Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld für Pflegekinder: Waisenbezüge
Leitsatz (NV)
Zur Berücksichtigung von Pflegekindern, wenn diese Waisenbezüge erhalten.
Normenkette
EStG § 32 Abs. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
Niedersächsisches FG (EFG 2000, 1136) |
Tatbestand
I. Die verwaisten Kinder P und S befinden sich seit November 1996 im Haushalt des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) und seiner Ehefrau, der Stiefschwester der Kinder. Sie werden dort umfassend versorgt und betreut. Die Kinder erhalten jeweils Waisenbezüge (u.a. Waisengeld nach dem Beamtenversorgungsgesetz). Pflegegeld wird für sie nicht gezahlt. Der Kläger verwendet die Waisenbezüge der Kinder z.T. für deren Unterhalt, einen Teil des Geldes legt er für die Kinder an.
Der Beklagte und Revisionskläger (Beklagter) lehnte den Antrag des Klägers auf Kindergeld für die Kinder mit dem angefochtenen Bescheid vom 22. April 1997 ab. Der Einspruch des Klägers hatte keinen Erfolg.
Die Kinder erhalten selbst seit Dezember 1996 Kindergeld gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 2 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG).
Mit seiner Klage begehrte der Kläger nur noch Kindergeld für das Kind S ab Dezember 1996 sowie Kindergeld für das im Juli 1999 volljährig gewordene Kind P von Dezember 1996 bis Juli 1999. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2000, 1136 veröffentlichten Gründen statt.
Das FG hat die Kinder gemäß § 60 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zu dem Verfahren beigeladen.
Mit seiner Revision macht der Beklagte geltend, dass der Kläger angesichts der Höhe der Waisenbezüge nicht unterhaltsbelastet sei (63.2.2.5 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes ―DA-FamEStG―).
Der Beklagte beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladenen haben sich nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO).
1. Zutreffend ist die Vorinstanz allerdings davon ausgegangen, dass die Tatsache, dass die Kinder selbst Kindergeld nach dem BKGG beziehen, für das vorliegende Verfahren nicht maßgeblich ist.
2. Der Senat kann nach den Feststellungen des FG jedoch nicht beurteilen, ob dem Kläger Kindergeld für die in seinen Haushalt aufgenommenen Kinder zusteht.
Anspruch auf Kindergeld besteht gemäß §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) für Kinder i.S. des § 32 Abs. 1 EStG. Gemäß § 32 Abs. 1 EStG sind Kinder im ersten Grad mit dem Steuerpflichtigen verwandte Kinder (§ 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG) sowie Pflegekinder (§ 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG). Im Streitfall kommt nur die Berücksichtigung der Kinder als Pflegekinder in Betracht.
3. Ein Pflegekind ist nach der Legaldefinition des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG eine Person, mit der der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie in seinen Haushalt aufgenommen hat, das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht und der Steuerpflichtige sie mindestens zu einem nicht unwesentlichen Teil auf seine Kosten unterhält.
a) Der Berücksichtigung der Kinder als Pflegekinder steht nicht entgegen, dass sie die Stiefbrüder der Ehefrau des Klägers sind. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) kann ein Pflegekindschaftsverhältnis auch zwischen Geschwistern bestehen (BFH-Urteil vom 5. August 1977 VI R 187/74, BFHE 123, 380, BStBl II 1977, 832; ebenso DA-FamEStG 63.2.2.3 Abs. 2 Satz 2, BStBl I 2002, 369, 385). Für Stiefgeschwister gilt insoweit nichts anderes.
b) Unstreitig hat der Kläger die Kinder in seinen Haushalt aufgenommen. Zwischen ihm und den Kindern besteht ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band. Für die Kinder als Vollwaisen besteht auch kein Obhuts- und Pflegeverhältnis zu anderen Personen als dem Kläger und seiner Ehefrau.
c) Der Senat kann jedoch aufgrund der Feststellungen des FG nicht abschließend entscheiden, ob die Kinder zu einem nicht unwesentlichen Teil auf Kosten des Klägers unterhalten wurden.
aa) Wie der erkennende Senat mit Urteil vom 29. Januar 2003 VIII R 71/00 (BStBl II 2003, 469) im Einzelnen dargelegt hat, bedarf es nach der Neuregelung des Familienleistungsausgleichs ab 1996 für die Berücksichtigung eines Kindes als Pflegekind der Prüfung des Einzelfalls, ob die den Pflegeeltern entstandenen ―und grundsätzlich nur in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen der Pflegeeltern zu berücksichtigenden― Unterhaltskosten (einschl. der Kosten für die Betreuung, Ausbildung und Erziehung) die Aufwandserstattungen (z.B. Pflegegeld, Pflegesätze) mit der Folge überschreiten, dass die Pflegeeltern zumindest 20 v.H. ―und damit einen nicht unwesentlichen Teil (§ 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG 1996)― der gesamten (angemessenen) Unterhaltskosten des Pflegekindes tragen.
bb) Hiervon ist auch im Streitfall auszugehen. Soweit das FG hierbei allerdings angenommen hat, dass von den tatsächlichen Unterhaltsaufwendungen des Klägers lediglich der von ihm für Zwecke des Unterhalts der Kinder verwendete Teil der Waisenbezüge abzuziehen sei, kann dem nicht beigepflichtet werden. Die Belastung des Klägers mit Unterhaltskosten für P und S ist vielmehr in Anlehnung an die normativen Wertungen der §§ 91 ff. des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) über die sog. Heranziehung des (Pflege-)Kindes und damit unter Berücksichtigung des nicht bestrittenen Vortrags des Beklagten zu bestimmen, nach dem dem Kläger lediglich im Hinblick auf die Höhe der Waisenbezüge der Kinder die Leistungen nach § 39 SGB VIII (z.B. Pflegegeld) nicht gewährt werden worden seien.
