Leitsatz (amtlich)
Die echte Rückwirkung der VOn (EWG) Nr. 649/73 und Nr. 741/73 ist zulässig.
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ließ am 9. und 12. März 1973 drei Sendungen Wein aus Italien der Tarifnr. 22.05 des Gemeinsamen Zolltarifs (GZT) bei einem Zollamt (ZA) des Beklagten und Revisionsbeklagten (Hauptzollamt – HZA –) zum freien Verkehr abfertigen. Das ZA erhob 6 705 DM Währungsausgleichsabgaben; mit Änderungsbescheid vom 6. Juni 1973 forderte es 3 898,20 DM nach.
Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg.
Auf das Vorabentscheidungsersuchen des erkennenden Senats vom 21. März 1978 (BFHE 124, 568) entschied der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EGH) mit Urteil vom 25. Januar 1979 Rs. 99/78, Art. 191 EWGV sei dahin auszulegen, daß, falls nichts Gegenteiliges bewiesen werde, eine Verordnung in der gesamten Gemeinschaft als an dem Datum veröffentlicht anzusehen sei, das auf derjenigen Nummer des Amtsblattes vermerkt sei, die den Text dieser Verordnung enthalte, und die Prüfung der vorgelegten Fragen habe nichts ergeben, was die Gültigkeit der Verordnung (EWG) Nr. 649/73 (VO Nr. 649/73) der Kommission vom 1. März 1973 (ABlEG Nr. L 64/7 vom 9. März 1973) und VO Nr. 741/73 der Kommission vom 5. März 1973 (ABlEG Nr. L 71/1 vom 19. März 1973) beeinträchtigen könnte, soweit sie vom 26. Februar bzw. 5. März 1973 an für anwendbar erklärt worden seien.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Die angefochtenen Bescheide beruhen auf der VO Nr. 741/73. Diese ist am 19. März 1973 veröffentlicht worden, war aber nach ihrem Art. 2 Satz 2 bereits vom 5. März 1973 an anzuwenden. Die Verordnung hat Währungsausgleichsbeträge u. a. für Wein erhöht, die erstmals durch die VO Nr. 649/73 festgesetzt worden sind. Diese Verordnung ist im ABlEG veröffentlicht worden, das das Datum des 9. März 1973 trägt. Nach Mitteilung des Amts für amtliche Veröffentlichungen der EG war dieses Amtsblatt erst am 12. März 1973 in den Amtssprachen der Gemeinschaft beim Verkaufsbüro des Amtes erhältlich. Damit ist die VO Nr. 649/73 nach den Grundsätzen der Vorabentscheidung des EGH im vorliegenden Fall als an diesem Tag veröffentlicht anzusehen und an diesem Tag – nicht etwa erst am Tag ihrer Verfügbarkeit in der Bundesrepublik – in Kraft getreten (vgl. auch Abs. 7 der Gründe der Vorabentscheidung des EGH). Die von ihr festgesetzten Beträge sind jedoch nach ihrem Art. 3 Abs. 2 bereits ab 26. Februar 1973 anzuwenden.
Die angefochtenen Bescheide vom 9. und 12. März 1973 stützen sich also auf die rückwirkend anwendbare belastende VO Nr. 741/73. Bei dem Bescheid vom 12. März 1973 bezieht sich diese Rückwirkung nur auf die durch die VO Nr. 741/73 vorgenommene Erhöhung von Währungsausgleichsbeträgen für Wein; diese sind erstmals durch die VO Nr. 649/73 festgesetzt worden, und zwar insoweit für den Bescheid vom 12. März 1973 ohne Rückwirkung, weil diese Verordnung, wie ausgeführt, an diesem Tage in Kraft getreten ist. Dagegen liegt für den Bescheid vom 9. März 1973 auch insoweit, als es sich um die Erstfestsetzung der Währungsausgleichsbeträge handelt, eine rückwirkende Inkraftsetzung vor.
