Entscheidungsstichwort (Thema)
Erwerberhaftung nach § 116 AO (§ 75 AO 1977)
Leitsatz (NV)
Die Haftung nach § 116 AO (§ 75 AO 1977) setzt voraus, daß die sämtlichen wesentlichen Betriebsgrundlagen des übernommenen Unternehmens von dem früheren Betriebsinhaber auf den Erwerber übereignet werden. Wird das Inventar eines Unternehmens von einem Dritten - auch einem Sicherungsnehmer - an den Erwerber unmittelbar veräußert, so greift die Erwerberhaftung nicht ein.
Normenkette
AO § 116; AO 1977 § 75
Tatbestand
Die im Jahr 1974 gegründete Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betreibt den Handel mit und die Herstellung von Fahrzeugteilen und Motoren sowie die Durchführung aller mit diesen Aufgaben zusammenhängenden Geschäfte. Die Klägerin (damals noch in der Gründungsphase) pachtete ab 1. Januar 1974 mehrere Grundstücke der Firma P, Spezialfabrik für Fahrzeug- und Formteile GmbH & Co. KG nebst dem auf diesen Gründstücken befindlichen beweglichen Anlagevermögen. Vertragspartner war der im Rahmen der im Januar 1974 vom Amtsgericht über den vorgenannten Grundbesitz angeordneten Zwangsverwaltung eingesetzte Zwangsverwalter. Auch die - 1970 gegründete - Fa. P hatte den Handel und die Herstellung von Fahrzeugteilen betrieben, bevor deren werbender Geschäftsbetrieb Ende 1973 eingestellt und Anfang 1974 die Zwangsverwaltung angeordnet wurde. Seitdem befand sich diese Firma in Liquidation; die Eröffnung eines Konkursverfahrens war mangels Masse abgelehnt worden.
Die vorgenannten Grundstücke wurden am 6. Dezember 1974 von dem Amtsgericht versteigert. Sie wurden von der Klägerin ersteigert. Das auf den Grundstücken befindliche bewegliche Anlagevermögen erwarb die Klägerin mit Vertrag vom 8. August 1975 von der Bank, der das Anlagevermögen von der Fa. P sicherungsübereignet war. Es handelte sich hierbei um insgesamt 61 Positionen von Maschinen, Werkzeugen, Betriebsvorrichtungen usw., wie z. B. um Trockenofen, Schleif- und Bohrmaschinen, Waschanlagen, Sandstrahlkammer, Pressen, Honmaschinen, Drehbänke, Fräswerke, Kompressor, Regale, Werkzeugschränke u. a.
Wegen bestandskräftig festgesetzter Umsatzsteuerrückstände 1974 der Fa. P in Höhe von 9 746,49 DM hat das FA die Klägerin mit Haftungsbescheid vom 2. Juni 1975 in Form der Einspruchsentscheidung vom 6. Juli 1977 - nach Zahlung von 2 200 DM - als Erwerberin des Unternehmens der Fa. P (§ 116 AO) in Höhe von 7 546,49 DM (9 746,49 DM ./. 2 200 DM) in Haftung genommen.
Die nach insoweit erfolglosem Einspruchsverfahren mit dem Ziel der Aufhebung des Haftungsbescheids erhobene Klage hat das FG abgewiesen. Es hat im wesentlichen ausgeführt: Zwar habe die Klägerin die wesentlichen Betriebsgrundlagen nicht ausschließlich von der Fa. P erworben, weil ihr das bewegliche Anlagevermögen von der Bank übereignet worden sei. Dies stehe jedoch der Annahme eines Übergangs des Unternehmens der Fa. P auf die Klägerin im Ganzen nicht entgegen, weil alle Vereinbarungen und Rechtshandlungen das Bestreben der Beteiligten verdeutlichten, daß die Klägerin in den Stand gesetzt werden sollte, den Betrieb nahtlos und im wesentlichen in der bisherigen Ausgestaltung fortzuführen. Dies reiche für die Anwendung von § 116 AO aus.
