Entscheidungsstichwort (Thema)
Persönliche Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten
Leitsatz (NV)
Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009 führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (Anschluss an das BFH-Urteil vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612).
Normenkette
EStG 2009 § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 64 Abs. 2 S. 1; EGV 883/2004 Art. 67 S. 1; EGV 987/2009 Art. 60 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 28. November 2013 5 K 5145/13 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
Rz. 1
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist deutscher Staatsbürger, der in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) lebt. Seine 2010 geborene Tochter L lebt im Haushalt der von ihm dauernd getrennt lebenden Kindsmutter in Polen. Die Kindsmutter ist polnische Staatsangehörige und nicht erwerbstätig. Polnische Familienleistungen bezieht sie nicht.
Rz. 2
Die Rechtsvorgängerin der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte einen Antrag des Klägers auf Kindergeld für L vom November 2012 ab, da die Kindsmutter einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld habe. Den dagegen eingelegten Einspruch des Klägers wies sie mit Einspruchsentscheidung vom 19. April 2014 zurück. Der daraufhin erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) mit Urteil vom 28. November 2013 5 K 5145/13 statt. Dagegen wendet sich die Familienkasse mit der Revision.
Rz. 3
Der Senat hat das Verfahren mit Beschluss vom 23. Februar 2015 bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache Trapkowski C-378/14 ausgesetzt. Nach Veröffentlichung des EuGH-Urteils Trapkowski vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst --DStRE-- 2015, 1501) hat der Senat das Verfahren wieder aufgenommen und den Beteiligten Gelegenheit gegeben, sich zu dem EuGH-Urteil zu äußern.
Rz. 4
Die Familienkasse rügt, das FG habe gegen seine Pflicht zur Sachverhaltsermittlung verstoßen. In sachlich-rechtlicher Hinsicht ist sie der Auffassung, der EuGH habe ihren Rechtsstandpunkt bestätigt.
Rz. 5
Die Familienkasse beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Rz. 6
Der Kläger beantragt sinngemäß, die Revision zurückzuweisen.
Rz. 7
Er hat im Revisionsverfahren per Telefax eine handschriftliche Erklärung der Kindsmutter übermittelt, in der sie um Überweisung des Kindergeldes auf ein Konto bittet, dessen Inhaber nach eigenen Angaben er ist. Damit sind nach seiner Auffassung die Bedenken der Familienkasse erledigt. In seiner Rechtsauffassung sieht er sich durch das EuGH-Urteil bestätigt.
Entscheidungsgründe
Rz. 8
II. Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des FG-Urteils und Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG-Urteil verletzt § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung (EStG). Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes.
Rz. 9
1. Der Kläger ist zwar kindergeldberechtigt, weil er in Deutschland lebt und Vater einer Tochter ist, die ihren Wohnsitz in Polen hat (§ 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 EStG) und für die ein Anspruch auf Kindergeld besteht (§ 32 Abs. 3 EStG). Dem Anspruch steht nicht entgegen, dass der Kläger Leistungen nach dem SGB II bezieht (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 28. April 2016 III R 40/12, III R 50/12 und III R 3/15; jeweils nicht veröffentlicht).
Rz. 10
Der Kläger hat aber keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes; denn mit Blick auf das Unionsrecht ist nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG die Kindsmutter vorrangig anspruchsberechtigt.
Rz. 11
a) Nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG wird bei mehreren Berechtigten das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.
Rz. 12
b) Eine Person hat nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 883/2004) --wie hier der Kläger nach Art. 2 Abs. 1 VO Nr. 883/2004-- Anspruch auf Familienleistungen (wie hier Kindergeld nach Art. 1 Buchst. z, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j VO Nr. 883/2004) nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats (hier: Deutschland gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. c und e VO Nr. 883/2004), auch für Familienangehörige, die zwar in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, die aber so behandelt werden, als wohnten sie im zuständigen Mitgliedstaat. Denn bei der Anwendung von Art. 67 und 68 VO Nr. 883/2004 ist nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle Beteiligten --insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt-- unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats (hier: Deutschland) fallen und dort wohnen (dazu eingehend EuGH-Urteil Trapkowski, EU:C:2015:720, DStRE 2015, 1501).
Rz. 13
Diese Fiktion führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (vgl. dazu im Einzelnen BFH-Urteil vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612).
Rz. 14
c) So verhält es sich im Streitfall: L lebt im Haushalt der ebenfalls kindergeldberechtigten Kindsmutter, so dass der Kläger keinen Anspruch auf Auszahlung des Kindergeldes hat.
Rz. 15
d) Die vom Kläger vorgelegte Erklärung der Kindsmutter rechtfertigt keine andere Beurteilung.
Rz. 16
aa) Der Kläger kann sich im Revisionsverfahren nicht auf diese Erklärung berufen. Der BFH ist nach § 118 Abs. 2 FGO an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, es sei denn, dass in Bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind. Tatsachen, die erstmals im Revisionsverfahren vorgetragen werden, darf er grundsätzlich nicht berücksichtigen (ständige Rechtsprechung, zuletzt etwa BFH-Urteil vom 3. Juli 2014 III R 30/11, BFHE 246, 477, BStBl II 2015, 157, Rz 34, m.w.N.). So verhält es sich im Streitfall. Der Kläger hat die Erklärung der Kindsmutter erst im Revisionsverfahren vorgelegt.
Rz. 17
bb) Im Übrigen könnte der Kläger auch unter Berücksichtigung dieser Erklärung nicht anstelle der Kindsmutter im eigenen Namen Kindergeld beanspruchen. Wegen der Einzelheiten verweist der Senat auf sein zur amtlichen Veröffentlichung vorgesehenes Urteil vom 23. August 2016 V R 19/15.
Rz. 18
2. Nachdem die Familienkasse bereits mit der Sachrüge Erfolg hat, muss über die Verfahrensrüge nicht mehr entschieden werden (Senatsurteile vom 21. März 2007 V R 28/04, BFHE 217, 59, BStBl II 2010, 999, unter II.1.; vom 8. Oktober 2008 V R 59/07, BFHE 222, 189, BStBl II 2009, 218, unter II.4.).
Rz. 19
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Fundstellen
Haufe-Index 9805099 |
BFH/NV 2016, 1725 |
BFH-ONLINE 2016 |