Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Wirkung von Gemeinschaftsrichtlinien auf die inländische Umsatzbesteuerung
Leitsatz (NV)
1. Die Steuerfreiheit gemäß Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nummer 1 der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie konnte Kreditvermittlern nicht vor der Umsetzung dieser Richtlinie durch das Umsatzsteuergesetz 1980 gewährt werden.
2. Der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist für die Umsatzsteuer durch das Zustimmungsgesetz zu dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht das Hoheitsrecht übertragen worden, Recht mit unmittelbarer Wirkung im Inland zu setzen.
Normenkette
GG Art. 20 Abs. 3, Art. 24 Abs. 1; EWGVtr Art. 99, 189 Abs. 3; EWGRL 388/77 Art. 13 Teil B Buchst. d Nr. 1; UStG 1967/1973 § 1 Abs. 1 Nr. 1 S. 1; UStG 1967/1973 § 4; UStG 1980 § 4 Nr. 8 Buchst. a
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger war im Jahr 1979 als Kreditvermittler und in geringerem Umfange auch als Versicherungsvertreter tätig. Er erhielt von den Banken, für die er Kredite vermittelte, Provisionen zu festvereinbarten Vomhundertsätzen der vermittelten Darlehenssummen. Die Umsatzsteuer wurde bei der Abrechnung nicht gesondert ausgewiesen.
In den Voranmeldungen für Januar bis September 1979 behandelte der Kläger die Kreditvermittlungsumsätze zunächst als steuerpflichtig und rechnete aus den Provisionszahlungen die Umsatzsteuer heraus. Nach Berichtigung dieser Voranmeldungen erklärte er für 1979 - u. a. - Umsätze aus Kreditvermittlung von 282 837 DM. Dafür nimmt er unter Berufung auf Artikel 13 Teil B Buchst. d Nr. 1 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 der Europäischen Gemeinschaften zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (77/388/EWG), als nicht veröffentlichungsbedürftiger Rechtsakt am 13. Juni 1977 im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 145/1 veröffentlicht (Sechste Umsatzsteuer-Richtlinie) Steuerfreiheit in Anspruch.
Das Finanzamt (Beklagter) hat mit Bescheid vom 10. August 1981 die Kreditvermittlungsumsätze unter Anwendung des allgemeinen Steuersatzes unter dem Vorbehalt der Nachprüfung der Umsatzsteuer unterworfen.
Der Einspruch des Klägers hatte keinen Erfolg. Nach erhobener Anfechtungsklage hat das Finanzamt durch Bescheid vom 23. Februar 1983 die Umsatzsteuer auf 26 672,20 DM erhöht. Der Bescheid erging hinsichtlich der Steuerpflicht der Kreditvermittlungsumsätze und der Vorsteuern vorläufig. Der Kläger hat beantragt, diesen Bescheid zum Gegenstand des Verfahrens zu machen.
Das Finanzgericht hat, der Klage stattgebend, die Steuer auf 2 182 DM herabgesetzt. Es ist, der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften folgend, davon ausgegangen, Richtlinienbestimmungen könnten unter den vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (vgl. Urteil vom 19. Februar 1982 Rs. 8/81, Slg 1982, 53) beschriebenen Voraussetzungen unmittelbare Wirkung entfalten.
Mit der Revision rügt der Beklagte, das angefochtene Urteil verletze § 4 Nr. 8 UStG 1973 in Verbindung mit der Sechsten Umsatzsteuer-Richtlinie. Das Finanzgericht verkenne den Umfang der aus der Richtlinie herzuleitenden Steuerbefreiung, indem es sie bei verdeckter Abwälzung der Umsatzsteuer für anwendbar halte. Daraus, daß der Kläger selbst die Kreditprovisionen durch Abgabe entsprechender Voranmeldungen bis einschließlich September 1979 zunächst der Umsatzsteuer unterworfen habe, ergebe sich, daß der Kläger die Umsatzsteuer in seine Kalkulation einbezogen gehabt habe.
