Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerliche Betriebsprüfung Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Folgt das Finanzamt im Einspruchsverfahren dem Vortrag des Rechtsmittelführers, nicht er, sondern ein anderer sei der Steuerschuldner, so muß es den Steuerbescheid zurücknehmen und die Zurücknahmeverfügung dem Rechtsmittelführer bekanntgeben. Dem richtigen Steuerschuldner ist ein neuer Steuerbescheid zuzustellen; das Verfahren gegen diesen ist ein neues, selbständiges Verfahren.
Die Verfügung über die Zurücknahme eines Steuerbescheides fällt unter § 93 AO und wird mit der Bekanntgabe an denjenigen wirksam, für den sie ihrem Inhalt nach bestimmt ist; ihr kommt keine Bindungswirkung zu. Die Zurücknahme eines Steuer- (insbesondere eines Feststellungs-) bescheides bedeutet nicht ohne weiteres die Freistellung.
Normenkette
AO §§ 93-94
Tatbestand
Die Bg. wurden auf Grund eines Testamentes Erben der am 13. Mai 1952 verstorbenen Frau G, zu deren Nachlaß neben einigen Grundstücken auch die Konditorei K gehörte. Die Bg. nahmen die Erbschaft an und führten die Konditorei in der Rechtsform einer OHG weiter. Verwandte des Ehemannes der Erblasserin, "Erbengemeinschaft G", fochten das Testament an und erwirkten im Jahre 1952 eine einstweilige Verfügung, durch welche den Bg. die Verfügung über den Nachlaß oder einzelne Nachlaßgegenstände untersagt wurde.
In einem zwischen der Erbengemeinschaft G und den Bg. geführten Rechtsstreit wurde die Rechtsgültigkeit des Testamentes vom Landgericht festgestellt und die einstweilige Verfügung aufgehoben. Der in der Berufungsinstanz beim Oberlandesgericht anhängige Rechtsstreit wurde durch einen Vergleich vom März 1957 beendet, nach dem die Erbengemeinschaft G mit Wirkung vom Todestag der Erblasserin die Konditorei erhält. Der Vergleich enthielt außer eine Abmachung über die Vermögensabgabe keine Vereinbarungen über die Entrichtung von Steuern für die Zeit vom Mai 1952 bis März 1957. Desgleichen enthielt er keine Bestimmungen darüber, wem die Gewinne aus dem Betrieb der Konditorei für diese Zeit zugerechnet werden sollten. Die Konditorei wurde auf Grund eines zwischen den Mitgliedern der Erbengemeinschaft G geschlossenen Vertrags in der Rechtsform einer KG weitergeführt. Für die KG war derselbe Prokurist tätig, der auch für die OHG der Bg. tätig gewesen war.
Das Finanzamt sah ursprünglich die Bg. als Unternehmer des Konditoreibetriebes an und erließ gegen sie im Oktober 1956 Feststellungsbescheide für die Jahre 1952 bis 1955. Diese wurden gerichtet an "Konditorei K, Franz und Helene B" und an "Franz B" übersandt.
Gegen diese Bescheide legten die Bg. Einspruch ein. Mit Rücksicht auf den beim Oberlandesgericht anhängigen Rechtsstreit und die schwebenden Vergleichsverhandlungen wurde über den Einspruch jedoch nicht entschieden.
Nach Abschluß des Vergleichs vom März 1957 sah das Finanzamt die Erbengemeinschaft G als Unternehmerin des Konditoreibetriebes an und erließ geänderte Feststellungsbescheide. Diese Bescheide sandte das Finanzamt an "Konditorei Erbengemeinschaft G KG". Eine förmliche Mitteilung von der änderung der Bescheide erhielten die Bg. durch das Finanzamt nicht. Die geänderten Bescheide an die KG enthielten den Vermerk: "änderung gemäß § 94 AO".
Die von der Erbengemeinschaft G gegen die geänderten Feststellungsbescheide eingelegten Rechtsmittel wurden vom Finanzamt im Laufe des Berufungsverfahrens durch Zurücknahme der Bescheide gemäß § 94 AO erledigt, da die Einnahmen aus dem Geschäft in den Streitjahren nicht der Erbengemeinschaft G zugerechnet werden dürften.
Auf Grund seiner geänderten Rechtsauffassung erließ das Finanzamt nunmehr am 10. Juli 1959 erneut Feststellungsbescheide an die Bg., die inhaltlich mit den Bescheiden vom 24. Oktober 1956 übereinstimmten. Sie waren mit folgendem Vermerk versehen:
"Im Rechtsmittelweg ist geklärt worden, daß eine steuerliche rückwirkende Anerkennung des zwischen den Eheleuten B und der Erbengemeinschaft G vor dem Notar ..... am 8. März 1957 geschlossenen Vertrags nicht erfolgen kann. Die bisher gegen die Erbengemeinschaft G ergangenen Feststellungsbescheide waren daher aufzuheben. Es erfolgt jetzt erneut die Feststellung des Gewinns bei Zurechnung auf die Eheleute B. Die Feststellungen des Betriebsprüfers in seinem Bericht vom 24. Juli 1956 wurden berücksichtigt."
