Leitsatz (amtlich)
Der Erwerb eines unmittelbar Verbandszwecken dienenden Grundstücks durch einen von mehreren Gemeinden zur gemeinsamen Wasserversorgung gegründeten Zweckverband ist gemäß § 1 WWVO 1922 (Zentralblatt für das Deutsche Reich 1922 S. 475) von der Grunderwerbsteuer befreit.
Normenkette
Verordnung über Erlaß von Grunderwerbsteuer auf dem Gebiete der Wasserwirtschaft vom 22. August 1922 - WWVO 1922 - § 1
Tatbestand
Der Kläger, ein Zweckverband zur Wasserversorgung, erwarb ein Quellgrundstück, auf dem auch ein Pumpwerk und ein Wasserspeicher zu errichten waren. Das Landratsamt hat bestätigt, daß das Grundstück zur unmittelbaren Erfüllung der Verbandsaufgabe erworben worden ist. Nach den unwidersprochenen Feststellungen des FG gehören dem als Körperschaft des öffentlichen Rechts nach den Vorschriften des Zweckverbandsgesetzes vom 7. Juni 1939 (RGBl I, 979) gegründeten Verband sechs Gemeinden an. Der Kläger hat die Aufgabe, zur Versorgung der Verbandsgemeinden mit Trink- und Nutzwasser eine Wasserversorgungsanlage zu errichten, zu betreiben und zu unterhalten. Das Unternehmen ist gemeinnützig; es wird ohne Gewinnerzielungsabsicht betrieben.
Der Kläger beantragte für den Grundstückserwerb Grunderwerbsteuer-Befreiung nach § 40 der Ersten Verordnung über Wasser- und Bodenverbände vom 3. September 1937 - WVVO 1937 - (RGBl I, 933) oder nach § 1 der Verordnung über Erlaß von Grunderwerbsteuer auf dem Gebiete der Wasserwirtschaft vom 22. August 1922 - WWVO 1922 - (Zentralblatt für das Deutsche Reich 1922 S. 475, RStBl 347). Das FA lehnte die Steuerbefreiung auch in der Einspruchsentscheidung ab.
Auf die Berufung hob das FG München durch Urteil V 206/62 vom 8. Oktober 1964 die Steuerfestsetzung auf und stellte den Kläger gemäß § 1 WWVO 1922 von der Grunderwerbsteuer aus den in den Entscheidungen der Finanzgerichte 1965 S. 236 (EFG 1965, 236) wiedergegebenen Gründen frei.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Zuständigkeit zur Prüfung durch den Senat ergibt sich aus § 184 Abs. 2 FGO, da die als Revision zu behandelnde Rechtsbeschwerde vor dem 1. Januar 1966 eingelegt und begründet worden ist.
Die wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassene Revision des beklagten FA ist nicht begründet.
Der Senat tritt der Rechtsauffassung des FG bei.
Eine Steuerbefreiung gemäß § 40 WVVO 1937 scheidet aus, da der Kläger nicht nach dieser Verordnung gegründet worden ist.
Dagegen war die Steuervergünstigung gemäß § 1 WWVO 1922 zu gewähren.
1. Die WWVO 1922 ist in Bayern noch in Kraft. Sie wurde unter ausdrücklicher Bezugnahme auf § 108 Abs. 2 RAO vom 13. Dezember 1919 (RGBl 1993) vom RdF mit Zustimmung des Reichsrats erlassen und im Zentralblatt für das Deutsche Reich verkündet (vgl. § 1 des Gesetzes über die Verkündung von Rechtsverordnungen vom 13. Oktober 1923, RGBl I, 959; Anschütz, "Die Verfassung des deutschen Reiches", 12. Aufl., Art. 77 Nr. 6). Ob die Ermächtigung des § 108 Abs. 2 RAO 1919 nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend konkretisiert im Sinne des Art. 80 GG war, ist unerheblich, da die Frage der ausreichenden Ermächtigungsgrundlage und damit der Wirksamkeit einer Vorschrift als Rechtsverordnung nicht nach den Grundsätzen der heutigen, sondern der damaligen Zeit zu beantworten ist. Auch der Umstand, daß § 108 Abs. 2 RAO 1919 und sein Nachfolger, § 13 RAO 1931, inzwischen aufgehoben worden sind, berührt den Rechtsbestand der seinerzeit wirksam erlassenen Rechtsvorschrift, die bisher nicht ausdrücklich aufgehoben worden ist, nicht (vgl. BVerfGE 9, 3, 12; BStBl I 1959, 68; ferner Becker, Die Reichsabgabenordnung, 7. Aufl., 1930, § 108, Anm. 5; Becker/Riewald/Koch, Reichsabgabenordnung, Kommentar, 9. Aufl., 1963, § 2, Anm. 10, Abs. 11, §§ 12, 13 Anm. 2, Absätze 1, 2 mit weiteren Nachweisen der Rechtsprechung).
