Leitsatz (amtlich)
Bei Rahmengebühren i.S.d. § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG, zu denen die Geschäftsgebühr im Sinne der Nr. 2300 RVG-VV zählt, steht dem Rechtsanwalt ein Spielraum (sog. Toleranzgrenze) von 20 % zu (im Anschluss an BGH, Urt. v. 13.1.2011 - IX ZR 110/10, NJW 2011, 1603).
Normenkette
RVG § 14 Abs. 1 S. 1; RVG VV Nr. 2300
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 12. Zivilsenats des OLG Koblenz vom 5.9.2011 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil des Klägers entschieden worden ist.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des LG Koblenz vom 14.5.2010 dahingehend abgeändert, dass die Beklagten verurteilt werden, an den Kläger weitere 212,52 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 30.5.2008 zu zahlen.
Die Beklagten tragen die Kosten der Rechtsmittel.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger begehrt Schadensersatz wegen eines Verkehrsunfalls. Er hat mit seiner Klage ursprünglich einen Unfallschaden i.H.v. 7.141,60 EUR sowie außergerichtliche Anwaltskosten i.H.v. 759,22 EUR geltend gemacht, wobei er bei den Anwaltskosten eine 1,5-Gebühr nach Nr. 2300 RVG-VV berechnet hat. Das LG hat die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 5.330,54 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 29.3.2008 zu zahlen. Die weitergehende, insb. auf Erstattung der außergerichtlichen Anwaltskosten gerichtete Klage hat es abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers, mit der er sich ausschließlich gegen die Abweisung seiner Klage auf Erstattung der außergerichtlichen Anwaltskosten gewandt hat, hat das OLG das erstinstanzliche Urteil teilweise abgeändert und die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger außergerichtliche Rechtsverfolgungskosten i.H.v. 546,68 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 30.5.2008 zu zahlen. Die weitergehende Berufung hat es zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Anträge aus der Berufungsinstanz weiter, soweit das Berufungsgericht zu seinem Nachteil erkannt hat.
Entscheidungsgründe
I.
Rz. 2
Das Berufungsgericht ist der Auffassung, der Kläger könne für die Tätigkeit seiner Prozessbevollmächtigten lediglich eine 1,3-Gebühr gem. Nr. 2300 RVG-VV in Ansatz bringen, die aus einem Gegenstandswert von 5.330,54 EUR, dem vom LG zuerkannten Betrag, zu berechnen sei. Die 1,3-Gebühr könne der Rechtsanwalt bei durchschnittlichen Verkehrsunfallsachen regelmäßig ohne nähere Darlegungen verlangen. Anhaltspunkte dafür, dass es sich im vorliegenden Fall um eine unterdurchschnittlich schwierige Angelegenheit handele, lägen nicht vor. Eine höhere Gebühr als 1,3 könne der Kläger jedoch nicht erstattet verlangen. Bei der Geschäftsgebühr gem. Nr. 2300 RVG-VV handele es sich um eine Rahmengebühr i.S.d. § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG. Sei die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen, sei die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nach § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG nicht verbindlich, wenn sie unbillig sei. Die von dem Prozessbevollmächtigten des Klägers berechnete Gebühr von 1,5 sei unbillig. Nach § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG bestimme der Rechtsanwalt die Gebühr unter Berücksichtigung aller Umstände nach billigem Ermessen. Es sei dabei allerdings anerkannt, dass dem Rechtsanwalt bei dieser Ermessensausübung ein Toleranzspielraum von jedenfalls 20 % einzuräumen sei. Der BGH habe in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass im Hinblick auf den genannten Toleranzspielraum eine Erhöhung bei durchschnittlichen Rechtssachen auf eine 1,5 Gebühr einer gerichtlichen Nachprüfung entzogen sei. Dieser Auffassung sei jedoch nicht zu folgen. Vielmehr lasse die Anmerkung Nr. 2300 RVG-VV bei durchschnittlichen Sachen eine höhere Gebühr als 1,3 nicht zu. Nach dieser Anmerkung könne eine Gebühr von mehr als 1,3 nur gefordert werden, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig sei. Diese Regelung begrenze deshalb den in § 14 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 RVG dem Rechtsanwalt eingeräumten Ermessensspielraum dahingehend, dass die 1,3-Gebühr nicht überschritten werden dürfe, wenn die Tätigkeit nicht umfangreich oder schwierig sei.