Diese Bescheide wurden gerichtet an "Fa. K - Konditorei, z. Hd. von Eheleute Franz und Helene B".
Gegen diese Feststellungsbescheide legten die Bg. wiederum Einspruch ein. Zur Begründung führten sie aus, sie seien nicht Unternehmer des Konditoreibetriebes gewesen. Durch die einstweilige Verfügung hätten sie sich nur in der Stellung von Verwaltern befunden.
Nach erfolglosem Einspruch hob das Finanzgericht die Einspruchsentscheidung des Finanzamts und den Feststellungsbescheid vom Juli 1959 für die einheitliche und gesonderte Feststellung des Gewinns aus dem Betrieb der Firma K für den Veranlagungszeitraum 1952 ersatzlos auf. Das Finanzgericht führt aus, dem Erlaß der inhaltlich mit den Bescheiden vom Oktober 1956 übereinstimmenden Feststellungsbescheide vom Juli 1959 stände die bereits gegen die Erbengemeinschaft G getroffene Entscheidung materiell entgegen. Mit der nach § 94 AO vorgenommenen, vom Finanzamt auch zutreffend als solche bezeichneten änderung der ursprünglichen Bescheide hätte es den Einspruch der Bg. aus dem Jahre 1956 sachlich entschieden und durch diese Entscheidung die Feststellungsbescheide vom Oktober 1956 aufgehoben. Wenn es seine Entscheidung mit Rücksicht auf den beim Oberlandesgericht anhängigen Rechtsstreit und die schwebenden Vergleichsverhandlungen zunächst auch zurückgestellt und eine förmliche Einspruchsentscheidung nicht erlassen habe, so habe es sich durch die änderung der Bescheide doch zugunsten der Bg. entschieden, indem es ihrem Antrage, ihnen die Gewinne aus dem Betrieb der Konditorei nicht zuzurechnen, der Sache nach entsprochen habe. Die durch die änderung bewirkte Aufhebung der ursprünglichen Bescheide sei nach § 94 Abs. 1 Ziff. 2 und Abs. 2 AO auch während des seinerzeit anhängigen Einspruchsverfahrens ohne die Zustimmung der Bg. möglich gewesen, weil ihrem Antrage in vollem Umfange entsprochen worden sei. Dadurch sei es dem Finanzamt nach dem Grundsatz der materiellen Rechtskraftwirkung unmöglich, neue Bescheide zuungunsten der Bg. zu erlassen. Die geänderten Feststellungsbescheide vom Mai 1957 an die KG seien als den Bg. bekanntgegeben anzusehen. Diese Bekanntgabe sei durch die übersendung der Bescheide an die Konditorei K erfolgt. Es komme dabei nicht darauf an, daß die geänderten Feststellungsbescheide "für die Erbengemeinschaft G bestimmt" gewesen seien. Es genüge, daß sie den Bg. durch die Zusendung an die Konditorei K bekannt geworden seien. Auf die Frage, ob darüber hinaus der zuständige Sachgebietsleiter beim Finanzamt den Vertretern ihrer Bevollmächtigten anläßlich einer Besprechung mitgeteilt habe, daß die Bescheide vom Oktober 1956 gegenstandslos geworden seien, komme es deshalb nicht an. Eine erneute Entscheidung über denselben Sachverhalt komme nicht in Frage.
Der Vorsteher des Finanzamts hat Rb. eingelegt und unrichtige Rechtsanwendung gerügt. Der Ehemann B ist im Verlaufe des Rechtsbeschwerdeverfahrens gestorben; der Rechtsstreit wird von der Ehefrau als Alleinerbin des Ehemannes weitergeführt. Die Rb. führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
Entscheidungsgründe
Es ist nicht richtig, wenn die Vorinstanz ausführt, das Finanzamt habe "zutreffend" die neuen Feststellungsbescheide als änderungsbescheide nach § 94 AO bezeichnet. Wenn die Eheleute B gegen die ihnen zugestellten Steuerbescheide vortrugen, sie hätten das Geschäft für Rechnung der Erbengemeinschaft G geführt, so behaupteten sie, nicht Steuerschuldner zu sein. Das Finanzamt hat gemäß § 97 AO nur das Recht, die Steuerschuld von demjenigen einzufordern, den das Steuergesetz als Steuerschuldner bezeichnet. Ist der im Steuerbescheid Bezeichnete nicht der richtige Steuerschuldner, so muß das Finanzamt den Steuerbescheid zurücknehmen, weil er der gesetzlichen Grundlage entbehrt. Wird hiernach ein anderer als Steuerschuldner festgestellt, so hat es diesem einen neuen Steuerbescheid zuzustellen, der zwar in der Höhe der Steuerschuld mit dem zurückgenommenen übereinstimmen kann; das Verfahren gegen den neuen Steuerpflichtigen ist aber nicht die Fortsetzung des früheren Verfahrens gegen den zu Unrecht Beanspruchten, sondern ein neues selbständiges Verfahren. Darum kann der neue Bescheid auch nicht als änderung des alten aufgefaßt werden. Der hier auf dem Bescheid gegen die Erbengemeinschaft G vermerkte Zusatz kann verfahrensrechtlich für die Eheleute B keine Bedeutung haben; der Bescheid ist darum als neuer Bescheid in einem neuen selbständigen Verfahren anzusehen.