2. § 1 WWVO 1922 befreit "Fälle bestimmter Art" (§ 108 Abs. 2 RAO 1919), nämlich den Erwerb von Grundstücken von der Grunderwerbsteuer, "soweit er der einheitlichen Erfüllung von wasserwirtschaftlichen Aufgaben in bestimmten Gebieten des Reichs durch die hierzu berufenen Körperschaften des öffentlichen Rechts dient".
Der Beklagte hält - offenbar im Blick auf das Urteil des Senats II 100/58 U vom 30. September 1959 (BFH 69, 595, BStBl III 1959, 483) - § 1 WWVO 1922 nicht für anwendbar, weil der Kläger mit der Wasserversorgung einzelner (wenn auch aus technischen Gründen: mehrerer) Gemeinden keine einheitliche Aufgabe für ein überregionales Gebiet erfülle. Dem kann nicht zugestimmt werden.
Der Senat hat in neuerer Zeit wiederholt entschieden, daß Befreiungsvorschriften nicht schon deshalb eng auszulegen sind, weil es sich um Ausnahmen von der Besteuerung handelt, sondern im Rahmen des möglichen Wortsinns unter sinnvoller Würdigung des mit der Ausnahmevorschrift verfolgten Zwecks, der auch bei einer Rechtsverkehrsteuer wirtschaftlich bestimmt sein kann (vgl. die Urteile des BFH II 89/64 vom 16. Februar 1966, BFH 85, 302, BStBl III 1966, 319; II 232/65 vom 9. Mai 1967, BFH 88, 573, BStBl III 1967, 507; II 110/62 vom 28. November 1967, BFH 91, 132, BStBl II 1968, 216; vgl. auch Boruttau-Klein, Grunderwerbsteuergesetz, Kommentar, 9. Aufl., Vorbemerkung vor § 1, Tz. 16 a, b).
Im Falle des BFH-Urteils II 100/58 U vom 30. September 1959, a. a. O., mußte die Steuerbefreiung daran scheitern, daß es sich um nur eine Gemeinde handelte, die als solche und allein nicht als zur einheitlichen (im Sinne einer überörtlichen) Erfüllung von wasserwirtschaftlichen Aufgaben (unmittelbar "hierzu") "berufene" Körperschaft angesprochen wurde. Im vorliegenden Fall ist der Kläger aber eine eigens zur Erfüllung wasserwirtschaftlicher Aufgaben gegründete Körperschaft des öffentlichen Rechts. Er nimmt diese Aufgaben auch in bestimmten Gebieten des Bundesgebietes wahr, und zwar "einheitlich" im Sinne des § 1 WWVO 1922. Der RdF mag - wie der noch im selben Jahr ergangene, inhaltlich im Urteil (BFH 69, 595) wiedergegebene Erlaß vom 11. November 1922 (Deutsche Verkehrssteuer Rundschau 1923 S. 26 - DVR 1923, 26 -) erkennen läßt - von der Vorstellung ausgegangen sein, daß nur auf Grund besonderer Gesetze gebildete Körperschaften mit "weit über die Grenzen" eines regionalen Gebietes hinausgehender Bedeutung begünstigenswert seien. Der Wortlaut der streitigen Vorschrift läßt eine solche Einschränkung nicht erkennen und also auch nicht zu. Bei einer vom buchstäblichen Wortlaut abweichenden Auslegung ist besondere Zurückhaltung geboten, wenn die Abweichung zur Verschärfung der Besteuerung führen würde (BFH-Urteile II 47/62 vom 22. April 1964, BFH 79, 378, BStBl III 1964, 368; II 89/64 vom 16. Februar 1966, BFH 85, 302, BStBl III 1966, 319). Daß aber eine wortlautgemäße Auslegung dem im Gesetz zum Ausdruck gekommenen Willen dieses Gesetzes widersprechen und zu einem unvernünftigen, sinnwidrigen Ergebnis führen würde, so daß eine nur ausnahmsweise zulässige Auslegung gegen den buchstäblichen Wortlaut der Vorschrift geboten wäre (BFH-Urteile II 154/61 vom 16. Dezember 1964, BFH 81, 374, BStBl III 1965, 134; II 164/64 vom 14. Februar 1967, BFH 88, 96, BStBl III 1967, 296), ist nicht ersichtlich. Es würde - worauf das FG mit Recht hinweist - viel weniger mit dem Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung übereinstimmen, nur wasserwirtschaftliche Maßnahmen, die sich auf große Gebietsteile erstrecken, steuerlich zu begünstigen, dagegen Maßnahmen derselben Art lediglich deshalb nicht, weil sie sich infolge landschaftlicher Besonderheiten nur auf kleinere Gebietsteile, immerhin jedoch über das Gebiet mehrerer Gemeinden hinaus ausdehnen. Auf das rechtskräftige Urteil des FG Münster IV d 17/65 vom 23. Oktober 1969 (EFG 1970, 187), das den Erwerb eines Grundstücks durch einen Landkreis betrifft, war nicht einzugehen.
Fundstellen
Haufe-Index 69083 |
BStBl II 1970, 669 |
BFHE 1970, 400 |