Entscheidungsstichwort (Thema)
Einkommensteuer, Lohnsteuer, Kirchensteuer
Leitsatz (amtlich)
Hat ein aus Gründen der Rasse Verfolgter den seinem Vater durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen entzogenen Betrieb vor Kriegsende geerbt und war er durch die Verfolgung gehindert, die Erbschaft tatsächlich zu übernehmen, so ist darin ein Verlust der Erwerbsgrundlage im Sinne der §§ 7 a, 10 a EStG zu erblicken. Der I. Senat tritt der Auffassung des VI. Senats im Urteil VI 57 - 59/60 U vom 16. Dezember 1960 (BStBl 1961 III S. 62, Slg. Bd. 72 S. 167) bei.
Normenkette
EStG §§ 7a, 10a
Tatbestand
Streitig ist, ob dem Bf. die Steuervergünstigungen der §§ 7 a und 10 a EStG zu gewähren sind.
Der im Jahre 1926 in Polen geborene, der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörende Bf., der in A. ein Uhren- und Schmuckeinzelhandelsgeschäft betreibt, beansprucht die Steuervergünstigungen der §§ 7 a und 10 a EStG sowohl als aus Gründen der Rasse Verfolgter als auch als Vertriebener im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG). Er macht geltend, er habe durch die Verfolgung bzw. Vertreibung seine Erwerbsgrundlage verloren. Sein Vater habe in Polen ein gleichartiges Geschäft betrieben und dort ein Mietwohngrundstück besessen. Mit seinen Eltern und Geschwistern sei er in ein KZ verbracht worden, wo seine sämtlichen Angehörigen ums Leben gekommen seien. Dadurch sei er der Alleinerbe seines Vaters geworden.
Das Finanzamt versagte die geltend gemachten Steuervergünstigungen, weil der Bf. im Zeitpunkt der Verfolgung keine eigene Erwerbsgrundlage besessen habe.
Mit seiner Sprungberufung brachte der Bf. vor, bei seiner Befreiung aus dem KZ im Jahre 1945 habe das Geschäft noch bestanden und auch das Grundstück sei erhalten geblieben. Er habe jedoch wegen der damaligen Verhältnisse in Polen die Erbschaft nicht angetreten, sondern sei nach A. verzogen, wo er im Jahre 1952 sein Geschäft eröffnet habe.
Die Sprungberufung blieb erfolglos. Das Finanzgericht führte aus, die Vergünstigungen könnten nur gewährt werden, wenn der Bf. persönlich die Voraussetzungen der §§ 7 a und 10 a EStG erfülle. Dies sei nicht der Fall. Nach der Darstellung des Bf. fehle es an dem unmittelbaren ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Verlust der ererbten Erwerbsgrundlage und den Verfolgungsmaßnahmen, die er erlitten habe.
Mit der Rb. ergänzt der Bf. seine bisherigen Darlegungen dahin, daß er nach seiner Befreiung aus dem KZ zunächst nach Polen zurückgekehrt sei, um sein Erbe in Besitz zu nehmen. Wegen Verfolgungen, die kurz darauf eingesetzt und in den Nachbarorten zur Ermordung einzelner Personen geführt hätten, sei er nach A. geflüchtet. Der Gewerbebetrieb sei durch die Verfolgung, das Mietwohngrundstück infolge der Vertreibung verlorengegangen.
Entscheidungsgründe
Die Rb. führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Finanzamt.
Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Steuervergünstigungen nach §§ 7 a und 10 a EStG ist, daß der Steuerpflichtige seine Erwerbsgrundlage infolge der Vertreibung oder Verfolgung verloren hat. Der aus Gründen der Rasse verfolgte Bf. besaß zwar, wie das Finanzgericht zutreffend ausführt, bei seiner Einlieferung in das KZ keine eigene Erwerbsgrundlage, da Geschäft und Grundstück noch seinem in gleicher Weise verfolgten Vater gehörten. Die Anwartschaft auf ein Erbe bedeutet nach ständiger Rechtsprechung noch keine Erwerbsgrundlage im Sinne der §§ 7 a und 10 a EStG (Entscheidungen des Bundesfinanzhofs VI 147/60 S und VI 165/60 S vom 23. September 1960, BStBl 1960 III S. 462, 464, Slg. Bd. 71 S. 570, 574). Nach dem erst nach der Vorentscheidung ergangenen Urteil des Bundesfinanzhofs VI 57 - 59/60 U vom 16. Dezember 1960 (BStBl 1961 III S. 62, Slg. Bd. 72 S. 167) hat jedoch ein aus rassischen Gründen Verfolgter, der den seinem Vater durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen entzogenen Besitz vor dem Kriegsende geerbt hat, die Erbschaft jedoch während der Dauer der Verfolgungsmaßnahmen tatsächlich nicht übernehmen konnte, in dem ererbten Vermögen eine eigene Erwerbsgrundlage besessen und durch die Verfolgung verloren, sofern die Erbschaft geeignet war, eine wirtschaftliche Existenzgrundlage für ihn zu bilden.
Es kann dahingestellt bleiben, ob es in tatsächlicher Hinsicht zutrifft, daß der Bf. nach Kriegsende zunächst nach Polen zurückgekehrt und erst später wieder nach A. gegangen ist. Jedenfalls liegen die Voraussetzungen nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs VI 57 - 59/60 U, a. a. O., dem der Senat beitritt, im Streitfall vor. Dabei ist es unerheblich, ob die verlorengegangene Erwerbsgrundlage innerhalb oder außerhalb des deutschen Gebiets gelegen hat (Urteil des Bundesfinanzhofs VI 159/62 U vom 29. März 1963, BStBl 1963 III S. 260, Slg. Bd. 76 S. 712). Ist die Erwerbsgrundlage vor Kriegsende verlorengegangen, so steht den Vergünstigungen nach den §§ 7 a und 10 a EStG auch nicht entgegen, daß der Steuerpflichtige nach Kriegsende - etwa im Wege der Rückerstattung (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs VI 57 - 59/60 U, a. a. O.) - seine Erwerbsgrundlage wieder erlangt hat. Ebensowenig kann die Anwendung dieser Vergünstigungen versagt werden, wenn der Steuerpflichtige die ihm verlorengegangene Erwerbsgrundlage tatsächlich nicht wieder erhalten hat. In diesem Falle muß es als unerheblich angesehen werden, ob und aus welchen Gründen sich ein Steuerpflichtiger eine etwa vorhandene Chance, wieder in den Besitz seiner Erwerbsgrundlage zu gelangen, entgehen lassen mußte oder freiwillig entgehen ließe.
Da das Urteil der Vorinstanz von abweichenden Grundsätzen ausgegangen ist, war es aufzuheben. Der Rechtsstreit wurde zur erneuten Entscheidung an das Finanzamt zurückverwiesen, das die Einkommensteuer 1957 und 1958 unter Anwendung der §§ 7 a bzw. 10 a EStG neu festsetzen wird.
Fundstellen
Haufe-Index 411350 |
BStBl III 1964, 577 |
BFHE 1965, 286 |
BFHE 80, 286 |