Entscheidungsstichwort (Thema)
Unzulängliche Urteilsbegründung bei vom FG „bewusst“ übergangenen selbständigen Angriffsmitteln; verfahrensrechtliche Wirkung absoluter Revisionsgründe
Leitsatz (NV)
- Ein Urteil ist nicht mit Gründen versehen, wenn das FG einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffsmittel mit Stillschweigen übergeht und einen bestimmten Sachkomplex überhaupt nicht berücksichtigt. Darauf, ob dies seitens des FG versehentlich oder aber "bewusst" erfolgt, kommt es nicht an.
- Bei den absoluten Revisionsgründen i.S. von § 119 FGO wird die Ursächlichkeit des Verstoßes für die Entscheidung unwiderleglich als bestehend angesehen; § 126 Abs. 4 FGO ist grundsätzlich nicht anwendbar.
Normenkette
FGO § 105 Abs. 2 Nr. 5, §§ 108, 116 Abs. 1 Nr. 5, § 115 Abs. 2 Nrn. 1-2, § 119 Nr. 6, § 126 Abs. 4
Tatbestand
I. Die Sache befindet sich im II. Rechtsgang.
Die Kläger und Revisionskläger zu 1. bis 3. (Kläger) sind Architekten. Sie waren ―neben den Beigeladenen zu 1. und zu 2.― Kommanditisten der X, die zur Durchführung eines Bauvorhabens gegründet worden war. Sie gründeten zusammen mit ihren Ehefrauen 1982 zu je 1/6 eine GmbH, die Beigeladene zu 8. (Y). Zwölf Tage nach der Gründung der Y übertrugen die Kläger ihre Anteile an der X zu Buchwerten auf die Y.
Die Kläger gründeten ferner die A. Diese erwarb ein Grundstück, das mit einem Wohnpark bebaut werden sollte. Die A veräußerte am 27. Dezember 1982 eine Teilfläche aus diesem Grundstück für 16 Mio. DM an die Z. Diesen Grundstücksteil sollte die X zu einem Festpreis von 46 239 600 DM im Auftrag der Z bebauen (Generalübernehmervertrag vom 28. April 1983; Vorentwurf vom 16. Juni 1982). Die Z löste den Generalübernehmervertrag wegen Verstoßes der X gegen die Vorschriften über die Bewilligung von Fördermitteln des Sozialministers des Landes Niedersachsen auf. Am 17. Oktober 1983 einigten sich die Vertragsparteien, dass die X u.a. als Ersatz für entgangenen Gewinn 8 625 000 DM von der Z erhalten sollte. Dieser Betrag wurde am 25./26. Oktober 1983 bezahlt.
Am 7. Dezember 1983 beschlossen die Gesellschafter der X, der mittlerweile als weitere Gesellschafter die Beigeladenen zu 3., zu 4. und zu 5. über die Beigeladene zu 6. als Treuhänderin beigetreten waren, diese gemäß §§ 46 ff. des Umwandlungsgesetzes (UmwG) und § 20 des Umwandlungssteuergesetzes (UmwStG 1977) rückwirkend zum 1. Juli 1983 auf eine weitere GmbH, die Beigeladene zu 7. (B), umzuwandeln. Die B übte seit dem Tag ihrer Gründung keine Geschäftstätigkeit aus. In der Umwandlungsbilanz der X zum 30. Juni 1983 wurden auf der Aktivseite u.a. stille Reserven aus schwebenden Geschäften in Höhe von 6 180 000 DM und auf der Passivseite ein Umwandlungsgewinn in derselben Höhe ausgewiesen. Dieser Betrag resultierte aus der Zahlung der Z abzüglich der der X bereits entstandenen Kosten. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) folgte dieser Behandlung letztlich nicht und erfasste unter Hinweis auf § 42 der Abgabenordnung (AO 1977) den Umwandlungsgewinn als laufenden Gewinn der X.
