Entscheidungsstichwort (Thema)
Rückwirkende Änderung einer Kindergeldfestsetzung wegen Überschreitens des Jahresgrenzbetrages gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG; Kindergeldfestsetzung als teilbarer Verwaltungsakt
Leitsatz (NV)
- Stellt sich nach Ablauf eines Kalenderjahres heraus, dass die Einkünfte oder Bezüge eines Kindes den Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überschreiten, so ist die Familienkasse berechtigt, die Festsetzung des Kindergeldes rückwirkend mit Wirkung zu Beginn des Kalenderjahres aufzuheben.
- Eine Kindergeldfestsetzung ist ein zeitlich teilbarer Verwaltungsakt. Die Familienkasse ist daher befugt, eine unrichtige oder unrichtig gewordene Kindergeldfestsetzung in der Weise zu ändern, dass sie für verschiedene Zeitabschnitte verschiedene Änderungsbescheide erlässt.
Normenkette
AO 1977 § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 2; EStG § 31 S. 3, § 32 Abs. 4 S. 2, § 70 Abs. 2, § 71
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist die Mutter eines am 19. August 1975 geborenen Sohnes. Der Sohn absolvierte im Streitjahr 1997 eine Ausbildung zum Energieelektriker. Seine Ausbildungsvergütung betrug bis einschließlich August 1997 monatlich 1 140 DM und ab September 1997 monatlich 1 340 DM. Zudem erhielt er Urlaubs- und Weihnachtsgeld in Höhe von insgesamt 2 424 DM.
Das seinerzeit für die Klägerin zuständige Arbeitsamt setzte für den Sohn der Klägerin zunächst mit Bescheid vom 30. Januar 1996 das Kindergeld ab Januar 1996 gemäß § 165 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) vorläufig fest. Am 18. September 1996 wandte sich der durch Umzug der Klägerin zuständig gewordene Beklagte und Revisionskläger (das Arbeitsamt ―Familienkasse―) mit einem Schreiben an die Klägerin, in dem er ihr die neue Kindergeld-Nummer mitteilte. Weiter heißt es in dem Schreiben: "Aufgrund Ihrer Angaben habe ich das Kindergeld ab Okt. 1996 in der bisherigen Höhe festgesetzt."
Im November 1996 reichte die Klägerin bei der Familienkasse eine Ausbildungsbescheinigung ein, aus der sich ergab, dass ihr Sohn bis August 1997 eine Ausbildungsvergütung in Höhe von 1 070 DM monatlich und ab September 1997 in Höhe von 1 260 DM erhalten werde. Weiter wurde in der Bescheinigung angegeben, dass dem Sohn der Klägerin im Jahr 1997 weder Urlaubs- noch Weihnachtsgeld gezahlt werde. Im Dezember 1997 reichte die Klägerin eine neue Ausbildungsbescheinigung ein, aus der sich die tatsächlichen ―gegenüber der ersten Bescheinigung höheren― Einnahmen ihres Sohnes ergaben. Die Familienkasse änderte daraufhin mit Bescheid vom 20. Februar 1998 zunächst die Festsetzung des Kindergeldes mit Wirkung ab Januar 1998 auf 0 DM. Mit einem weiteren Bescheid vom 21. April 1998 änderte sie außerdem unter Berufung auf § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 die Kindergeldfestsetzung für 1997. Gleichzeitig forderte die Familienkasse das für 1997 gezahlte Kindergeld in Höhe von 2 640 DM zurück.
Das Finanzgericht (FG) gab der nach erfolgslosem Einspruch erhobenen Klage statt. Der Klägerin habe für 1997 zwar kein Kindergeld für ihren Sohn zugestanden, da dessen Einkünfte den Grenzbetrag von 12 000 DM überstiegen hätten, die Familienkasse sei aber aus verfahrensrechtlichen Gründen gehindert gewesen, die Kindergeldfestsetzung entsprechend zu ändern und das für 1997 gezahlte Kindergeld zurückzufordern. Grundsätzlich sei zwar das Überschreiten des Grenzbetrages ein Ereignis mit steuerlicher Rückwirkung, das zu einer Änderung der Festsetzung gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 berechtige, es bestehe aber hier die Besonderheit, dass die Kindergeldfestsetzung bereits mit Bescheid vom 20. Februar 1998 geändert worden sei. Die Aufhebung der Festsetzung auch für das Jahr 1997 hätte in diesem Bescheid vollzogen werden müssen. Da nach dessen Erlass keine Tatsachen mit Rückwirkung eingetreten seien, sei eine Änderung der Festsetzung wegen Überschreitens des Grenzbetrages nicht mehr möglich.
Mit ihrer Revision macht die Familienkasse geltend, das FG habe zu Unrecht § 175 AO 1977 angewendet. Das Kindergeld sei durch Bescheid vom 30. Januar 1996 vorläufig festgesetzt worden; dementsprechend habe die Festsetzung gemäß § 165 Abs. 2 AO 1977 geändert werden können. Dies sei durch die Bescheide vom 20. Februar und 21. April 1998 geschehen. Der Bescheid vom 30. Januar 1996 sei auch zum Zeitpunkt des Erlasses der beiden Änderungsbescheide noch wirksam gewesen. Er sei insbesondere nicht durch das Schreiben vom 18. September 1996 aufgehoben worden.
Die Familienkasse beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie beruft sich im Wesentlichen auf die Gründe der Vorentscheidung.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―).
1. Zutreffend geht die Vorinstanz davon aus, dass ein Anspruch der Klägerin auf Kindergeld für ihren Sohn im Jahr 1997 gemäß § 62 Abs. 1 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in der im Streitjahr geltenden Fassung nicht bestand, da die Einkünfte des Sohnes den Jahresgrenzbetrag von 12 000 DM überschritten.
