsnorm, die nicht die Korrektur widerstreitender Festsetzungen betrifft (vgl. Klein/Rüsken, a.a.O., § 174 Rz 51) und deren Grundgedanke darin besteht, dass der Steuerpflichtige, der die Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheides zu seinen Gunsten erwirkt hat, auch die mit der Aufdeckung der irrigen Beurteilung verbundenen steuerrechtlichen Nachteile hinnehmen muss (so BFH-Urteil vom 10. März 1999 XI R 28/98, BFHE 188, 409, BStBl II 1999, 475, unter II. 2.). Dem aufgrund der irrigen Beurteilung aufgehobenen und dem neuen (erstmaligen oder Änderungs-)Bescheid muss dabei der nämliche Sachverhalt im Sinne eines steuererheblichen Lebensvorgangs, an den das Gesetz steuerrechtliche Folgerungen knüpft, zugrunde gelegen haben bzw. zugrunde liegen. Entscheidend ist, dass aus demselben --unveränderten und nicht durch weitere Tatsachen ergänzten-- Sachverhalt die richtigen steuerrechtlichen Folgerungen in einem anderen Steuerbescheid, aber --von Abs. 5 der Vorschrift abgesehen-- gegenüber demselben Steuerpflichtigen zu ziehen sind (so BFH-Urteil vom 18. Februar 1997 VIII R 54/95, BFHE 183, 6, BStBl II 1997, 647, unter B. 1. b).
c) In den Fällen des § 31 Abs. 2 ErbStG setzt sich der steuererhebliche Lebensvorgang aus drei Elementen zusammen. Zunächst muss Vermögen, das beim Erwerb mit einem Nutzungsrecht zugunsten eines Anderen belastet war, erworben und die Versteuerung bis zum Erlöschen des Nutzungsrechts auf Antrag des Steuerpflichtigen ausgesetzt worden sein. Sodann muss das belastete Vermögen vor Erlöschen des Nutzungsrechts durch Erbfolge auf einen Dritten übergegangen und darf dieser Übergang nicht etwa (fälschlich) bestandskräftig besteuert worden sein. Schließlich muss das Nutzungsrecht erloschen sein. Dieser steuererhebliche Lebensvorgang ist irrig beurteilt, wenn die Behörde darin einen Erwerb des Dritten als Gesamtrechtsnachfolger des zwischenzeitlich Verstorbenen sieht und gegen den Dritten einen entsprechenden, nach dem Verwandtschaftsverhältnis dieses Verstorbenen zum ursprünglichen Erblasser ausgerichteten Bescheid erlässt. Er wird nach Aufhebung dieses Bescheides ohne Ergänzung durch weitere Tatsachen oder anderweitige Veränderungen im Tatsächlichen richtig beurteilt, wenn der Dritte als Erwerber unmittelbar vom ursprünglichen Erblasser besteuert wird. Da das FG dies --ausgehend von einer an den Tatbeständen des § 174 Abs. 1 bis 3 AO angelehnten Auslegung des Abs. 4 der Vorschrift-- verkannt hat, war die Vorentscheidung aufzuheben.
3. Die Sache ist spruchreif. Der angefochtene Steuerbescheid ist rechtmäßig und die Klage daher abzuweisen. Die Versteuerung für den Erwerb des beim Tod des E mit dem Nießbrauchsrecht der H belasteten Vermögens war gemäß § 31 Abs. 1 ErbStG wirksam ausgesetzt worden. Der Tatbestand des § 174 Abs. 4 AO ist erfüllt.
a) Der nach § 31 Abs. 1 ErbStG erforderliche Aussetzungsantrag war vom damaligen Steuerberater der Erben des E unter Nachweis seiner Bevollmächtigung durch beide Erben wirksam gestellt worden. Die Aussetzung ist auch durch Verwaltungsakt erfolgt. Dem gegenüber dem Ehemann der Klägerin ergangenen Erbschaftsteuerbescheid war der Vermerk angefügt, die mit dem Nießbrauch belasteten Wertpapiere würden gemäß § 31 ErbStG außer Ansatz gelassen; die Versteuerung werde bei Erlöschen des Nießbrauchsrechts der H "berichtigt". Dieser Vermerk bringt hinreichend deutlich die Aussetzung der Versteuerung zum Ausdruck, und zwar ungeachtet dessen, dass das Wort "berichtigt" in diesem Zusammenhang verfehlt ist. Die Eigenschaft dieses Vermerks als eines mit dem Erbschaftsteuerbescheid verbundenen weiteren Verwaltungsakts ergibt sich daraus, dass die Aussetzung der Versteuerung eine zusätzliche hoheitliche Maßnahme zur Regelung eines Einzelfalles mit unmittelbarer Rechtswirkung nach außen darstellt (vgl. nunmehr § 118 Abs. 1 Satz 1 AO).