Mit der Revision, die das FG zugelassen hat, verfolgt die Klägerin das Klagebegehren weiter. Sie rügt unrichtige Anwendung von § 116 AO.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet.
Im Gegensatz zur Auffassung des FG fehlt es an den Voraussetzungen des hier noch einschlägigen § 116 AO (vgl. § 11 von Art. 97 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung - EGAO 1977 -).
1. Die Übereignung eines Unternehmens bedeutet nach dieser Vorschrift den Übergang des gesamten lebenden Unternehmens, d. h. der durch das Unternehmen repräsentierten organischen Zusammenfassung von Einrichtungen und dauernden Maßnahmen, die dem Unternehmen dienen oder mindestens seine wesentlichen Grundlagen ausmachen, so daß der Erwerber das Unternehmen ohne nennenswerte finanzielle Aufwendungen fortführen kann. Gehören zu den wesentlichen Grundlagen des Unternehmens des Steuerschuldners in dessen Eigentum stehende bewegliche Sachen oder Grundstücke, so müssen diese zur Erfüllung der haftungsbegründenden Voraussetzungen des § 116 AO nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) an den Erwerber übereignet werden (vgl. Urteil des BFH vom 16. März 1982 VII R 105 /79, BFHE 135, 239, BStBl II 1982, 483). Wesentlich ist es, daß das Unternehmen aus einer Hand in die Hand eines anderen übergeht (vgl. Urteile des BFH vom 3. Oktober 1963 V 50/61, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Reichsabgabenordnung, § 116, Rechtsspruch 19, und vom 20. Juli 1967 V 240 /64, StRK, Reichsabgabenordnung, § 116, Rechtsspruch 24). Maßgebender Zeitpunkt für die Frage, ob die wesentlichen Grundlagen eines Unternehmens auf den Erwerber übergegangen sind, ist derjenige der Übereignung (vgl. auch v. Wallis in Hübschmann / Hepp / Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 1. bis 6. Aufl., § 116 AO Anm. 5; Kühn / Kutter / Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 75 AO 1977 Anm. 3 d - S. 189 -; BFH-Urteil vom 25. November 1965 V 173/63 U, BStBl III 1966, 333).
2. Im Streitfall bestanden die wesentlichen Betriebsgrundlagen des Unternehmens der Betriebsvorgängerin der Fa. P zum einen aus den - seit Januar 1974 unter Zwangsverwaltung stehenden - Betriebsgrundstücken und zum anderen aus dem darauf befindlichen beweglichen Anlagevermögen (Maschinen und anderen Betriebsvorrichtungen). Die Betriebsgrundstücke wurden von der Klägerin zufolge den revisionsrechtlich verbindlichen Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) am 6. Dezember 1974 ersteigert und damit - unbeschadet der umsatzsteuerrechtlichen Rechtslage - durch Staatshoheitsakt zu Eigentum erworben (§ 90 Abs. 1 des Gesetzes über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung - ZVG -). Das bewegliche Anlagevermögen - die Maschinen und sonstigen Betriebsvorrichtungen - hat die Klägerin dagegen am 8. August 1975 nicht von der Fa. P, sondern von der Bank erworben. Die Bank, der das bewegliche Anlagevermögen ursprünglich nur zur Sicherung übereignet war, hat die zum beweglichen Anlagevermögen gehörenden Gegenstände (als Eigentümer und nicht nur als Sicherungsnehmer) im eigenen Namen und auf eigene Rechnung an die Klägerin verkauft. Die Betriebsgrundstücke einerseits und das bewegliche Anlagevermögen andererseits sind also von verschiedenen Rechtspersonen auf die Klägerin übereignet worden. Schon aus diesem Grund fehlt es an einem Übergang der sämtlichen Betriebsgrundlagen aus einer Hand (derjenigen der Fa. P) in eine andere (diejenige der Klägerin). Der sachenrechtliche Ausgangspunkt des § 116 AO, der - wie ausgeführt - für die Anwendung dieser Vorschrift maßgebend ist, liegt nicht vor, weil die Identität des veräußernden Unternehmens hinsichtlich der wesentlichen Betriebsgrundlagen - der Grundstücke einerseits und des beweglichen Anlagevermögens andererseits - nicht gegeben ist.
