Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichterhebung von Gerichtskosten bei Vorentscheidung durch Einzelrichter
Leitsatz (NV)
Von der Erhebung von Gerichtskosten für das Revisionsverfahren ist abzusehen, wenn der Einzelrichter über die Klage zu einem Zeitpunkt entschieden hat, in welchem ihm bekannt war, dass zahlreiche von ihm selbst entschiedene, fast identische Parallelfälle beim BFH anhängig waren und er damit rechnen konnte, dass der BFH diese Fälle zügig entscheiden würde.
Normenkette
FGO § 62 Abs. 3; GKG § 8 Abs. 1 S. 1
Tatbestand
Der Prozessbevollmächtigte (P) des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) erhob in dessen Namen gegen den Einkommensteuerbescheid 1996 des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt ―FA―) Klage, mit der bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit je ein Freibetrag in Höhe von 600 DM und 200 DM geltend gemacht wurde. Auf Aufforderung reichte P eine undatierte, vom Kläger unterschriebene, auf P ausgestellte Vollmacht nach, die zur Vertretung u.a. "in meinen/unseren Steuer- und Buchführungsangelegenheiten … vor allen Gerichten" bevollmächtigte. Der Vollmachtsvordruck enthält einen Stempelaufdruck "für Einkommensteuer, Lohnsteuer-Jahresausgleich, Solidaritätszuschlag" mit der handschriftlichen Ergänzung "1995-1998". Die Vollmacht war an ein Begleitschreiben angeheftet, aus dem das Aktenzeichen, der Kläger, der Beklagte und der Betreff Einkommensteuer 1996 ersichtlich sind.
Der Berichterstatter des Finanzgerichts (FG), dem der Rechtsstreit durch Beschluss vom … gemäß § 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Entscheidung als Einzelrichter übertragen worden war, teilte P und dem Kläger mit, dass er Zweifel an einer wirksamen Bevollmächtigung habe, da Kläger anderer Verfahren, für die P vergleichbare Vollmachten vorgelegt habe, in vielen Verfahren mitgeteilt hätten, dass Klagen ohne ihr Wissen und zum Teil gegen ihren erklärten Willen erhoben worden seien. In einem zusätzlichen Aufklärungsschreiben an den Kläger wurde dieser aufgefordert, zur Frage der Bevollmächtigung Stellung zu nehmen mit dem Hinweis, dass das Gericht bei unterbleibender Äußerung davon ausgehen werde, dass keine Bevollmächtigung erfolgt sei. Hierauf haben weder P noch der Kläger reagiert.
Der Einzelrichter wies die Klage ohne mündliche Verhandlung mit Gerichtsbescheid vom 19. Februar 1999 ab und ließ die Revision zu. Das Gericht ging davon aus, dass eine wirksame Bevollmächtigung nicht nachgewiesen worden sei. In Massenverfahren seien massenhaft eingehende Hinweise auf einen Vollmachtsmissbrauch durch den angeblichen Prozessvertreter von dem Gericht besonders zu beachten. Da es sich bei dem vorliegenden Streitfall offensichtlich nicht um ein einzelnes, auf die Belange und den Willen des Klägers abgestimmtes Verfahren handle, sondern um eine Klage, wie sie P massenhaft auch für andere Steuerpflichtige erhoben habe, sei bedeutsam, dass sich in diesen anderen Verfahren eine beträchtliche Anzahl der Kläger an das Gericht gewandt und erklärt hätten, dass P die entsprechende Formularvollmacht missbraucht habe. Ausweislich der Aufstellung, die sich in den Gerichtsakten befinde, handle es sich allein im Dezernat des Einzelrichters um über 70 Verfahren innerhalb weniger Monate.
Die diesbezüglichen Zweifel des Gerichts seien nicht ausgeräumt worden, da weder P eine neue wirksame Vollmacht nachgereicht noch der Kläger sich geäußert habe, obwohl er über seine Mitwirkungspflicht und die möglichen Rechtsfolgen seines Schweigens belehrt worden sei.