Das Finanzamt beantragt, die Umsatzsteuer 1979 unter Aufhebung des angefochtenen Urteils auf 26 672,20 DM festzusetzen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist begründet (§ 118 Abs. 3 Satz 2 FGO). Das angefochtene Urteil verletzt Artikel 20 Abs. 3 und Artikel 24 Abs. 1 GG. Es ist aufzuheben, die Klage ist abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO).
Das anzuwendende materielle Steuerrecht ergibt sich aus dem im Rahmen der Gesetzgebungskompetenz des Bundes (Art. 105 Abs. 2 GG) geschaffenen Umsatzsteuergesetz 1967/1973. Die Umsätze der Klägerin aus Kreditvermittlungen unterlagen gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG 1967/1973 der Umsatzsteuer. Eine Steuerbefreiung bestand nicht. Diese ist erst ab 1. Januar 1980 durch das Gesetz vom 26. November 1979 (BGBl I 1979, 1953) - UStG 1980 - in § 4 Nr. 8 Buchstabe a UStG 1980 eingeführt worden.
I.
Das Finanzgericht ist bei seiner Entscheidung dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 19. Januar 1982 Rs. 8/81 (Slg 1982, 53) gefolgt. Dieses ist zu Artikel 13 Teil B Buchst. d Nr. 1 der Sechsten Umsatzsteuer-Richtlinie ergangen. Dieser bestimmt:
,,Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten . . . von der Steuer: . . .
d) die folgenden Umsätze:
1. Die Gewährung und Vermittlung von Krediten und die Verwaltung von Krediten durch Kreditgeber . . ."
Die Sechste Umsatzsteuer-Richtlinie war zunächst bis zum 1. Januar 1978 (Art. 1 Abs. 2) in staatliches Recht umzusetzen; die Frist war durch die Neunte Umsatzsteuer-Richtlinie vom 26. Juni 1978, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 184/16 vom 19. Juli 1978, bis 1. Januar 1979 verlängert worden.
In der genannten Entscheidung führt der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften seine Rechtsprechung zur Anrufbarkeit von Richtlinien fort. Er hat - anknüpfend an seine Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung von Vorschriften des EWG-Vertrags - auf Vorabentscheidungsersuchen gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag wiederholt entschieden, Verpflichtungen, die einem Mitgliedstaat durch eine Richtlinie auferlegt worden seien, könnten Rechte einzelner begründen, wenn ein Mitgliedstaat die Verpflichtung nicht fristgerecht erfüllt habe. Betroffene Personen könnten sich auf Bestimmungen einer Richtlinie, die inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erschienen, vor den staatlichen Gerichten mit der Folge berufen, daß die Gerichte das nicht richtlinienkonforme staatliche Recht nicht anwenden dürften, sondern die fraglichen Richtlinienbestimmungen anzuwenden hätten. Insbesondere in den Fällen, in denen etwa die Gemeinschaftsbehörden die Mitgliedstaaten durch Richtlinie zu einem bestimmten Verhalten verpflichteten, würde die praktische Wirksamkeit einer solchen Maßnahme abgeschwächt, wenn die einzelnen sich vor Gericht hierauf nicht berufen und die staatlichen Gerichte sie nicht als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts berücksichtigen könnten. Der säumige Mitgliedstaat dürfe dem einzelnen nicht entgegenhalten, die aus der Richtlinie erwachsene Verpflichtung nicht erfüllt zu haben (EuGH-Urteil vom 19. Januar 1982 Rs. 8/81, Slg 1982, 53, 70/71; vgl. auch EuGH-Urteile vom 5. Februar 1963 Rs. 26/62, Slg 1963, 5; vom 6. Oktober 1970 Rs. 9/70, Slg 1970, 825, 838, 840; vom 4. Dezember 1974 Rs. 41/74, Slg 1974, 1337, 1348/9; vom 1. Februar 1977 Rs. 51/76, Slg 1977, 113, 126/7; vom 5. April 1979 Rs. 148/78, Slg 1979, 1629, 1642). Insofern wird den fraglichen Bestimmungen der Richtlinie eine ,,ähnliche Wirkung" beigelegt wie einer Verordnung des Rates der Europäischen Gemeinschaften (vgl. EuGH-Urteil vom 19. Januar 1982 Rs. 8/81, a.a.O., S. 70/71).
