Leitsatz (amtlich)
Eine Klage, die in einem verschlossenen, ausschließlich an das Finanzgericht adressierten Umschlag in den Hausbriefkasten des Finanzamts eingeworfen wird, wird jedenfalls dann i. S. von § 47 Abs. 2 FGO "angebracht", wenn das Finanzamt den Brief mit der anderen eingegangenen Post öffnet, als ob er an das Finanzamt als Empfänger oder Zwischenempfänger adressiert wäre.
Normenkette
FGO § 47 Abs. 2
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionskläger (FA) legte dem Einkommensteuerbescheid 1969 des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) u. a. Versorgungsbezüge in Höhe von 8 400 DM zugrunde. In der Einspruchsentscheidung ging das FA entsprechend dem Begehren des Klägers von Bezügen in Höhe von 7 550 DM aus, behandelte sie jedoch als Einkünfte aus Kapitalvermögen. Wegen der Nichtberücksichtigung eines Versorgungsfreibetrags (§ 19 Abs. 3 EStG 1969) ergab sich dadurch eine gegenüber dem Einkommensteuerbescheid erhöhte Einkommensteuer.
Der Einspruchsbescheid wurde dem Kläger am 14. Dezember 1973 zugestellt. Am Montag, dem 14. Januar 1974, warf der Prozeßbevollmächtigte des Klägers gegen 16 Uhr die Klageschrift in einem Briefumschlag - adressiert an das FG in den Hausbriefkasten des FA ein. In der Eingangsstelle des FA wurde der Brief geöffnet. Die Klageschrift wurde - versehen mit dem Eingangsstempel vom 15. Januar 1974 - an das FG übersandt.
Das FG hielt die Klage für zulässig. Es gab ihr teilweise statt und setzte die Einkommensteuer herab. Das FG führte u. a. aus:
Die Klage sei zulässig. Die Klageschrift sei rechtzeitig innerhalb der Klagefrist, die mit Ablauf des 14. Januar 1974 geendet habe, beim FA "angebracht" worden (§ 47 Abs. 2 FGO). Die Klage sei auch dann angebracht i. S. von § 47 Abs. 2 FGO, wenn die Klageschrift innerhalb der Frist in einem an das FG adressierten Umschlag in den Hausbriefkasten des FA geworfen werde. § 47 Abs. 2 FGO trage einer in der Praxis immer wieder festzustellenden Übung Rechnung. Es würde dem Zweck des § 47 Abs. 2 FGO zuwiderlaufen, wollte man eine beim FA rechtzeitig angebrachte Klage deshalb als verspätet ansehen, weil der die Klageschrift beinhaltende Brief an das FG adressiert sei.
Die Klage sei auch teilweise begründet, weil die streitigen Bezüge zwar nicht als Versorgungsbezüge, wohl aber als Arbeitslohn zu beurteilen seien.
Mit der Revision rügt das FA, das FG habe den Begriff "anbringen" in § 47 Abs. 2 FGO verkannt. Aus dem Sinn des § 47 Abs. 2 FGO und aus der Gleichstellung der Begriffe "anbringen" und "zur Niederschrift geben" folge, daß die Willenserklärung für das FA bestimmt sein müsse. Die Klageschrift müsse derart in den Machtbereich des FA gelangen, daß es nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge davon Kenntnis nehmen könne. Wenn der Briefumschlag nicht an das FA adressiert sei, müsse nach den bestehenden Verwaltungsanweisungen der Brief ungeöffnet weitergesandt werden, so daß das FA nicht wissen könne, welchen Inhalt der Umschlag habe. Dem FA sei somit der Inhalt der Klageschrift nicht zugegangen. Es genüge daher nicht, daß der Brief tatsächlich am letzten Tag der Frist in den Hausbriefkasten des FA eingeworfen worden sei. Daß das FA den Briefumschlag tatsächlich geöffnet habe, könne zu keiner anderen Beurteilung führen, da dies nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht zu erwarten gewesen und laut Stempel erst am 15. Januar nach Ablauf der Frist erfolgt sei.