Im Rahmen einer anschließenden Betriebsprüfung wurde festgestellt, dass die Y den Gewinnanteil an der X 1983 auf Festgeldkonten angelegt hatte und die Gesellschafter der Y 1984 ihre Anteile an dieser für 1 866 000 DM an die C veräußert hatten. Als Vermittler dieses Kaufs war ein von den Klägern wiederholt eingeschalteter Treuhänder, der prozessbevollmächtigte Rechtsanwalt M, aufgetreten. Der Kaufpreis entsprach nach den Feststellungen der Betriebsprüfung nach Abzug eines geringen Gewinns für die Käuferin dem Barvermögen der Y. Am 18. März 1988 wurde die Y, deren Geschäftstätigkeit sich in dem Halten der Beteiligung an der X erschöpfte, im Handelsregister gelöscht. - Aufgrund dieser Feststellungen änderte das FA den einheitlichen und gesonderten Gewinnfeststellungsbescheid für 1983 erneut und rechnete gemäß § 42 AO 1977 den bisher der Y zugerechneten Gewinnanteil an der X in Höhe von 1 757 261 DM zu je 1/3 den Klägern zu.
Einspruch und Klage hatten im Ergebnis keinen Erfolg. Nachdem das im I. Rechtsgang ergangene ―abweisende― Urteil des Finanzgerichts (FG) vom erkennenden Senat (Urteil vom 10. November 1993 I R 68/93, BFH/NV 1994, 798) wegen der unterbliebenen Beiladungen unter Zurückverweisung der Sache aufgehoben worden war, hat das FG die Klage im II. Rechtsgang erneut als unbegründet abgewiesen. Zuvor ―ebenfalls am 10. November 1993― hatte der Senat dem Antrag der Kläger auf Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Bescheides durch Beschluss I S 9/93 (BFH/NV 1994, 684) stattgegeben.
Mit ihrer Revision, die vom FG nicht zugelassen worden war, rügen die Kläger mangelnde Urteilsbegründung gemäß § 116 Abs. 1 Nr. 5 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.d.F. bis zur Änderung durch das Zweite Gesetz zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze (2.FGOÄndG) vom 19. Dezember 2000 (BGBl I 2000, 1757). Sie begehren eine Entscheidung in der Sache und verweisen insoweit auf die zugleich eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde, die auf die Gründe des § 115 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 FGO a.F. gestützt wird. Über diese Beschwerde wurde bislang noch nicht entschieden.
Die Kläger beantragen, das FG-Urteil aufzuheben und den angefochtenen Gewinnfeststellungsbescheid 1983 insoweit aufzuheben, als ihnen darin jeweils ein Gewinnanteil von 585 754 DM zugerechnet wurde.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. 1. Da das angefochtene Urteil vor dem 31. Dezember 2000 zugestellt worden ist, richtet sich die Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs nach den bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Vorschriften (Art. 4 2.FGOÄndG). Die hiernach gemäß § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO a.F. zulässige Revision ist nach § 119 Nr. 6 FGO begründet. Das Urteil der Vorinstanz ist teilweise nicht mit hinreichenden Entscheidungsgründen (§ 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO) versehen.
2. Eine Entscheidung ist nicht mit Gründen versehen, wenn sie nicht erkennen lässt, welche tatsächlichen Feststellungen und welche rechtlichen Erwägungen für sie maßgebend waren (Ruban in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 119 Rz. 23; Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 119 FGO Rz. 73 ff., jeweils m.w.N.). Sinn des Begründungszwangs ist es, den Prozessbeteiligten Kenntnis darüber zu vermitteln, auf welchen Feststellungen, Erkenntnissen und rechtlichen Überlegungen das Urteil beruht (Bundesfinanzhof ―BFH―, Urteil vom 26. Juni 1975 IV R 122/71, BFHE 116, 540, BStBl II 1976, 885). An dem Erfordernis, dass ein Urteil mit Gründen versehen sein muss, fehlt es, wenn das FG einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffsmittel mit Stillschweigen übergeht und einen bestimmten Sachkomplex überhaupt nicht berücksichtigt (BFH-Beschluss vom 9. Februar 1977 I R 136/76, BFHE 121, 298, BStBl II 1977, 351). So verhält es sich hier.
