Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung nach Ablauf des Kalenderjahres wegen Überschreitens des Jahresgrenzbetrages
Leitsatz (NV)
Stellt sich nach Ablauf des Jahres heraus, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag überschreiten, ist die Familienkasse auch dann befugt, die Kindergeldfestsetzung rückwirkend aufzuheben, wenn sie ursprünglich hätte unterbleiben müssen, weil bereits aufgrund der Prognose davon auszugehen war, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes voraussichtlich den Grenzbetrag überschreiten würden.
Normenkette
AO 1977 § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 2; EStG § 31 S. 3, § 32 Abs. 4 S. 2, § 70 Abs. 2, 4, § 71
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der 1978 geborene Sohn S der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) begann nach dem Grundwehrdienst im August 1999 eine Berufsausbildung. Der Beklagte und Revisionskläger (Beklagter) setzte das Kindergeld zunächst antragsgemäß fest und hob die Festsetzung mit Bescheid vom 15. Dezember 1999 wieder auf.
Aus einer am 11. Januar 2000 bei dem Beklagten eingegangenen Bescheinigung über die Fortdauer der Berufsausbildung ergaben sich voraussichtliche Einkünfte des S für 2000 in Höhe von 15 339 DM. Der Beklagte vermerkte schriftlich, die Einkünfte und Bezüge des S lägen im Feststellungszeitraum voraussichtlich über dem Grenzbetrag von 13 500 DM. Gleichwohl änderte er den Kindergeldaufhebungsbescheid gemäß § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a der Abgabenordnung (AO 1977) und setzte für S Kindergeld ab Januar 2000 fest; die Bescheinigung behandelte er als Änderungsantrag.
S erzielte im Streitjahr Einkünfte von 15 575 DM. Mit Bescheid vom 24. Januar 2001 hob der Beklagte die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2000 rückwirkend auf und forderte von der Klägerin die Erstattung des an sie zu Unrecht gezahlten Kindergeldes in Höhe von 3 240 DM. Der Einspruch blieb erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) hat der Klage stattgegeben und u.a. ausgeführt, der Klägerin stehe das Kindergeld zwar nicht zu. Die Einkünfte und Bezüge des S hätten im Streitjahr den Grenzbetrag von 13 500 DM überstiegen. Der Beklagte sei jedoch nicht befugt gewesen, die Festsetzung des Kindergeldes rückwirkend aufzuheben. Er habe bereits im Zeitpunkt der Festsetzung erkannt, dass der Grenzbetrag voraussichtlich überschritten werde, und das Kindergeld trotzdem festgesetzt. Bei dieser Sachlage könne er die Festsetzung wegen der später tatsächlich eingetretenen Überschreitung des Grenzbetrages ungeachtet geringfügig höherer tatsächlicher Einkünfte des S rückwirkend nicht mehr aufheben. Es liege insbesondere kein rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 oder Abs. 2 AO 1977 vor; auch hätten sich die Verhältnisse i.S. des § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht nachträglich geändert.
Mit der Revision rügt der Beklagte die Verletzung materiellen Rechts (§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977, § 175 Abs. 2 AO 1977, § 70 Abs. 2 EStG, § 70 Abs. 4 EStG).
Er beantragt,
die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin hat sich nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
1. Der Klägerin stand für das Jahr 2000 kein Kindergeld zu. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2, § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a i.V.m. Satz 2 EStG in der für 2000 geltenden Gesetzesfassung wird ein Kind für das Kindergeld berücksichtigt, wenn es sich in einer Ausbildung befindet und Einkünfte und Bezüge von nicht mehr als 13 500 DM im Jahr hat. S befand sich während des Jahres 2000 in einer Ausbildung. Seine Einkünfte von 15 575 DM überschritten den Jahresgrenzbetrag von 13 500 DM.
2. Die Familienkasse war entgegen der Auffassung der Vorinstanz auch nicht gehindert, die Festsetzung des Kindergeldes mit dem angefochtenen Bescheid rückwirkend aufzuheben.
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist die Familienkasse befugt, eine Kindergeldfestsetzung, die vor oder während des Kalenderjahres erlassen worden ist, rückwirkend wieder aufzuheben, wenn abzusehen ist oder bekannt wird, dass die Einkünfte des Kindes den Grenzbetrag überschreiten werden oder überschritten haben (BFH-Urteile vom 26. Juli 2001 VI R 83/98, BFHE 196, 265, BStBl II 2002, 85; VI R 55/00, BFHE 196, 270, BStBl II 2002, 86; VI R 102/99, BFH/NV 2002, 178; vom 6. November 2001 VI R 76/01, BFH/NV 2002, 343, und vom 25. Februar 2003 VIII R 26/02, BFH/NV 2003, 1158). Ob die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht überschreiten, steht erst dann fest, wenn der Sachverhalt vollständig verwirklicht ist. Der Gesetzgeber hat ausdrücklich festgelegt, welchen Betrag die Einkünfte und Bezüge eines Kindes während eines Kalenderjahres nicht übersteigen dürfen. Er hat sich damit für einen Jahres- und nicht für einen Monatsgrenzbetrag entschieden (BFH-Urteil in BFHE 196, 265, BStBl II 2002, 85 unter 2.b). Die Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes kann deshalb regelmäßig erst nach dem Ablauf des Kalenderjahres abschließend beurteilt werden. Insoweit besteht ein grundlegender Unterschied zu anderen Tatbestandsmerkmalen wie der Haushaltszugehörigkeit eines Kindes oder der Absolvierung einer Ausbildung. Über das Vorliegen oder Nichtvorliegen solcher Tatbestandsmerkmale kann die Behörde jederzeit befinden und somit die Leistung des Kindergeldes stets zeitnah den tatsächlichen Verhältnissen anpassen. Obwohl die Voraussetzungen für die Berücksichtigung eines über 18 Jahre alten Kindes mithin vor Ablauf des Jahres im Regelfall nicht abschließend geprüft und festgestellt werden können, sehen § 31 Satz 3 und § 71 EStG vor, dass das Kindergeld laufend (monatlich) zu zahlen ist. Diese gesetzliche Konzeption macht es erforderlich, Kindergeldfestsetzungen, die vor Beginn oder während eines Kalenderjahres erlassen worden sind, wieder aufheben zu können, wenn abzusehen ist oder bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag überschreiten werden bzw. überschritten haben. Dabei hat der BFH offen gelassen, ob die Änderung in diesen Fällen auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 allein oder i.V.m. § 175 Abs. 2 AO 1977 oder auf § 70 Abs. 2 EStG zu stützen ist.
