Leitsatz (amtlich)
Soll bei formell ordnungsmäßiger Buchführung die Befugnis zur Schätzung der Besteuerungsgrundlagen wegen sachlicher Unrichtigkeit des Buchführungsergebnisses durch eine Nachkalkulation dargetan werden, so sind an diesen Nachweis wesentlich strengere Anforderungen zu stellen als an die Begründung einer Schätzung des Umsatzes oder Gewinns bei festgestellten, zur Schätzung berechtigenden Mängeln der Buchführung.
Normenkette
AO § 217
Gründe
Aus den Gründen:
Nach den bisher vom FG getroffenen Feststellungen steht - entgegen der Ansicht des FA - noch nicht fest, ob das FA befugt war, die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen. Nach § 217 Abs. 2 Satz 2 AO ist eine solche Schätzung zulässig, wenn Bücher oder Aufzeichnungen, die der Steuerpflichtige nach den Steuergesetzen zu führen hat, unvollständig oder formell oder sachlich unrichtig sind. Eine formell richtige Buchführung begründet nach § 208 AO die Vermutung, daß auch das sachliche Ergebnis richtig ist. Da jede Buchführung Menschenwerk ist und als solches notwendigerweise nicht vollkommen sein kann (Urteil des BFH IV 131/54 U vom 26. Oktober 1955, BFH 62, 6, BStBl III 1956, 3), hat die Rechtsprechung der Buchführung die formelle Richtigkeit nur abgesprochen, wenn wesentliche Mängel vorliegen (vgl. das BFH-Urteil IV R 57/67 vom 31. Juli 1969, BFH 97, 246, BStBl II 1970, 125). Liegen solche Mängel vor, so ist die Buchführung formell unrichtig im Sinne des § 217 AO und eine Schätzung dem Grunde nach möglich. Sind die Mängel nur unwesentlich oder lassen sich keine formellen Mängel feststellen, so schließt das nicht aus, daß nach § 217 Abs. 2 Satz 2 AO eine Schätzung wegen sachlicher Unrichtigkeit der Buchführung erfolgen darf, wenn eine solche sachliche Unrichtigkeit festgestellt werden kann.
Für die Frage der Ordnungsmäßigkeit der Buchführung spielt es - entgegen der Ansicht des Steuerpflichtigen - keine Rolle, ob er buchführungspflichtig war; entscheidend ist, daß er die Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 1 EStG gewählt hatte (vgl. das BFH-Urteil I 348/61 vom 20. Januar 1965, HFR 1965, 313).
Das FG hat bisher für die Streitjahre keine formellen Buchführungsmängel festgestellt. Deshalb hätte - wovon das FG offenbar auch ausgeht - die Schätzung nur erfolgen dürfen, wenn die Buchführung sachlich unrichtig gewesen wäre. Aus dem Umstand, daß formell richtige Aufzeichnungen nach § 208 AO die Vermutung der sachlichen Richtigkeit für sich haben und deshalb ihr Ergebnis der Besteuerung zugrunde zu legen ist, folgt, daß eine Schätzung wegen sachlicher Unrichtigkeit nur dann gerechtfertigt ist, wenn nach den Umständen des Falles Anlaß besteht, die sachliche Unrichtigkeit der formell richtigen Buchführung anzunehmen. Durch § 208 AO ist das FA nicht gehindert zu prüfen, o b Anlaß zu der Annahme besteht, daß die Buchführung sachlich unrichtig ist. Es kann das auch durch Verprobungen feststellen. Dazu wird es um so eher Veranlassung haben, wenn in früheren Jahren - wie hier - ernstliche Buchführungsmängel vorlagen. Ob Anlaß zu der Annahme besteht, daß die formell richtig erscheinende Buchführung sachlich unrichtig sei und damit der Weg für eine Schätzung frei wird, ist nach den jeweils gegebenen Umständen verschieden. Umstände, die in dem individuellen Betrieb vorliegen und das Ergebnis unwahrscheinlich machen (z. B. ein sich aus der Buchführung ergebender unwahrscheinlich niedriger Rohgewinnsatz), können eher zu einer Schätzung führen als Umstände, die nur den in anderen Betrieben gewonnenen allgemeinen Erfahrungen entnommen sind (vgl. das BFH-Urteil IV 179/60 U vom 18. März 1964, BFH 79, 410, BStBl III 1964, 381).
Da eine Nachkalkulation mit Unsicherheitsfaktoren verbunden ist und ihrem Wesen nach selbst eine Schätzung darstellt, so daß also die Schätzungsbefugnis erst durch eine Schätzung begründet wird, müssen an diese hohe Anforderungen gestellt werden. Sie muß einwandfrei erfolgen, den Unsicherheiten Rechnung tragen (Urteil des RFH VI A 765/36 vom 30. September 1936, RStBl 1936, 996) und zu dem Ergebnis führen, daß das Buchführungsergebnis nicht richtig sein kann (BFH-Urteil IV 179/60 U, a. a. O.). Insofern besteht zwischen einer Schätzung, die das wahrscheinliche Gewinnergebnis feststellen soll, und einer Nachkalkulation, die dartun soll, daß das formell richtig erscheinende Buchführungsergebnis sachlich falsch ist und deshalb außer acht gelassen werden kann, die also erst eine Schätzung ermöglichen soll, ein wesentlicher Unterschied.
Ist dargetan, daß das Buchführungsergebnis nicht richtig sein kann, so liegt gleichzeitig auch eine neue Tatsache im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO vor. Erst wenn die Zulässigkeit der Schätzung feststeht, kann festgestellt werden, um wieviel der Steueranspruch höher war und ob angesichts der Gewichtigkeit dieser Mehrbeträge eine Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO hätte stattfinden dürfen. Das kann - entgegen der Ansicht des Steuerpflichtigen - für die Umsatzsteuer und für die Einkommensteuer unterschiedlich beantwortet werden, weil die steuerlichen Auswirkungen verschieden sein können.
Fundstellen
Haufe-Index 69159 |
BStBl II 1970, 838 |
BFHE 1971, 159 |