Dieser Rechtsprechung wird im Schrifttum Verbindlichkeit für die deutsche Rechtsanwendung beigelegt (vgl. z. B. Werbke, NJW 1970, 2137; Millarg, EuR 1981, 444; Herrmann RJW 1982, 566; Voss, RJW 1982, 570; Dänzer-Vanotti, BB 1982, 1106; Everling, Festschrift für Karl Carstens S. 95 ff.; Seidel, NJW 1985, 517).
Dieser Auffassung hat sich das Finanzgericht angeschlossen. Es hätte jedoch die Vorfrage prüfen müssen, ob eine Hoheitsrechtsübertragung vorliegt, welche die Anwendung des Gemeinschaftsrechts im innerstaatlichen Bereich zuläßt; denn selbst das begrenzte Recht, sich auf eine Richtlinie zu berufen, könnte nur dann zur Unanwendbarkeit geltenden Bundesrechts führen, wenn die das Recht gewährende Norm der Anrufbarkeit ihrerseits unmittelbar gelten würde. Das aber ist nicht der Fall.
II.
Der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist für die Umsatzsteuer nicht gemäß Artikel 24 Abs. 1 GG das Hoheitsrecht zur Rechtsetzung mit unmittelbarer Wirkung im Inland im Rahmen der Rechtsangleichung (Art. 99, 100, 189 EWG-Vertrag) übertragen worden. Das Umsatzsteuergesetz 1967/1973 war gemäß Artikel 20 Abs. 3 GG für das Jahr 1979 anzuwenden.
1. Nach Artikel 24 Abs. 1 GG kann die Bundesrepublik Deutschland ,,durch Gesetz" Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen. Das ist durch das Gesetz zu den Verträgen vom 25. März 1957 zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft vom 27. Juli 1957 (BGBl II 1957, 753 - Zustimmungsgesetz -) geschehen. Diesem Gesetz ist das Ausmaß der Hoheitsrechtsübertragung zu entnehmen.
Diese Prüfung fällt in die Zuständigkeit des Prozeßgerichts. Diesem obliegt es, das anzuwendende Recht zu ermitteln und auszulegen (vgl. BVerfGE 1, 184, 197; 31, 145, 174).
Zu dem im Inland geltenden und gemäß Artikel 20 Abs. 3 GG verbindlichen Recht gehört auch das Zustimmungsgesetz vom 27. Juli 1957 als der Hoheitsrechte der Bundesrepublik Deutschland übertragende Rechtsakt. Dementsprechend hat das Prozeßgericht im Rahmen der Auslegung des Zustimmungsgesetzes zu entscheiden, ob Rechtsakte der Organe der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im staatlichen Bereich wirken; dies gilt insbesondere für die Frage, ob Richtlinien ,,ähnliche Wirkungen" wie Verordnungen entfalten und ob Rechtsbürger der Gemeinschaft sich auf dafür geeignete Bestimmungen von Richtlinien berufen können (vgl. BVerfGE 22, 293, 296; 31, 145, 174 f., 52, 187, 200 f.; BFH-Urteil vom 10. Juli 1968 VII 198/63, BFHE 93, 102, 106 f.; Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, 1969, 160 ff., 165, 168; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 290 ff.; Lutter, ZZP 1973, 108, 146).
