Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Zur Frage der Wirksamkeit eines vor Erlaß des Steuerbescheids erklärten Rechtsmittelverzichts.
Normenkette
AO §§ 248, 235
Tatbestand
Die Buchführung des Beschwerdeführers (Bf.), der eine Bäckerei und einen Lebensmitteleinzelhandel betreibt, war nach den Feststellungen einer Betriebsprüfung vom März 1950 so mangelhaft, daß der Prüfer sie verwarf und Umsatz sowie Gewinn aus Gewerbe schätzte. Gegen die Höhe der Schätzung erhoben der Bf. und sein Steuerhelfer zunächst Einwendungen; als jedoch der Prüfer in einer Verhandlung am 18. Oktober 1950 zu einer Ermäßigung des Schätzungsergebnisses kam, unterschrieb der Steuerhelfer des Bf. an diesem Tage folgende Erklärung:
"Ich betrachte mein Rechtsmittel gegen den Betriebsprüfungsbericht als erledigt, wenn für 1949 der Umsatz auf 232.824 DM und der Gewinn auf 31.627 DM festgesetzt wird. Ich verzichte auf weitere Rechtsmittel gegen den Gesamtbericht."
Gegen die das Ergebnis dieser Verhandlung berücksichtigenden Steuerbescheide des Finanzamtes legte der Bf. Einspruch ein. Dieser wurde vom Steuerausschuß beim Finanzamt als unzulässig verworfen; der Berufung gegen diese Entscheidung blieb der Erfolg versagt. Die Vorinstanzen sahen die Erklärung vom 18. Oktober 1950 als einen wirksamen Rechtsmittelverzicht an und enthielten sich deshalb einer sachlichen Nachprüfung der Steuerbescheide.
In der Sache ist ein Bescheid nach § 294 Abs. 2 der Reichsabgabenordnung (AO) ergangen. Der Bf. hat mündliche Verhandlung beantragt. In der mündlichen Verhandlung hat er insbesondere vorgetragen, daß die Erklärung vom 18. Oktober 1950 keinen Verzicht auf Rechtsmittel gegen die künftigen Steuerbescheide, sondern lediglich einen Verzicht auf weitere Einwendungen gegen den Buchprüfungsbericht darstelle. Der Helfer in Steuersachen, der die Erklärung vom 18. Oktober 1950 unterzeichnet habe, habe auch keine Vollmacht gehabt, einen Rechtsmittelverzicht für den Bf. abzugeben.
Entscheidungsgründe
Auf Grund der neuerlichen Prüfung gelangt der Senat zu der Auffassung, daß der Rechtsbeschwerde stattzugeben ist.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs ist ein Rechtsmittelverzicht im Sinne des § 248 AO auch dann zulässig, wenn die Steuerbehörde den Steuerbescheid noch nicht erlassen hat. Dieser Rechtsprechung hat sich der Bundesfinanzhof angeschlossen. An einen Rechtsmittelverzicht, der vor Erlaß des Steuerbescheids erklärt wird, müssen aber strenge Anforderungen gestellt werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Rechtsmittelverzicht sich auf mehrere Steuerarten (Umsatzsteuer, Einkommensteuer, Gewerbesteuer) und sich innerhalb jeder Steuerart auf mehrere Jahre bezieht. Der Reichsfinanzhof hat als Voraussetzung für die Rechtsgültigkeit eines vor Erlaß des Steuerbescheids abgegebenen Rechtsmittelverzichts gefordert, daß die Steuerpflicht dem Grunde und der Höhe nach erkennbar sein müsse. Dem Steuerpflichtigen (Stpfl.) müsse ein bestimmtes Einkommen oder im Falle der Berechnung nach Reinverdienstsätzen der Umsatz nebst den Verdienstsätzen bekanntgegeben sein. Erwünscht sei es auch, daß die Höhe der Einkommensteuer angegeben werde, und daß der Steuerbetrag wenigstens überschlägig mitgeteilt werde, falls die Steuersätze von dem verhandelnden Beamten ziffernmäßig nicht sofort berechnet werden könnten. Handle es sich um einen erfahrenen Geschäftsmann, so würde die Angabe des ermittelten Umsatzes und des steuerpflichtigen Gewinns genügen, da ein solcher Pflichtiger in der Lage sein werde, die zu erwartende Belastung ungefähr zu übersehen. Nur bei einem unerfahrenen kleinen Stpfl. müsse ein runder annähernder Betrag über die Höhe der einzelnen Steuern genannt werden, dessen Abweichung von der endgültigen Steuer nur so geringfügig sei, daß er die Willenserklärung nicht beeinflussen könne. Die über den Steuerbetrag gemachten Angaben seien zweckmäßig auch kurz in die Verhandlungsniederschrift aufzunehmen, um spätere Auseinandersetzungen zu vermeiden. Bei der Tragweite des Rechtsmittelverzichts werde in der Regel auch klarzustellen sein, daß der Pflichtige über dessen Auswirkungen aufgeklärt wurde (Reichssteuerblatt 1939 S. 651 und S. 946).
