Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungskonforme Beschränkung der Kindergeldberechtigung von Ausländern; Umqualifizierung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 30 AuslG 1990
Leitsatz (NV)
1. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, den Anspruch auf Kindergeld für nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer mit bestimmten Aufenthaltstiteln an die Integration in den deutschen Arbeitsmarkt zu knüpfen (§ 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c, Nr. 3 EStG n.F.).
2. Eine Aufenthaltsbefugnis nach § 30 AuslG 1990 entspricht einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3, Abs. 4 oder Abs. 5 AufenthG und begründet deshalb nur unter den weiteren Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Nr. 3 EStG einen Kindergeldanspruch.
3. Bezieher von Sozialhilfe sind nicht nach Art. 28 Abs. 1 SozSichAbk YUG kindergeldberechtigt.
Normenkette
AsylVfG § 55; AufenthG §§ 25, 101; AuslG 1990 §§ 5, 30; EStG § 52 Abs. 61a S. 2, § 62 Abs. 2; GG Art. 3 Abs. 1; SozSichAbk YUG Art. 28 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der aus Albanien stammende Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger), der die jugoslawische Staatsangehörigkeit besaß, reiste vor 1991 in die Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) ein. Er stellte einen Asylantrag, den er im April 2002 zurücknahm. Danach erhielt er eine Aufenthaltsbefugnis nach § 30 des Ausländergesetzes (AuslG 1990), ab dem 19. April 2005 besaß er eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). Der Kläger ging keiner Erwerbstätigkeit nach, vielmehr bezog er Sozialhilfe. Im April 2002 beantragte er Kindergeld. Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte den Antrag ab, der hiergegen gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Es verpflichtete die Familienkasse, Kindergeld für drei Kinder ab Januar 1998 bis zu dem Monat zu gewähren, in dem diese ihr 18. Lebensjahr vollendet hatten (September 1999, Oktober 2003 und September 2004), für das jüngste Kind von Januar 1998 bis Dezember 2004. Darüber hinaus sprach es hinsichtlich der drei älteren Kinder und für die Zeit nach Vollendung des 18. Lebensjahres bis Dezember 2004 die Verpflichtung der Familienkasse aus, über den Kindergeldanspruch unter Beachtung seiner Rechtsauffassung neu zu entscheiden. Das FG war der Ansicht, nach dem Wortlaut des neu gefassten § 62 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG n.F.) bestehe zwar kein Anspruch auf Kindergeld. Die Vorschrift sei jedoch einschränkend dahin auszulegen, dass der Ausschluss von Ausländern von der Kindergeldberechtigung nicht für solche Eltern gelte, die auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden könnten und die sich seit mindestens einem Jahr ununterbrochen in der Bundesrepublik aufhielten. Der Gesetzgeber sei nicht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in dem zum Bundeskindergeldgesetz (BKGG) ergangenen Beschluss vom 6. Juli 2004 1 BvL 4/97 (BVerfGE 111, 160, BFH/NV 2005, Beilage 2, 114) nachgekommen. Auch sei die Erstreckung der gesetzlichen Neuregelung auf Altfälle verfassungsrechtlich unzulässig. Das BVerfG habe eine Frist bis zum 1. Januar 2006 gesetzt, bis zu dem der Gesetzgeber die verfassungswidrige Regelung der Kindergeldberechtigung von Ausländern in § 62 Abs. 2 EStG a.F. zu ersetzen gehabt habe. Diese Frist habe er nicht eingehalten. Darüber hinaus stehe die Neuregelung in Widerspruch zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 25. Oktober 2005 in der Sache 59140/00, Okpisz/Deutschland (BFH/NV 2006, Beilage 3, 357), nach dem der Ausschluss von im Inland lebenden Ausländern ohne Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltsbefugnis vom deutschen Kindergeld gegen das Diskriminierungsverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoße.
Zur Begründung der Revision trägt die Familienkasse vor, die Neuregelung der Kindergeldberechtigung von Ausländern in § 62 Abs. 2 EStG n.F. sei verfassungsrechtlich unbedenklich.
Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Kindergeld.