Die Vorinstanz begründet zwar ausführlich, dass und weshalb den Klägern der jeweilige Gewinnanteil von 585 754 DM zuzurechnen sei. Dabei wird der Gewinn im Ergebnis ―wie im Urteil des I. Rechtsgangs― als ein laufender behandelt und nicht als ein gemäß § 20 Abs. 5 UmwStG 1977 i.V.m. § 34 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) tarifbegünstigter. Wie sich aus S. 25 des angefochtenen Urteils ergibt, ist das FG in diesem Zusammenhang davon ausgegangen, das "ursprünglich im Verfahren die Umwandlung der X auf die B und damit die Tarifbegünstigung des Umwandlungsgewinns strittig" gewesen sei.
Der darin offenbar werdenden Annahme des FG, die Frage nach der Rechtsmissbräuchlichkeit der Umwandlung und der Gewährung der Tarifbegünstigung sei im II. Rechtsgang nicht mehr streitgegenständlich, sind die Kläger allerdings entgegengetreten. Für eine solche Annahme gibt auch deren prozessuales Vorgehen, jedenfalls, soweit dieses aus der unwidersprochenen Aktenlage ersichtlich ist, keine Veranlassung. Der Antrag auf Gewährung der Tarifbegünstigung stellt ein selbständiges Angriffs- und Verteidigungsmittel dar (vgl. Senatsurteil vom 11. Juni 1969 I R 27/68, BFHE 95, 529, BStBl II 1969, 492). Es beinhalte eine wesentliche Streitfrage des I. Rechtsgangs. Die Kläger haben in ihrem Schriftsatz vom 8. Oktober 1997 den gesamten Vortrag aus diesem I. Rechtsgang einschließlich des Revisionsverfahrens ―und damit auch die hier in Rede stehende Frage― zum Verfahrensgegenstand des II. Rechtsgangs gemacht. Auch das FA ist im Klageverfahren des II. Rechtsgangs, wie sich nach Aktenlage aus dem Schriftsatz vom 15. September 1997 ergibt, davon ausgegangen, diese Frage sei nach wie vor streitig. Es hat dem entsprechend auch in dem nunmehrigen Revisionsverfahren der Verfahrensrüge der Kläger als solcher nicht widersprochen und diese im Ergebnis dadurch bestätigt, dass es auf sie nur in der Sache erwidert hat.
Dass das FG den insoweit von den Klägern gestellten Tatbestandsberichtigungsantrag gemäß § 108 FGO zwischenzeitlich ―ohne dafür eine Begründung zu geben― abgelehnt hat, ist insoweit unbeachtlich. Abgesehen davon, dass der die Berichtigung ablehnende Beschluss des FG grundsätzlich unanfechtbar ist (vgl. § 108 Abs. 2 Satz 2 FGO), betrifft § 119 Nr. 6 FGO ohnehin nur das Fehlen der rechtlichen Begründung, nicht aber die unvollständigen oder fehlenden tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung (vgl. Ruban in Gräber, a.a.O., § 119 Rz. 23). Aber auch der Umstand, dass das FG sich erkennbar deshalb nicht der Frage nach der Tarifbegünstigung angenommen hat, weil es diese Frage außer Streit sah, ändert an dem Fehlen von Urteilsgründen nichts. Zwar erklärt dies, weshalb von einer weiteren Auseinandersetzung abgesehen wurde; insoweit wurde der Streitpunkt gewissermaßen "bewusst" durch Stillschweigen übergangen. Das Fehlen einer entscheidungserheblichen Urteilsbegründung kann jedoch nicht davon abhängen, ob dieses auf erklärbaren Erwägungen des Gerichts beruht. Die unzutreffende Annahme, ein selbständiger Streitpunkt sei streitlos gestellt, kann deshalb die Begründung in diesem Punkt jedenfalls dann nicht ersetzen, wenn es sich ―wie hier― um eine Rechtsfrage handelt, der das FG von Amts wegen nachzugehen hat.
3. Das Urteil der Vorinstanz war deswegen aufzuheben, ohne dass noch auf die streitigen Sachfragen eingegangen werden konnte.