Die Aussetzung der Versteuerung durfte im Jahr 1965 gemäß § 15 Abs. 1 und 2 ErbStDV auch wie der Steuerbescheid, mit dem sie verbunden war, einheitlich gegenüber allen Miterben ergehen und nur einem von ihnen --nämlich dem S-- bekanntgegeben werden. Eine derartige Befugnis bestand beim Erlöschen des Nutzungsrechts der H im Jahr 1993 nicht mehr (Art. 8 Nr. 2 des Gesetzes zur Reform des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuerrechts vom 17. April 1974, BGBl I 1974, 933). Daher ist die nach § 31 Abs. 2 i.V.m. § 14 Abs. 2 ErbStG bzw. nunmehr § 9 Abs. 2 ErbStG n.F. zu erhebende Steuer zutreffend einzeln gegen die Inhaber der Wertpapiere bei Erlöschen des Nutzungsrechts festgesetzt worden.
b) Das FA hatte nach Erlöschen des Nießbrauchsrechts durch den Tod der H zunächst fälschlich angenommen, die Klägerin als Rechtsnachfolgerin des S mit der Folge in Anspruch nehmen zu müssen, dass sich die Steuerklasse und die Höhe des Freibetrages nach dem Verwandtschaftsverhältnis des S zu E richteten. Nachdem es aufgrund des Einspruchs der Klägerin diesen Fehler erkannt und den Bescheid aufgehoben hatte, erließ es --wie im Zusammenhang mit der Aufhebungsverfügung angekündigt-- innerhalb eines Jahres den nunmehr angefochtenen neuen Erbschaftsteuerbescheid, der zutreffend an die Klägerin als Erwerberin unmittelbar von E erging. Damit zog das FA aus dem nämlichen Sachverhalt nachträglich durch Erlass eines neuen Steuerbescheides die richtigen steuerlichen Folgerungen (§ 174 Abs. 4 Satz 1 AO). Der Ansatz der zunächst belasteten Aktien mit ihrem Wert zum Zeitpunkt des Erlöschens der Belastung sowohl im aufgehobenen als auch im neuen Steuerbescheid war rechtens (s. oben). Dieser Nachteil der Aussetzung der Versteuerung war bei der Willensbildung darüber zu berücksichtigen, ob der nach § 31 Abs. 1 ErbStG erforderliche Antrag gestellt werden sollte oder nicht.
c) Die Festsetzungsfrist für die Versteuerung des Erwerbs der Klägerin unmittelbar von E war zwar bei Erlass des angefochtenen Bescheides bereits abgelaufen; dies ist jedoch gemäß § 174 Abs. 4 Sätze 3 und 4 AO unbeachtlich, da der aufgehobene Bescheid noch innerhalb dieser Frist ergangen und bei Erlass des angefochtenen Bescheides die Ein-Jahres-Frist des Satzes 3 der Vorschrift gewahrt worden ist.
aa) Die nach § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO vierjährige Festsetzungsfrist für die mit dem angefochtenen Bescheid erhobene Steuer lief gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO mit Ablauf des Jahres 1996 an und mit Ablauf des Jahres 2000 ab. Ein späterer Beginn der Festsetzungsfrist gemäß § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO scheidet aus, da die Klägerin --wie das FG festgestellt hat-- durch die Depotbank noch innerhalb der dreijährigen Anlaufhemmung nach Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 der Vorschrift vom Wegfall des Nutzungsrechts der H und damit vom Freiwerden der Aktien erfahren hatte.
bb) Die mit Ablauf des Todesjahres der H beginnende dreijährige Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO beruht darauf, dass die Klägerin den Wegfall des Nutzungsrechts der H nicht angezeigt hat, obwohl sie dazu gemäß § 30 Abs. 1 ErbStG n.F. verpflichtet war. Danach ist jeder der Erbschaftsteuer unterliegende Erwerb vom Erwerber anzuzeigen. Ob der Klägerin die Anzeigepflicht bewusst war, ist unerheblich. Die Rechtsfolgen einer unterlassenen Anzeige treten unabhängig davon ein, ob der Klägerin ihre Anzeigepflicht bewusst war oder nicht (vgl. Jülicher in Troll/Gebel/Jülicher, a.a.O., § 30 Rz 6; Pahlke in Christoffel/Geckle/Pahlke, ErbSt, § 30 Rz 3). Insoweit gelten dieselben Erwägungen, wie sie der BFH mit Urteil vom 25. März 1992 II R 46/89 (BFHE 167, 448, BStBl II 1992, 680, 684) zur Grunderwerbsteuer angestellt hat. Die Anzeigepflicht ist eine objektive, die unabhängig von subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten des zur Anzeige Verpflichteten besteht.
cc) Die Anzeigepflicht der Klägerin entfiel auch nicht aufgrund des § 30 Abs. 3 ErbStG n.F. Der Erwerb der Klägerin von E im Jahr 1993 ergab sich nicht unzweifelhaft aus der vom Amtsgericht eröffneten letztwilligen Verfügung des E. Es war zwar gewiss, dass das Nutzungsrecht der H eines Tages erlöschen werde, aber ungewiss, wann das dazu erforderliche Ereignis eintritt und wem beim Eintritt des Ereignisses das Vermögen gehört. Angesichts der unterlassenen Anzeige kann sich die Klägerin auch nicht darauf berufen, dass das FA zwischen der vorletzten Anfrage bei der Meldebehörde im Oktober 1992, ob H noch lebe, und der letzten Anfrage im April 1998 fünfeinhalb Jahre verstreichen ließ. Die eigenen Überwachungsmaßnahmen des FA ließen die Anzeigepflicht der Klägerin unberührt. Derartige Maßnahmen entlasten einen Erwerber nur dann, wenn diese Maßnahmen der Finanzbehörde die Kenntnis vom Erwerb verschaffen, und nur insoweit, als es um den Anlauf der Festsetzungsfrist geht.
Fundstellen
Haufe-Index 2023434 |
BFH/NV 2008, 1493 |