aaa) Nach den Vorschriften über die Heranziehung (§§ 91 ff. SBG VIII) wird von Kindern und Jugendlichen zwar einerseits auch im Falle der Hilfe zur Erziehung nach § 33 SGB VIII (Vollzeitpflege) unter bestimmten Voraussetzungen entsprechend ihrem Einkommen ein Kostenbeitrag erhoben (§§ 93 Abs. 1, 91 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b SGB VIII), dessen Höhe sich danach bemisst, ob Mittel in Frage stehen, die dem gleichen Zweck wie die jeweilige Leistung der Jugendhilfe dienen ―sog. zweckidentische Leistungen (z.B. Waisenrente oder Waisengeld; vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ―BVerwG― vom 22. Dezember 1998 5 C 25/97, BVerwGE 108, 222; Überblick bei Wiesner in Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar, 2. Aufl., § 93 Rz. 25)― und die deshalb in vollem Umfang anzusetzen sind (§ 93 Abs. 5 SGB VIII), oder ob der Jugendliche über sonstiges Einkommen verfügt, das ―wie beispielsweise Ausbildungs- oder Arbeitsvergütungen― nur nach Maßgabe der §§ 79, 84 und 85 des Bundessozialhilfegesetzes (BSG) und damit nach Abzug eines angemessenen Selbstbehalts berücksichtigt wird (§ 93 Abs. 3 SGB VIII; dazu Wiesner, a.a.O., § 93 Rz. 10 ff.). Andererseits bleibt der Träger der öffentlichen Jugendhilfe für die in § 92 Abs. 3 SGB VIII genannten Leistungsarten, zu denen auch die Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII gehört, jedoch selbst dann zur "Vorfinanzierung" (Vorausleistung) und somit zur Auszahlung des Pflegegelds sowie zur Gewährung der weiteren in § 33 SGB VIII genannten Leistungen verpflichtet, wenn dem Pflegekind (Jugendlichen) zuzumuten ist, die hierfür aufgewandten Mittel in voller Höhe im Wege der Heranziehung aufzubringen (Wiesner, a.a.O., § 92 Rz. 12 ff.; Schellhorn, SGB VIII/KJHG, Sozialgesetzbuch Achtes Buch Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar, 2. Aufl., § 92 Rz. 11).
bbb) Verfährt der Träger der Jugendhilfe nach diesen Grundsätzen, so kann kein Zweifel darüber bestehen, dass im Rahmen der Vergleichsberechnung nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG von den der Pflegefamilie tatsächlich entstehenden (angemessenen) Unterhaltsaufwendungen der ungekürzte und in voller Höhe gewährte Leistungsanspruch gemäß § 39 SGB VIII (Kostenerstattungen, z.B. Pflegegeld) abzuziehen ist und somit die Heranziehung des Kindes (Jugendlichen) zu den Aufwendungen für die Familienpflege keinen Einfluss darauf nimmt, ob der Steuerpflichtige i.S. von § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG die Kosten des Unterhalts des Kindes zu einem nicht unwesentlichen Teil trägt. Auch ist es im Hinblick auf die Zwecksetzung der Leistungen nach § 39 SGB VIII, den gesamten Lebensbedarf des in die Pflegefamilie aufgenommenen Kindes auszugleichen (vgl. hierzu Senatsurteil vom 29. Januar 2003 VIII R 71/00), unerheblich, ob der Steuerpflichtige Teile des Pflegegelds oder der Bezüge des Kindes zur Vermögensbildung der Kinder verwendet. Nichts anderes kann aber gelten, wenn der Träger der Jugendhilfe das auszuzahlende Pflegegeld um den Heranziehungsbetrag kürzt oder ―wovon nach dem bisherigen Sachstand im Streitfall auszugehen ist― angesichts der Höhe der Waisenbezüge der Kinder von jeglicher Leistungsgewährung nach § 39 SGB VIII absieht. Auch in diesem Fall ist ―mit Rücksicht auf die gebotene Gleichbehandlung beider Sachverhalte― die dem gesetzlich vorgesehenen Verfahren der zwingenden Vorausleistung gemäß § 92 Abs. 3 SGB VIII (Wiesner, a.a.O.; Schellhorn, a.a.O.) zugrunde liegende Wertung, nach der die Heranziehung des Kindes lediglich die öffentliche Hand im Wege eines nachgelagerten Kostenbeitrags entlasten soll, zu beachten.
cc) Demgemäß wird das FG im zweiten Rechtsgang die für die Kinder tatsächlich entstandenen Unterhaltsaufwendungen sowie die Höhe der (nicht gekürzten) Leistungsansprüche nach § 39 SGB VIII festzustellen haben. Nur dann, wenn diese (Erstattungs-)Ansprüche die gesamten (angemessenen) Unterhaltsaufwendungen ―bezogen auf einen Beurteilungszeitraum von einem Jahr (vgl. auch hierzu Senatsurteil vom 29. Januar 2003 VIII R 71/00)― um zumindest 20 v.H. unterschreiten sollten, wird die Vorinstanz der weiter gehenden Frage nachzugehen haben, ob auch derjenige Teil der Waisenbezüge der Kinder, der nicht der Heranziehung unterliegt, bei der Beurteilung der Frage zu berücksichtigen ist, ob P und S gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG zu einem nicht unwesentlichen Teil auf Kosten des Klägers unterhalten wurden. Angesichts des gegenwärtigen Verfahrensstands sieht der erkennende Senat keine Veranlassung, hierzu Stellung zu nehmen.
4. Der Senat hält eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid für zweckmäßig (§ 121, § 90a FGO).
Fundstellen
Haufe-Index 968328 |
BFH/NV 2003, 1295 |