2. Gemäß Artikel 20 Abs. 3 GG sind die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht der Bundesrepublik Deutschland gebunden. Das schließt die Bindung an diejenigen Rechtsnormen ein, auf welche das Recht der Bundesrepublik Deutschland verweist. Dazu gehören die von einer zwischenstaatlichen Einrichtung - hier der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft - zu unmittelbarer Geltung innerhalb der Mitgliedstaaten bestimmten Rechtsnormen, wenn und soweit der zwischenstaatlichen Einrichtung gemäß Artikel 24 Abs. 1 GG durch Gesetz das Hoheitsrecht übertragen worden ist, Recht mit unmittelbarer Geltung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland zu setzen.
Mit der Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Artikel 24 Abs. 1 GG ist die deutsche Hoheitsrechtsausübung im Inland eingeschränkt und in demselben Umfang die Geltung und Anwendbarkeit des Rechts der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich zugelassen worden (vgl. BVerfGE 37, 271, 280; 58, 1, 28; NJW 1985, 603, 606). Da die Öffnung des innerstaatlichen Bereichs für das autonome Gemeinschaftsrecht zugleich einen Eingriff in eine verfassungsrechtlich festgelegte Zuständigkeit und damit eine materielle Verfassungsänderung bedeutet (vgl. BVerfGE 58, 1, 35 f.; NJW 1985, 603, 610; BFH-Urteil vom 10. Juli 1968 VII 198/63, BFHE 93, 102, 105 f.), ist der Gesetzesvorbehalt des Artikels 24 Abs. 1 GG strikt zu verstehen. Nach der Hoheitsrechtsübertragung eintretende Rechtsentwicklungen in der zwischenstaatlichen Einrichtung - hier der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft - sind durch das deutsche Zustimmungsgesetz nur gedeckt, soweit dieses auch dafür bereits Hoheitsrechte übertragen hat, also künftige Entwicklungen hinreichend bestimmbar normiert sind. Nur soweit dies der Fall ist, ist ein neuerliches Zustimmungsgesetz entbehrlich (vgl. BVerfGE 58, 1, 36 f.; NJW 1985, 603, 607).
3. Das deutsche Gesetz vom 27. Juli 1957 hat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für die Umsatzsteuer nicht das Hoheitsrecht zur Rechtsetzung mit unmittelbarer Geltung im Inland übertragen. Das ergibt sich aus dem EWG-Vertrag, wie er Bestandteil dieses Gesetzes geworden ist.
Der EWG-Vertrag bezweckt die Schaffung eines gemeinsamen Marktes (Art. 2 EWG-Vertrag). Der Vertrag hält für Rechtshandlungen der Gemeinschaftsorgane eine Reihe von Rechtsformen bereit, u. a. Verordnung und Richtlinie (Art. 189 EWG-Vertrag), deren Wirksamkeit die Einhaltung bestimmter Formvorschriften voraussetzt (Art. 190 bis 192 EWG-Vertrag). Mit welchem materiellen Inhalt die einzelnen Arten von Rechtshandlungen ergehen können, ist teils dem Ermessen des handelnden Organs überlassen, teils ausdrücklich in den Vorschriften über die sachliche Regelung der einzelnen Vertragsgegenstände festgelegt (vgl. Daig in Groeben/Boeckh/Thiesing/Ehlermann, Kommentar zum EWG-Vertrag, 3. Aufl. 1983, Bd. II, § 189 Rdnr. 30). Zu den Aufgaben der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gehört die Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten (Art. 3 Buchst. h, Art. 100 bis 102 EWG-Vertrag); für die Umsatzsteuer ist diese Aufgabe in Artikel 99 EWG-Vertrag gesondert hervorgehoben. Die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften zur Rechtsangleichung auf dem Gebiet der Umsatzsteuer sind als Richtlinien zu erlassen (Art. 99, 100 EWG-Vertrag) und bedürfen nicht der Veröffentlichung (Art. 191 EWG-Vertrag). Richtlinien dienen einer zweistufigen Rechtsetzung. Auf der ersten Stufe werden der Inhalt des zu harmonisierenden Rechts und die Frist zur Umsetzung durch die Mitgliedstaaten festgelegt. Auf der zweiten Stufe haben die Mitgliedstaaten die an sie gerichteten Richtlinien binnen der ihnen gesetzten Frist in staatliches Recht umzusetzen. Richtlinien können nur an Mitgliedstaaten ergehen und sind für den Staat, an den sie gerichtet werden, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel (Art. 189 Abs. 3 EWG-Vertrag).