Ebenso kann aber dieser Vermerk nicht das alte Verfahren gegen die Eheleute B beenden. Die Zurücknahme eines Steuerbescheides ist eine Verfügung, die unter § 93 AO fällt (Urteil des Bundesfinanzhofs I 131/58 U vom 27. Oktober 1959, BStBl 1961 III S. 286, Slg. Bd. 73 S. 49). Eine solche Verfügung muß nach § 91 AO zu ihrer Wirksamkeit demjenigen zugehen, für den sie ihrem Inhalte nach bestimmt ist. Der hier in Rede stehende Feststellungsbescheid vom 9. Mai 1957 war nach seiner Aufschrift für die Konditorei Erbengemeinschaft KG bestimmt und ist dieser auch zugestellt worden und nicht den Bg. Da das Verfahrensrecht im Interesse der Klarheit der Rechtslage die Rechtsfolgen wesentlich an die Einhaltung formaler Bestimmungen knüpft, wird man der Vorinstanz nicht darin zustimmen können, daß dieser Bescheid auch den Bg. gegenüber wirksam sei, weil er ihnen durch den Geschäftsführer der KG bekanntgeworden sei. Aber selbst wenn man unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Geschäftsführer der KG auch Geschäftsführer der OHG der Bg. war, annehmen will, der Bescheid vom 24. Oktober 1956 gegen die Bg. wäre vom Finanzamt aufgehoben worden, so hätte dies das Finanzamt nicht gehindert, die Bg. erneut zur Einkommensteuer heranzuziehen, wie der erkennende Senat im Urteil I 131/58 U begründet hat. Die Zurücknahme eines Steuerbescheides bedeutet nicht ohne weiteres die Freistellung. Dies gilt insbesondere für die Zurücknahme eines Freistellungsbescheides.
Hier aber besteht der Feststellungsbescheid vom Oktober 1956 noch. Er ist durch den Einspruch der Bg. vom November 1956 angegriffen; über den Einspruch ist noch nicht entschieden. Das Finanzamt ist auch nicht nach Treu und Glauben daran gehindert, von den Bg. die Steuer anzufordern. Eine diesem Grundsatz entgegenstehende Verwirkung käme nur in Frage, wenn es sich "um eine so verspätete illoyale Geltendmachung von Rechten" handelte, daß sie nicht mehr Rechtens wäre (vgl. Urteil des Bundesarbeitsgerichts 2 AZR 438/56 vom 9. Juli 1958, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Steueranpassungsgesetz, § 1, Rechtsspruch 110) und die Geltendmachung dem bisherigen Verhalten des Finanzamt widerspräche. Das Finanzamt hat alles getan, um seine Besteuerungsrechte durchzusetzen, aber niemals den Bg. zu erkennen gegeben, daß es auf seinen Steueranspruch verzichten wolle. Auch auf eine Auskunft des Sachgebietsleiters können sich die Bg. nicht berufen, da sie allenfalls als eine Rechtsauffassung über die Abwicklung des Rechtsmittels der Bg. angesehen werden könnte, aber keine Bindung erzeugte (Urteil des Bundesfinanzhofs VI 157/60 U vom 18. November 1960, BStBl 1961 III S. 141, Slg. Bd. 72 S. 381).
Der Bescheid vom Juli 1959 unterscheidet sich von dem Bescheid vom Oktober 1956 nur dadurch, daß der Gewinn unter die Eheleute aufgeteilt worden ist, was der Rechtslage nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Januar 1957 1 BvL 4/54, BGBl 1957 I S. 186, BStBl 1957 I S. 193, entspricht. Der Bescheid vom Juli 1959 kann darum als eine zulässige Ergänzung des Bescheides vom Oktober 1956 und die Einspruchsentscheidung des Finanzamts als Entscheidung über den Einspruch der Bg. vom November 1956 gedeutet werden. Da die materiell-rechtliche Frage, ob die Gewinne den Bg. mit Recht zugerechnet worden sind, vom Finanzgericht noch nicht entschieden worden ist, geht die Sache zur Entscheidung über diese Frage an das Finanzgericht zurück.
Fundstellen
Haufe-Index 410637 |
BStBl III 1963, 27 |
BFHE 1963, 76 |
BFHE 76, 76 |