Zu dem gleichen Ergebnis gelangt man im Hinblick auf den für die Betriebsübereignung maßgeblichen Zeitpunkt. Stellt man hierbei auf den Erwerb der Grundstücke im Dezember 1974 ab, so fehlt es am Übergang des beweglichen Anlagevermögens. Wird hingegen auf dessen Übergang im August 1975 - also über neun Monate später - abgestellt, so liegt die Sache insofern umgekehrt, als sich die Grundstücke damals längst in der Hand der Klägerin befanden (von dieser also nicht mehr erworben zu werden brauchten). Beide Vorgänge können selbst unter Berücksichtigung der Auffassung, daß eine Übertragung im Ganzen nach § 116 AO unter bestimmten Voraussetzungen auch in Teilakten möglich ist - vgl. das genannte Urteil in BFHE 135, 239, BStBl II 1982, 483, dritter Absatz a. E. - hier nicht als einheitlicher Vorgang behandelt werden. Es handelt sich um zeitlich wie funktionell getrennte Veräußerungsvorgänge, die nicht nach der Art unselbständiger Teilakte zu einem einheitlichen Vorgang verklammert werden können. Dies zeigt sich auch darin, daß das bewegliche Anlagevermögen, soweit es sich um Grundstückszubehör gehandelt hat, nicht von der Versteigerung erfaßt wurde (vgl. § 90 Abs. 2, § 55 Abs. 2 ZVG), im Versteigerungsverfahren also als Dritteigentum - nämlich Eigentum der Bank - behandelt wurde.
Der Umstand, daß die Grundstücke einschließlich des darauf befindlichen Anlagevermögens seit Januar 1974 an die Klägerin verpachtet waren, äußert an dieser Rechtslage nichts. § 116 AO hebt auf die Übereignung der wesentlichen Betriebsgrundlagen und nicht auf Besitzeinräumung an diesen ab. Der Streitfall ist insofern vergleichbar mit demjenigen, der dem Urteil des BFH vom 6. August 1985 VII R 189/82 (BFHE 144, 204, BStBl II 1985, 651) zugrunde liegt und für den der BFH - trotz Besitzeinräumung des Erwerbers - die Anwendung von § 116 AO abgelehnt hat. Dagegen ist das vom FG in Bezug genommene Urteil des BFH vom 11. Juli 1963 V R 208/60 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1963, 413) nicht einschlägig, weil der dort entschiedene Sachverhalt in mehrfacher Hinsicht anders gelagert war.
3. Fehlt es aber - wie dargetan - an den sachenrechtlichen Voraussetzungen des § 116 AO, so kann die Frage auf sich beruhen, ob im Dezember 1974 oder im August 1975 überhaupt noch ein übereignungsfähiges Unternehmen der Fa. P vorhanden war, nachdem die Eröffnung des Konkursverfahrens über deren Vermögen mangels Masse abgelehnt worden war und sich das gesamte bewegliche Anlagevermögen im Sicherungseigentum der Bank befand (vgl. hierzu Urteil des BFH vom 8. Juli 1982 V R 138/81, BFHE 137, 388, BStBl II 1983, 282).
4. Das FG ist zu einem anderen Ergebnis gelangt. Seine Entscheidung ist daher aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Der Haftungsbescheid vom 2. Juni 1975 in Form der Einspruchsentscheidung vom 6. Juli 1977 ist aufzuheben (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO).
Fundstellen
Haufe-Index 415006 |
BFH/NV 1987, 750 |