Mit der Zustimmung zu diesem Weg der Rechtsangleichung auf dem Gebiet der Umsatzsteuer und zu Artikel 189 Abs. 3 EWG-Vertrag sollte demnach nicht die Kompetenz übertragen werden, Richtlinien (in den nicht zur Rechtsetzung mit unmittelbarer Geltung übertragenen Bereichen) - auch nicht im Wege der Rechtsfortbildung - ähnliche Wirkungen beizulegen wie Verordnungen.
Von diesem Verständnis des Artikels 189 EWG-Vertrag sind die Vertragschließenden im Jahre 1957 ausgegangen (vgl. Oldekop, JÖR 1972, 55, 104; Tomuschat, EuGRZ 1979, 257, 259; Bleckmann, Europarecht, 3. Aufl., 1980, S. 67; Fuß, Gedächtnisschrift für Christoph Sasse, Bd. I, 1981, S. 171, 174; Everling, Festschrift für Karl Carstens, 1984, S. 95, 97).
Auf dieser Auffassung beruht auch Artikel 2 Satz 2 des Deutschen Zustimmungsgesetzes vom 27. Juli 1957, der zwischen Beschlüssen des Rates der Gemeinschaft unterscheidet, durch die innerstaatliche Gesetze erforderlich werden, und solchen, durch die in der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar geltendes Recht geschaffen wird. Bestätigt wird dies durch die Erläuterungen der Bundesregierung bei der Verabschiedung des Zustimmungsgesetzes zu den Römischen Verträgen; in der Bundestags-Drucksache 3440 vom 4. Mai 1957 Anlage C heißt es zu Artikel 189 EWG-Vertrag: ,,Richtlinien sind für den einzelnen nicht unmittelbar verbindlich. Sie werden es erst durch die von den Mitgliedstaaten zur Ausführung dieser Richtlinien erlassenen Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsmaßnahmen . . . ."
Auch der Conseil d`Etat ist mit seiner Entscheidung vom 22. Dezember 1978 (EuR 1979, 292) - für das französische Recht - zu einem entsprechenden Verständnis des EWG-Vertrags, insbesondere des Artikels 189 Abs. 3 EWG-Vertrag, gelangt.
Sonach ist der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf dem Gebiet der Umsatzsteuer nicht das Hoheitsrecht übertragen worden, Vorschriften zu erlassen, die mit Vorrang vor dem deutschen Gesetzesrecht angewendet werden könnten (vgl. Fuß, DVBl 1965, 378, und Festschrift für Kuno Barth, 1971, S. 37, 54 ff.), so daß das Umsatzsteuergesetz 1967/1973 im Streitjahr anzuwenden war.
4. Artikel 20 Abs. 3 GG gestattet auch nicht, das Umsatzsteuergesetz 1967/1973 bei der Rechtschutzgewährung durch Anerkennung eines subjektiven materiellen oder prozessualen Rechts des einzelnen außer Anwendung zu lassen. Die dahingehenden Auffassungen beruhen auf der Annahme, der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem staatlichen Recht greife unabhängig von Art und Inhalt der jeweiligen Norm stets ein; der einzelne könne sich als Rechtsbürger der Gemeinschaft zu eigenen Gunsten auf einen Vertragsverstoß des Mitgliedstaats diesem gegenüber berufen.