1. Die Neuregelung der Kindergeldberechtigung von Ausländern in § 62 Abs. 2 EStG n.F. ist mit Wirkung vom 1. Januar 2006 in Kraft getreten und erfasst gemäß § 52 Abs. 61a Satz 2 EStG alle Sachverhalte, bei denen --wie im Streitfall-- das Kindergeld noch nicht bestandskräftig festgesetzt worden ist (Art. 2 des Gesetzes zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss vom 13. Dezember 2006, BGBl I 2006, 2915, BStBl I 2007, 62). Die Gesetzesänderung war eine Reaktion auf den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 111, 160, BFH/NV 2005, Beilage 2, 114, in dem dieses den nahezu wortgleichen § 1 Abs. 3 BKGG als insoweit unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ansah, als die Gewährung von Kindergeld allein von der Art der ausländerrechtlichen Genehmigung nach dem AuslG 1990 abhing. Der Senat hat mit Urteilen vom 15. März 2007 III R 93/03 (BFHE 217, 443, BFH/NV 2007, 1234) sowie vom 22. November 2007 III R 54/02 (BFHE 220, 45, BFH/NV 2008, 457) entschieden, dass der Gesetzgeber bei der Neuregelung der Kindergeldberechtigung in § 62 Abs. 2 EStG n.F. im Rahmen des ihm zustehenden Gestaltungsspielraums handelte, als er die Kindergeldberechtigung von Ausländern vom Besitz bestimmter Aufenthaltstitel nach dem AufenthG abhängig machte und bei einzelnen Titeln, die einen schwächeren aufenthaltsrechtlichen Status vermitteln, darüber hinaus von einem mindestens dreijährigen rechtmäßigen, gestatteten oder geduldeten Aufenthalt im Bundesgebiet sowie von einer berechtigten Erwerbstätigkeit, vom Bezug laufender Geldleistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) oder von der Inanspruchnahme von Elternzeit (§ 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c, Nr. 3 EStG n.F.). An den Grundsätzen dieser Urteile hält der Senat fest.
2. Der Senat teilt die vom FG geäußerten verfassungs- und völkerrechtlichen Bedenken gegen § 62 Abs. 2 EStG n.F. nicht.
a) In Fällen, in denen ein Ausländer rechtmäßig oder rechtswidrig in die Bundesrepublik einreist und --z.B. wegen eines tatsächlichen Abschiebungshindernisses-- damit zu rechnen ist, dass er auf absehbare Zeit nicht mehr ausreist, gebietet es Art. 3 Abs. 1 GG nicht, von Anfang an oder nach einer gewissen Zeit Kindergeld zu gewähren, weil von einem Daueraufenthalt auszugehen sei (Senatsurteil in BFHE 220, 45, BFH/NV 2008, 457).
b) Die in § 52 Abs. 61a Satz 2 EStG angeordnete Rückwirkung des § 62 Abs. 2 EStG n.F. auf noch nicht bestandskräftig entschiedene Fälle ist entgegen der Ansicht des FG auch nicht deshalb verfassungswidrig, weil der Gesetzgeber den bis zum 1. Januar 2006 befristeten Regelungsauftrag, den ihm das BVerfG in der Entscheidung in BVerfGE 111, 160, BFH/NV 2005, Beilage 2, 114 erteilt hat, bis zu diesem Zeitpunkt nicht erfüllt hat (s. Senatsurteil in BFHE 220, 45, BFH/NV 2008, 457).
c) Eine Beschränkung des Kindergeldanspruchs durch § 62 Abs. 2 EStG n.F. steht entgegen der Rechtsansicht des FG auch nicht in Widerspruch zum Urteil des EGMR in BFH/NV 2006, Beilage 3, 357. Dieses ist, ebenso wie die Entscheidung des BVerfG in BVerfGE 111, 160, BFH/NV 2005, Beilage 2, 114, zu § 1 Abs. 3 BKGG ergangen, nicht aber zu § 62 Abs. 2 EStG a.F.