Die Revision sei zugelassen worden zur Klärung der Rechtsfrage, ob eine zweifelbehaftete Prozessvollmacht stillschweigend genehmigt werden könne. Angesichts der fehlenden Rückäußerung seitens P und des Klägers halte das Gericht die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht für geboten.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung von Bundesrecht, insbesondere von Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) sowie von § 76 Abs. 2 und § 62 Abs. 3 FGO.
Der Kläger beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen, sowie gemäß § 8 des Gerichtskostengesetzes (GKG) der Staatskasse die Kosten des Revisionsverfahrens aufzuerlegen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an den Vollsenat des FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.
1. Die Revision ist zulässig. Zwar hat P für das Revisionsverfahren keine besondere Vollmacht vorgelegt. Nach der im Klageverfahren eingereichten Vollmacht ist er jedoch sowohl zur Prozessführung vor dem FG als auch zur Einlegung von Rechtsmitteln gegen die erstinstanzliche Entscheidung bevollmächtigt.
2. Die Revision ist auch begründet. Das FG hat die Klage zu Unrecht mangels Vorlage einer wirksamen Prozessvollmacht als unzulässig abgewiesen.
Der Senat hat mit Urteil vom 27. Februar 1998 VI R 88/97 (BFHE 185, 126, BStBl II 1998, 445) in einem vergleichbaren Fall entschieden, dass die im Klageverfahren vorgelegte Vollmachtsurkunde den Anforderungen des § 62 Abs. 3 FGO genügt. An dieser Rechtsauffassung, wegen deren Begründung zur Vermeidung von Wiederholungen auf das erwähnte Urteil verwiesen wird, hält der Senat auch für den Streitfall fest. Im Übrigen kann aus dem Schweigen des Klägers auf die Anfrage des FG nicht auf einen Widerruf der einmal erteilten Vollmacht geschlossen werden. Der ―jederzeit mögliche― Widerruf der Vollmacht muss dem Gericht angezeigt werden (Beschluss des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 27. April 1971 II 59/65, BFHE 101, 469, BStBl II 1971, 403; BFH-Urteil vom 20. September 1991 III R 118/89, BFH/NV 1992, 521). Das ist im Streitfall nicht geschehen.
Die erteilte Vollmacht war auch nicht wegen "berechtigter" Zweifel zurückzuweisen. Zweifel am Weiterbestehen einer Vollmacht, die das FG aus der Tatsache herleitet, dass derselbe Bevollmächtigte in vergleichbaren Verfahren anderer Kläger erteilte Vollmachten missbräuchlich verwendet haben soll, erhärten sich nicht, wenn die Partei auf ein diesbezügliches Anschreiben des Gerichtes nicht reagiert. Denn es kann einer Partei, gerade wenn sie eine umfassende Vollmacht erteilt hat, obliegen, auf das Einhalten interner Beschränkungen zu achten bzw. etwaige Missverständnisse auszuräumen. Wenn sich ―wie im Streitfall― etwaige Zweifel an einer Bevollmächtigung nicht erhärten, ist eine den Anforderungen des § 62 Abs. 3 FGO genügende Vollmacht zu beachten, ohne dass es einer unterstellten Genehmigung bedarf (vgl. auch BFH-Urteil vom 16. September 1998 VI R 37/98, BFH/NV 1999, 485).
3. Da das FG die Voraussetzungen für eine Sachentscheidung fehlerhaft beurteilt hat, ist die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen. Die Zurückverweisung erfolgt an den Vollsenat des FG.
4. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.
Von der Erhebung der Gerichtskosten für das Revisionsverfahren ist gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 GKG abzusehen. Der Einzelrichter hat über die Klage zu einem Zeitpunkt entschieden, in welchem ihm bekannt war, dass zahlreiche von ihm selbst entschiedene, fast identische Parallelfälle (Massenverfahren) beim BFH anhängig waren und er damit rechnen konnte, dass der BFH diese Fälle zügig entscheiden würde. Bei einer derartigen Sachlage war es unsachgemäß, weiterhin über zahlreiche gleichgelagerte Klagen zu entscheiden und damit weitere Rechtsmittelverfahren zu veranlassen.
Fundstellen
Haufe-Index 425165 |
BFH/NV 2000, 843 |