b) Diese Grundsätze hat der BFH nicht nur auf den Fall angewandt, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes entgegen der Prognose den Jahresgrenzbetrag übersteigen. Die Familienkasse kann die Kindergeldfestsetzung auch dann rückwirkend aufheben, wenn sie bei der Prognose voraussichtliche Aufwendungen des Kindes als Werbungskosten berücksichtigt hat, die bei abschließender Prüfung nicht als Werbungskosten abzugsfähig sind (vgl. BFH-Urteil in BFHE 196, 270, BStBl II 2002, 86). Zwar hätte die Familienkasse unter diesen Umständen an der Entstehung von Werbungskosten in der erklärten Höhe bereits bei der Festsetzung des Kindergeldes zweifeln können. Maßgeblich ist jedoch, dass die tatsächliche Höhe der Werbungskosten im Zeitpunkt der Prognoseentscheidung noch nicht feststand, so dass eine abschließende Entscheidung darüber, ob das Kind zu berücksichtigen war, noch nicht getroffen werden konnte. Bei dieser Sachlage hat der BFH offen gelassen, wie zu entscheiden gewesen wäre, wenn der Familienkasse bei feststehendem Sachverhalt ein reiner Rechtsanwendungsfehler unterlaufen wäre (vgl. BFH-Urteil in BFHE 196, 270, BStBl II 2002, 86).
c) Bei Anwendung dieser Grundsätze war der Beklagte befugt, die Kindergeldfestsetzung rückwirkend aufzuheben. Zwar ist der Beklagte bei der Festsetzung des Kindergeldes zutreffend davon ausgegangen, dass die Einkünfte des S voraussichtlich den Jahresgrenzbetrag überschreiten würden. Die Entscheidung, für S gleichwohl Kindergeld festzusetzen, ist damit nicht in Einklang zu bringen. Maßgeblich für die Befugnis der Familienkasse, die Kindergeldfestsetzung aufzuheben, ist jedoch die Tatsache, dass S im Jahr 2000 über zu hohe Einkünfte verfügte (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2002, 178), denn für die Berücksichtigung eines Kindes i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG kommt es nicht auf die voraussichtliche, sondern auf die tatsächliche Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes an. Dass die Einkünfte des S im Streitjahr den Jahresgrenzbetrag überschreiten würden, war bei der Festsetzung des Kindergeldes am 17. Januar 2000 zwar möglich, stand aber noch nicht fest. Weder die Klägerin noch der Beklagte konnten dies im Januar 2000 sicher wissen.
Der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung steht nicht entgegen, dass die Klägerin die ihr gemäß § 68 EStG obliegende Mitwirkungspflicht nach den Feststellungen des FG erfüllt hat. Die Klägerin hätte bei Erfüllung ihrer Mitwirkungspflicht das Kindergeld auch dann zurückzahlen müssen, wenn die Einkünfte und Bezüge des S entgegen einer früheren Prognose den Jahresgrenzbetrag überschritten hätten. Nichts anderes gilt, wenn das Kindergeld nicht hätte festgesetzt werden dürfen, weil hier bei einer griffweisen Schätzung der Werbungskosten durch Ansatz des Werbungskosten-Pauschbetrages davon auszugehen war, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag überschreiten werden. Stellt sich nach Ablauf des Jahres heraus, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag überschreiten, ist die Familienkasse auch dann befugt, die Kindergeldfestsetzung rückwirkend aufzuheben, wenn sie ursprünglich hätte unterbleiben müssen (ebenso: FG München, Urteil vom 20. Februar 2002 9 K 4195/01, juris; vgl. auch: Siegers, Anm. zum Urteil des Niedersächsischen FG vom 6. März 2002 11 K 397/00, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2002, 1048, 1049; a.A: FG Düsseldorf, Urteil vom 19. November 1999 18 K 8117/98 Kg, EFG 2000, 272). So liegt der Streitfall.
d) Der Senat kann offen lassen, ob sich durch die Einführung von § 70 Abs. 4 EStG an dieser Rechtslage etwas geändert hat. Die Vorschrift ist am 1. Januar 2002 in Kraft getreten (vgl. Art. 1 Nr. 21 i.V.m. Art. 8 Abs. 1 des Zweiten Gesetzes zur Familienförderung vom 16. August 2001, BGBl I 2001, 2074, BStBl I 2001, 533) und nicht rückwirkend anwendbar.
Fundstellen
Haufe-Index 1330615 |
BFH/NV 2005, 890 |