Bei den absoluten Revisionsgründen wird die Ursächlichkeit des Verstoßes für die Entscheidung unwiderleglich als bestehend angesehen; § 126 Abs. 4 FGO ist grundsätzlich nicht anwendbar (vgl. Senatsurteil vom 2. Juli 1997 I R 59/96, BFH/NV 1998, 322, m.w.N.). Der BFH kann zur Prüfung der materiell-rechtlichen Fragen im Umfang von § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO a.F. (§ 118 Abs. 3 Satz 1 FGO, vgl. dazu Senatsurteil vom 22. April 1971 I R 149/70, BFHE 102, 353, 355, BStBl II 1971, 631; BFH-Beschluss vom 10. November 1987 VII B 75/87, BFHE 151, 331, BStBl II 1988, 285) deswegen allenfalls dann gelangen, wenn die zulassungsfreie Verfahrensrevision aufgrund der ordnungsmäßigen Rüge eines wesentlichen Verfahrensmangels i.S. von § 116 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 FGO a.F. zwar zulässig, insoweit jedoch unbegründet wäre (vgl. im Einzelnen Dürr in Schwarz, Finanzgerichtsordnung, § 116 Rz. 9 ff., Rz. 13, m.w.N.). Ansonsten kommt eine Sachentscheidung nur ausnahmsweise in Betracht, u.a. dann, wenn das übergangene Angriffs- oder Verteidigungsmittel für den Ausgang des Rechtsstreites ohne jegliche Bedeutung wäre und eine Änderung der Vorentscheidung ausschlösse (vgl. Senatsurteil in BFHE 95, 529, BStBl II 1969, 492; BFH-Urteil vom 10. März 1987 IX R 51/86, BFH/NV 1988, 35; Bundesgerichtshof, Beschluss vom 21. Dezember 1962 I ZB 27/62, BGHZ 39, 333; Rüsken in Beermann, a.a.O., § 126 FGO Rz. 41). In derartigen Fällen ist das FG-Urteil zu bestätigen (vgl. § 126 Abs. 4 FGO).
So liegen die Dinge hier jedoch nicht. Die vom FG übergangene Frage nach der Anwendung des begünstigten Steuersatzes verliert für den Streitfall zwar ihre Bedeutung, wenn die Übertragung der von den Klägern gehaltenen Kommanditanteile an der X auf die Y nicht als rechtsmissbräuchlich anzusehen und der in Rede stehende Gewinn der X deshalb nicht den Klägern, sondern der Y zuzurechnen ist. Insoweit haben die Kläger darin recht, dass die Prüfung der Frage nach der Tarifbegünstigung dieses Gewinns eine nachrangige ist. Für die Frage, ob ein Verstoß gegen § 119 Nr. 6 FGO vorliegt, genügt es jedoch, dass das betreffende Angriffs- oder Verteidigungsmittel überhaupt geeignet gewesen wäre, den Klageantrag zu begründen und die Entscheidung über die Klage zu beeinflussen (vgl. Senatsurteil vom 27. Juli 1988 I R 159/84, BFH/NV 1990, 8, m.w.N.). Das ist hier der Fall. Denn gerade weil die Frage nach der Tarifbegünstigung für den Ausgang der Entscheidung über die Klage erheblich ist, stellt sich das angefochtene Urteil des FG nicht ungeachtet des festgestellten Verfahrensverstoßes aus anderen Gründen als richtig dar und kann nicht bestätigt werden. Eine Entscheidung gemäß § 126 Abs. 4 FGO kommt deswegen nicht in Betracht.
Die von den Klägern begehrte Entscheidung in der Sache lässt sich schließlich nicht erreichen, indem zunächst über die gleichzeitig eingelegte Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision entschieden würde. Denn dieser fehlt, nachdem die auf § 119 Nr. 6 FGO a.F. gestützte Revision zulässig und begründet ist und deshalb zur Zurückverweisung der Sache an das FG führt, das Rechtsschutzbedürfnis (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 8. Februar 1996 V R 37/95, BFH/NV 1996, 684).
Fundstellen
Haufe-Index 604588 |
BFH/NV 2001, 1277 |