Der Senat schließt sich diesem Standpunkt im allgemeinen an. Er glaubt aber, daß im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsschutzes der Stpfl. die vom Reichsfinanzhof gestellten Anforderungen verschärft werden müssen. Der Stpfl., der einen Rechtsmittelverzicht unterschreibt, muß wissen, was er zu zahlen hat. Es ist dem Stpfl. bei den heutigen komplizierten und sich häufig ändernden Tarifvorschriften nicht zuzumuten, daß er selbst die Steuer ausrechnet; dies gilt insbesondere, wenn sich die Nachforderung auf mehrere Jahre und mehrere Steuern erstreckt. Hierbei kann ein Unterschied zwischen kleinen und größeren Stpfl. nicht gemacht werden. Der zu zahlende Betrag muß - ausgeschieden auf die einzelnen Steuerarten und Jahre - in der Verhandlungsniederschrift angeführt werden. änderungen des Steuerbetrages in den nach dem Rechtsmittelverzicht erlassenen Steuerbescheiden sind unschädlich, wenn die endgültig festgesetzte Steuer niedriger ist als der in der Niederschrift über den Rechtsmittelverzicht angegebene Betrag. Eine Erhöhung des in den Steuerbescheiden geforderten Betrages steht der Rechtswirksamkeit des vor dem Steuerbescheid abgegebenen Verzichts nur dann nicht entgegen, wenn sie geringfügig ist und bei verständiger Würdigung anzunehmen ist, daß der Stpfl. auch bei Kenntnis der geringfügigen Erhöhung den Rechtsmittelverzicht unterzeichnet hätte. Unzureichend ist es, wenn beim Rechtsmittelverzicht in einer Einkommensteuersache nur der Gewinn angegeben wird, nicht aber die Höhe des Einkommens. Das Einkommen kann sich infolge der als Sonderausgaben abzuziehenden Beträge erheblich vom Gewinn unterscheiden.
Im vorliegenden Falle hat der Bf. erklärt, daß er seinen "Rechtsmittelverzicht gegen den Betriebsprüfungsbericht" als erledigt betrachte, wenn der Umsatz und der Gewinn für 1949 auf bestimmte Beträge festgesetzt würden. Diese Erklärung entspricht den Anforderungen, die an einen wirksamen Rechtsmittelverzicht gestellt werden müssen schon um deswillen nicht, weil nur der Gewinn für 1949 angeführt ist, nicht aber die Höhe des Einkommens und der Einkommensteuer für dieses Jahr. Der Bf. gibt an, daß er mit der Erklärung vom 18. Oktober 1950 nicht einen Verzicht auf Rechtsmittel gegen künftige Steuerbescheide habe aussprechen wollen, sondern daß er nur auf weitere Einwendungen gegen den Betriebsprüfungsbericht verzichtet habe. Dieser Standpunkt des Bf. wird durch den Wortlaut der Erklärung vom 18. Oktober 1950 gedeckt. Die ungenaue Fassung der Erklärung vom 18. Oktober 1950 läßt die Möglichkeit eines Irrtums des Bf. darüber zu, worauf sich der Verzicht beziehen solle (Verzicht auf die Rechtsmittel gegen künftige Steuerbescheide oder nur Verzicht auf weitere Einwendungen gegen den Betriebsprüfungsbericht). Eine unklare Formulierung in Schriftstücken, die von einer Finanzbehörde verfaßt sind, darf nicht zuungunsten des Stpfl. ausgelegt werden. Der Senat gelangt zu dem Ergebnis, daß die Erklärung vom 18. Oktober 1950 nicht als rechtswirksamer Verzicht auf Rechtsmittel gegen die künftigen Steuerbescheide anzusehen ist. Die in der mündlichen Verhandlung vorgetragene Behauptung des Vertreters des Bf., daß der Beamte, der die Verhandlung vom 18. Oktober 1950 führte, erklärt habe, durch den Verzicht auf weitere Einwendungen gegen den Betriebsprüfungsbericht werde nicht ausgeschlossen, daß gegen die Steuerbescheide angegangen werde, braucht danach nicht weiter untersucht zu werden.
Unbegründet ist der Einwand des Bf., daß sein Vertreter nicht zur Abgabe eines Rechtsmittelverzichts bevollmächtigt gewesen wäre. Der Bf. hat seinen Vertreter einen Helfer in Steuersachen, mit der Bearbeitung des Steuerfalles beauftragt. Die Vollmacht des Bf. umfaßt - auch wenn sie nur mündlich erteilt worden ist - das Recht des Vertreters, auf etwaige Rechtsmittel gegen Steuerbescheide zu verzichten. Eine Einschränkung der Vollmacht in der Weise, daß der Vertreter einen Rechtsmittelverzicht nicht abgeben könne, wäre nur wirksam gewesen, wenn diese Einschränkung vor dem Rechtsmittelverzicht vom Bf. gegenüber dem Finanzamt abgegeben worden wäre. Dies ist aber nicht der Fall.
Die Vorentscheidungen werden wegen unrichtiger Anwendung des § 248 AO aufgehoben. Die Sache wird an das Finanzgericht zurückverwiesen. Dieses hat nunmehr die sachlichen Einwendungen des Bf. gegen die Festsetzung der Einkommensteuer für II/1948 und 1949 zu prüfen.
Fundstellen
Haufe-Index 407733 |
BStBl III 1953, 288 |
BFHE 1954, 760 |
BFHE 57, 760 |