Das Gemeinschaftsrecht kann einen solchen Anspruch, wie dargelegt, nicht begründen. Das deutsche Recht gewährt ihn nicht; denn Artikel 20 Abs. 3 GG gebietet die Anwendung der deutschen Gesetze, die von den gesetzgebenden Körperschaften kompetenzgemäß und materiell verfassungsgemäß geschaffen worden sind. Dem einzelnen stehen keine Ansprüche gegen den Staat zu, wenn dieser seiner Verpflichtung gegenüber einer zwischenstaatlichen Einrichtung und anderen Staaten zur Schaffung einer bestimmten Gesetzeslage nicht oder nicht fristgerecht nachkommt. Es besteht auch kein konkretes Rechtsverhältnis, kraft dessen nach Treu und Glauben erlaubt oder geboten sein könnte, einzelne Rechtsfolgen abweichend von der gesetzlichen Anordnung eintreten zu lassen. Insbesondere gebietet die Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zur Gemeinschaftstreue (Art. 5 EWG-Vertrag) nicht, die Berufung des einzelnen auf ihm günstige Richtlinienbestimmungen entgegen dem Gesetz zuzulassen; denn für das im EWG-Vertrag festgelegte Ziel der Schaffung eines gemeinsamen Marktes ist in Artikel 99, 100, 189 Abs. 3 EWG-Vertrag für die Umsatzsteuer ein besonderes Verfahren vorgesehen, das den Rückgriff auf die Treuepflicht ausschließt.
5. Bei der Umsatzsteuerfestsetzung hat das Finanzamt sonach zu Recht das UStG 1967/1973 angewendet. Die Steuerfestsetzung ist zutreffend. Das angefochtene Urteil des Finanzgerichts war dementsprechend aufzuheben und die Klage abzuweisen.
III.
Die Voraussetzungen einer Anrufung des Großen Senats des Bundesfinanzhofs oder des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes sind nicht erfüllt, da noch kein anderer Senat des Bundesfinanzhofs und noch kein anderes oberstes Bundesgericht die unmittelbare Wirkung bzw. ,,Anrufbarkeit" von Richtlinien vergleichbarer Art in einer Entscheidung anerkannt hat. Das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 10. Juli 1968 VII 198/63 (BFHE 93, 102) betraf eine Verordnung, die nach Artikel 189 Abs. 2 EWG-Vertrag unmittelbar gilt. In dem Urteil des Bundesfinanzhofs vom 11. Juli 1968 VII 156/65 (BFHE 92, 405) sind die Wirkungen des Artikels 95 EWG-Vertrag behandelt. Beide Entscheidungen sind nicht zu den unmittelbaren Wirkungen einer Richtlinie ergangen. Der Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. Juli 1975 I C 20.73 (BVerwGE 49, 60) erklärt die Auslegung einer Richtlinie durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als maßgeblich für die Auslegung des deutschen Gesetzes zur Umsetzung dieser Richtlinie; die Entscheidung betrifft also nicht die Wirkungen einer Richtlinie, die noch nicht in staatliches Recht umgesetzt worden ist; darum aber geht es im Streitfall. Der Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Mai 1984 III C 12.82 geht zwar von der unmittelbaren Wirkung nicht umgesetzter Richtlinien aus. Es handelt sich aber um ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften und nicht um eine das beschließende Gericht selbst bindende Endentscheidung, die allein zur Einleitung des Verfahrens gemäß §§ 2, 11 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 12. Juni 1968 (BGBl I 1968, 661) berechtigen und verpflichten würde.
Auch eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gemäß Artikel 100 Abs. 1 Satz 1 GG kam nicht in Betracht. Denn der Senat hält das Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag nicht für verfassungswidrig. Der Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zur Auslegung der Sechsten Umsatzsteuer-Richtlinie bedarf es nicht, da bereits Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vorliegen und da es - wie dargestellt - im entscheidungserheblichen Punkt nicht auf das Recht der Europäischen Gemeinschaften, sondern auf das Recht der Bundesrepublik Deutschland ankommt.
Fundstellen