Der EGH hat durch seine Vorabentscheidung entschieden, daß die genannten beiden Verordnungen nicht insoweit unwirksam sind, als sie für rückwirkend anwendbar erklärt worden sind. In der Begründung seiner Entscheidung hat der EGH ausgeführt:
„Der Grundsatz der Rechtssicherheit verbietet es zwar im allgemeinen, den Beginn der Geltungsdauer eines Rechtsaktes der Gemeinschaft auf einen Zeitpunkt vor dessen Veröffentlichung zu legen; dies kann aber ausnahmsweise dann anders sein, wenn das angestrebte Ziel es verlangt und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet ist. Was insbesondere die Währungsausgleichsbeträge angeht, so setzt das mit der VO Nr. 974/71 errichtete System grundsätzlich voraus, daß die vorgesehenen Maßnahmen mit dem Eintritt der sie auslösenden Ereignisse in Kraft treten; deshalb kann es sich, damit diese Maßnahmen voll wirksam werden, als notwendig erweisen, die Anwendbarkeit der neu festgesetzten Währungsausgleichsbeträge auf Tatsachen und Handlungen zu erstrecken, die sich innerhalb eines kurzen Zeitraums vor der Veröffentlichung der sie festsetzenden Verordnung im Amtsblatt zugetragen haben. Es liegt im System der Währungsausgleichsbeträge, daß die Wirtschaftsteilnehmer damit rechnen müssen, daß jede erhebliche Änderung der Währungslage u. U. die Erweiterung des Systems auf neue Warengruppen und die Festsetzung neuer Beträge mit sich bringt. Im vorliegenden Fall hat die Kommission bereits mit dem für den Beginn der Anwendbarkeit der neuen Beträge vorgesehenen Zeitpunkt besondere Maßnahmen ergriffen, um die Beträge den interessierten Fachkreisen zur Kenntnis zu bringen. Die Anwendbarkeit der VO Nr. 649/73 auf Sachverhalte, die seit dem 26.2.1973, d. h. während eines zweiwöchigen Zeitraums vor ihrer tatsächlichen Veröffentlichung, entstanden sind, war somit nicht geeignet, ein schutzwürdiges vertrauen zu verletzen. Angesichts dieser in bezug auf die VO Nr. 649/73 getroffenen Feststellung und in Anbetracht der zur damaligen Zeit herrschenden außergewöhnlichen Lage spricht kein entscheidender Gesichtspunkt der Rechtssicherheit dagegen, daß der am 5.3.1973 erlassenen VO Nr. 741/73 zur Änderung der sich aus der VO Nr. 649/73 ergebenden Währungsausgleichsbeträge vom 5.3.1973 an Wirkung beigemessen worden ist, obgleich die VO Nr. 649/73 noch nicht im ABl veröffentlicht war.”
Die Grundsätze dieser Entscheidung des EGH, an die der erkennende Senat gebunden ist, stimmen überein mit den Grundsätzen, die das BVerfG zu der Frage der echten Rückwirkung belastender Gesetze entwickelt hat. Nach dieser Rechtsprechung ist eine echte Rückwirkung ausnahmsweise zulässig, wenn das Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt und daher nicht schutzwürdig ist (vgl. Entscheidung des BVerfG vom 20. Oktober 1971 BvR 757/66, BVerfGE 32, 111, 123). Die oben zitierten Gründe der Vorabentscheidung des EGH machen deutlich, daß der EGH ohne jede Einschränkung von der gleichen rechtlichen Beurteilung ausgeht. Entgegen der Auffassung der Klägerin liegt also kein Widerspruch zwischen dem Gemeinschaftsrecht und dem Recht des Grundgesetzes vor. Der vorliegende Fall ähnelt jenem, der Gegenstand des Urteils des erkennenden Senats vom 15. Mai 1974 VII R 79/71 (BFHE 112, 434, 439, mit weiteren Nachweisen) war und in dem der Senat erkannte, daß keine rechtsstaatlichen Bedenken dagegen bestanden, daß sich die Währungsausgleichsverordnung der Bundesregierung vom 10. Oktober 1969 Rückwirkung beilegte. Es bedarf also keines Eingehens auf die Grundsätze der Entscheidung des BVerfG vom 29. Mai 1974 2 BvL 52/71 (BVerfGE 37, 271).
Fundstellen
Haufe-Index 510536 |
BFHE 1979, 122 |