In der Sache erhebt das FA gegen das Urteil des FG keine Einwendungen.
Das FA beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage als unzulässig abzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Die Klage ist nach § 64 Abs. 1, § 47 Abs. 1 FGO innerhalb der Klagefrist beim FG zu erheben. Die Klagefrist gilt nach § 47 Abs. 2 FGO als gewahrt, wenn die Klage innerhalb der Frist beim FA "angebracht" wird. Das Gesetz erläutert nicht, was "angebracht" heißen soll.
Der IV. Senat des BFH hat im Urteil vom 5. Dezember 1974 IV R 179/70 (BFHE 114, 402, BStBl II 1975, 337), dem sich der I. Senat in einem nicht veröffentlichten Urteil angeschlossen hat, die Auffassung vertreten, eine Klage sei beim FA "angebracht", wenn sie ihm zugegangen sei. Zugegangen sei die Klage nur, wenn sie derart in den Verfügungsbereich des FA gelangt sei, daß es davon Kenntnis nehmen könne. Das sei nicht der Fall, wenn die Klageschrift sich lediglich im räumlichen Machtbereich des FA befinde, dieses aber weder unmittelbar noch mittelbar ("über das FA") als Empfänger angesprochen sei, weil das Schriftstück ausschließlich an das FG adressiert sei. Nach dieser Rechtsprechung ist, wenn das FA den Brief ungeöffnet an das FG weiterleitet, der Zugang der Klageschrift beim FG entscheidend dafür, ob die Klage rechtzeitig erhoben wurde.
Die Frage, ob eine Klage i. S. des § 47 Abs. 2 FGO dann mit dem Einwurf in den Hausbriefkasten beim FA "angebracht" ist, wenn die Klageschrift sich in einem ausschließlich an das FG gerichteten verschlossenen Brief befindet und das FA den Brief öffnet, ist bisher höchstrichterlich nicht entschieden worden. Der Senat bejaht diese Frage für den Fall, daß der Brief vom FA wie andere eingehende Post behandelt und geöffnet wird. Dabei ist es ohne Bedeutung, ob die Öffnung mit den bestehenden Verwaltungsanweisungen zu vereinbaren ist oder nicht. Mit der Öffnung des Briefes hat das FA tatsächlich von der Klageschrift Kenntnis genommen. Es ist nicht unüblich, daß beim FA kurz vor Dienstschluß eingehende Post erst am folgenden Tage bearbeitet und geöffnet wird. Dieser Umstand ändert nichts daran, daß solche Postsachen dem FA im Rechtssinne bereits mit dem Einwurf in den Hausbriefkasten zugegangen sind.
Mit dieser Auffassung weicht der Senat nicht von dem vorerwähnten Urteil IV R 179/70 ab, das einen anderen Sachverhalt betraf. Der Senat braucht deshalb auch nicht zu entscheiden, ob er diesem Urteil voll beitreten könnte.
Die Entscheidung des FG, daß im Streitfall die Klagefrist nach § 47 Abs. 2 FGO gewahrt sei, stimmt mit diesen Grundsätzen überein. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers warf die Klageschrift vor Ablauf der Frist am Montag, dem 14. Januar 1974, gegen 16.00 Uhr in den Hausbriefkasten des FA. Der Brief wurde geöffnet und erhielt den Eingangsstempel vom 15. Januar 1974. Da das FA nach dem normalen Verlauf bei ordnungsmäßiger Adressierung auch nicht eher von der Klageschrift Kenntnis erlangt hätte, war die Klage rechtzeitig "angebracht".
Auf die Rechtmäßigkeit des FG-Urteils im übrigen einzugehen, bestand im Streitfall keine Veranlassung.
Fundstellen
Haufe-Index 72477 |
BStBl II 1977, 841 |
BFHE 1978, 122 |