2. a) Die Familienkasse war entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht gehindert, die Festsetzung des Kindergeldes mit dem angefochtenen Bescheid vom 21. April 1998 rückwirkend aufzuheben (vgl. schon Senatsurteil vom 21. Juli 2000 VI R 153/99, BFHE 192, 316, BStBl II 2000, 566, unter II. 4.). Dabei kann offen bleiben, ob das Arbeitsamt den Bescheid vom 30. Januar 1996 mit einem Vorläufigkeitsvermerk versehen durfte und ob dieser wirksam war. Ebenso wenig braucht der Senat zu entscheiden, ob das Schreiben der Familienkasse vom 18. September 1996 als Verwaltungsakt anzusehen ist oder nicht. Die Befugnis der Familienkasse, die Kindergeldfestsetzung zu ändern, folgt, wie sich aus dem Regelungszusammenhang des Gesetzes ergibt, aus der Tatsache, dass der Sohn der Klägerin im Jahr 1997 über zu hohe Einkünfte verfügte. Einerseits ist nach § 31 Satz 3 und § 71 EStG das Kindergeld laufend (monatlich) zu zahlen. Andererseits bestimmt § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG, dass ein Kind, welches das 18., aber noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat, nur dann berücksichtigt wird, wenn seine Einkünfte und Bezüge einen bestimmten Betrag im Kalenderjahr nicht überschreiten. Ob der Jahresgrenzbetrag überschritten wird, entscheidet sich erst mit Ablauf des Kalenderjahres. Insoweit besteht ein grundlegender Unterschied zu feststehenden Tatbestandsmerkmalen wie etwa der Haushaltszugehörigkeit eines Kindes oder der Absolvierung einer Ausbildung. Über das Vorliegen oder Nichtvorliegen solcher feststehender Tatbestandsmerkmale kann die Behörde jederzeit befinden und somit die Leistung des Kindergeldes stets zeitnah den tatsächlichen Verhältnissen anpassen. Ob die eigenen Einkünfte und Bezüge eines Kindes hingegen den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überschreiten, kann sich im Laufe eines Kalenderjahres unterschiedlich darstellen und abschließend regelmäßig erst nach Ablauf des Jahres geprüft werden. Diese gesetzliche Konzeption macht es erforderlich, Kindergeldfestsetzungen, die vor Beginn oder während eines Kalenderjahres erlassen worden sind, wieder aufheben zu können, wenn abzusehen ist oder bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den (Jahres-)Grenzbetrag überschreiten werden bzw. überschritten haben. Dabei kann offen bleiben, ob die Änderung in diesen Fällen auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 allein oder i.V.m. § 175 Abs. 2 AO 1977 (so die h.M., Niedersächsisches FG, Urteil vom 5. Mai 1999 II 651/97 Ki, Entscheidungen der Finanzgerichte ―EFG― 1999, 906; FG Köln, Urteil vom 16. November 1999 2 K 7567/98, EFG 2000, 180; FG Düsseldorf, Urteil vom 19. November 1999 18 K 8117/98 Kg, EFG 2000, 272; FG des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 1. März 2000 2 K 597/98, EFG 2000, 797; Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, § 70 EStG Anm. 13; Greite in Korn, § 70 EStG Rz. 17; Heuermann in Blümich, Einkommensteuergesetz, § 70 Rz. 40; Jachmann in Kirchhof, Einkommensteuergesetz, § 70 Rn. 2 a.E.) oder auf § 70 Abs. 2 EStG zu stützen ist (so Niedersächsisches FG, Urteil vom 19. August 1997 VII 604/96 Ki, EFG 1998, 109; MIT, Anm. zu Bundesfinanzhof vom 1. März 2000 VI R 32/99, Deutsches Steuerrecht ―DStR― 2000, 968).
b) Die Familienkasse hat sich ihrer Befugnis, die Kindergeldfestsetzung aufzuheben, auch nicht durch den Erlass des ersten Änderungsbescheides vom 20. Februar 1998 begeben. Die Festsetzung von Kindergeld ist ein teilbarer Verwaltungsakt. Dies ergibt sich aus dem nach § 66 Abs. 2 EStG geltenden Monatsprinzip, nach dem Kindergeld für jeden Monat gezahlt wird, in dem die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen. Die Festsetzung umfasst somit einen Anspruch für jeden Monat; entsprechend kann sie für einzelne Monate aufgehoben oder geändert werden und für andere Monate unverändert bestehen bleiben. Sie ist demnach auch nicht zu beanstanden, wenn die Behörde eine Kindergeldfestsetzung mehrfach in der Weise ändert, dass für die verschiedenen Monate durch verschiedene Bescheide Regelungen getroffen werden. Der hier im Streit stehende Bescheid vom 21. April 1998 regelt den Anspruch der Klägerin auf Kindergeld für das Jahr 1997 und damit einen Sachverhalt, der nicht durch den ersten Änderungsbescheid vom 20. Februar 1998 erfasst war. Letzterer betraf den Anspruch auf Kindergeld ab Januar 1998.
3. Da aufgrund der rechtmäßigen Aufhebung der Kindergeldfestsetzung der rechtliche Grund für die Zahlung des Kindergeldes an die Klägerin weggefallen war, konnte die Familienkasse gemäß § 37 Abs. 2 AO 1977 auch das für 1997 gezahlte Kindergeld in Höhe von 2 640 DM zurückfordern.
Fundstellen
Haufe-Index 664365 |
BFH/NV 2002, 178 |
DStRE 2002, 95 |