3. Für die Dauer des Asylverfahrens war der Aufenthalt des Klägers in der Bundesrepublik nach § 55 des Asylverfahrensgesetzes gestattet. Eine derartige Gestattung entspricht jedoch nicht einem aufenthaltsrechtlichen Titel, der --unter den weiteren Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 EStG n.F.-- zum Bezug von Kindergeld berechtigt.
4. Auch ab Mai 2002, als der Kläger im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis nach § 30 AuslG 1990 war, stand ihm kein Kindergeld zu.
a) Betrifft der Sachverhalt --wie hier-- einen Zeitraum vor 2005, in dem noch das AuslG 1990 galt, sind Aufenthaltsregelungen i.S. des § 5 AuslG 1990 entsprechend den Fortgeltungsregelungen in § 101 AufenthG in Aufenthaltstitel im Sinne des AufenthG umzuqualifizieren (Senatsurteile in BFHE 217, 443, BFH/NV 2007, 1234, sowie in BFHE 220, 45, BFH/NV 2008, 457).
b) Im Streitfall hat das FG nicht festgestellt, auf welchem der in § 30 AuslG 1990 geregelten Tatbestände die Aufenthaltsbefugnis des Klägers beruhte. In Betracht kam eine Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 3 oder Abs. 4 AuslG 1990, da der Kläger seinen Asylantrag zurückgenommen hatte (§ 30 Abs. 5 AuslG 1990). § 30 Abs. 3 AuslG 1990 betraf unanfechtbar ausreisepflichtige Ausländer, bei denen die Voraussetzungen für eine Duldung vorlagen, weil ihrer freiwilligen Ausreise und Abschiebung Hindernisse entgegenstanden, die sie nicht zu vertreten hatten. Nach § 30 Abs. 4 AuslG 1990 konnte einem seit zwei Jahren unanfechtbar ausreisepflichtigen Ausländer, der eine Duldung besaß, eine Aufenthaltsbefugnis erteilt werden, es sei denn, er weigerte sich, zumutbare Anforderungen zur Beseitigung des Abschiebungshindernisses zu erfüllen.
c) Eine Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 3 oder Abs. 4 AuslG 1990 entspricht weitgehend einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG (Senatsurteil in BFHE 220, 45, BFH/NV 2008, 457, zu § 30 Abs. 3 AuslG 1990; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. September 2007 1 C 43/06, BVerwGE 129, 226, zu § 30 Abs. 4 AuslG 1990; Funke-Kaiser in Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, § 101 Rz 17; a.A. Albrecht in Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Harms/Kreuzer, ZuwG, § 101 AufenthG Rz 24: § 25 Abs. 3 AuslG).
d) Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 oder Abs. 5 AufenthG begründet jedoch nur dann einen Anspruch auf Kindergeld, wenn sich ein Ausländer seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhält und darüber hinaus im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig ist, laufende Geldleistungen nach dem SGB III bezieht oder Elterngeld in Anspruch nimmt (§ 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c, Nr. 3 EStG n.F.). Diese Voraussetzungen erfüllte der Kläger, der in den streitigen Zeiträumen Sozialhilfe bezog, nicht.
5. Auch nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien über Soziale Sicherheit vom 12. Oktober 1968 (BGBl II 1969, 1438) i.d.F. des Änderungsabkommens vom 30. September 1974 (BGBl II 1975, 390) hat der Kläger keinen Anspruch auf Kindergeld. Nach Art. 28 Abs. 1 dieses Abkommens können Personen Kindergeld beanspruchen, die in der Bundesrepublik beschäftigt sind und den in der Bundesrepublik geltenden Rechtsvorschriften unterliegen oder nach Beendigung ihres Beschäftigungsverhältnisses Geldleistungen der Krankenversicherung wegen vorübergehender Arbeitsunfähigkeit oder Leistungen der Arbeitslosenversicherung beziehen. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht gegeben. Beschäftigte Personen im Sinne dieses Abkommens sind nur Arbeitnehmer (Senatsurteile in BFHE 217, 443, BFH/NV 2007, 1234, sowie vom 15. März 2007 III R 54/05, BFH/NV 2007, 1298), nicht aber Bezieher von Sozialhilfe.
Fundstellen