II.
Rz. 3
Die Beurteilung des Berufungsgerichts hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.
Rz. 4
1. Nach § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG bestimmt bei Rahmengebühren, zu denen die Geschäftsgebühr im Sinne der Nr. 2300 RVG-VV zählt, der Rechtsanwalt die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers, "nach billigem Ermessen". Ist die Gebühr - wie hier - von einem Dritten zu ersetzen, ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nach § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG (nur dann) nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist. Dabei steht dem Rechtsanwalt nach überwiegender Meinung auch im Anwendungsbereich des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes ein Spielraum (sog. Toleranzgrenze) von 20 % zu (vgl. BGH, Urt. v. 31.10.2006 - VI ZR 261/05, VersR 2007, 265 Rz. 5; BGH, Urt. v. 13.1.2011 - IX ZR 110/10, NJW 2011, 1603 Rz. 18; Mayer in Gerold/Schmidt, RVG, 19. Aufl., § 14 Rz. 12; Onderka in AnwKomm/RVG, 5. Aufl., § 14 Rz. 80 ff. m.w.N.; Winkler in Mayer/Kroiß, RVG, 5. Aufl., § 14 Rz. 54 m.w.N.; Römermann in Hartung/Römermann/Schons, RVG, 2. Aufl., § 14 Rz. 89 f.). Hält sich der Anwalt innerhalb dieser Grenze und ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die Tätigkeit unterdurchschnittlich war, ist die von ihm festgelegte Gebühr jedenfalls nicht i.S.d. § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG unbillig und daher von dem ersatzpflichtigen Dritten hinzunehmen (BGH, Urt. v. 13.1.2011 - IX ZR 110/10, a.a.O., Rz. 16, 18; BGH, Urt. v. 31.10.2006 - VI ZR 261/05, a.a.O., Rz. 9). Da nach den Feststellungen des Berufungsgerichts Anhaltspunkte dafür, dass es sich vorliegend um eine unterdurchschnittlich schwierige Angelegenheit handelt, nicht vorliegen, hält sich die Erhöhung der Regelgebühr um 0,2 innerhalb der Toleranzgrenze und ist deshalb rechtlich nicht zu beanstanden.
Rz. 5
2. Die vom Berufungsgericht und anderen OLG (vgl. OLG Jena OLGReport Jena 2006, 81, 82 und OLG Celle, ZfS 2012, 105, 106) hiergegen geäußerten Bedenken geben zu einer abweichenden Beurteilung keinen Anlass. Nach der gesetzlichen Regelung des § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG steht dem Rechtsanwalt bei der Bestimmung der Gebühr ein Ermessensspielraum zu. Dieser wird nicht - wie das Berufungsgericht meint - dadurch nach oben begrenzt, dass die Anmerkung zu Nr. 2300 RVG-VV bei nicht umfangreichen oder schwierigen Sachen eine Regelgebühr von 1,3 vorsieht. Der Ermessensspielraum betrifft nämlich auch die unter Umständen schwierige Beurteilung der Frage, was im Einzelfall "durchschnittlich" ist. Sind Anhaltspunkte für einen Ermessensfehlgebrauch nicht gegeben, ist die Bestimmung hinzunehmen. Müsste der Rechtsanwalt nach der Auffassung des Berufungsgerichts stets bei jeder geringfügigen Überschreitung der Regelgebühr Umstände darlegen, welche zwingend die Annahme einer überdurchschnittlichen Tätigkeit rechtfertigen, käme ein Ermessensspielraum nach oben bei durchschnittlichen Tätigkeiten von vornherein nicht in Betracht.
Rz. 6
3. Zudem macht die Revision mit Recht geltend, dass der Kläger im Berufungsverfahren vorgetragen hat, warum sein Rechtsanwalt im vorliegenden Fall seinen Ermessensspielraum bei der Bestimmung einer Gebühr von 1,5 ausgenutzt hat. Er hat den Ansatz der 1,5-Gebühr damit begründet, die Schadenshöhe habe mit 7.000 EUR über dem Durchschnitt gelegen, die Sach- und Rechtslage sei schwierig gewesen, der Ablauf des Unfalls habe erst nach Einholung von Sachverständigengutachten und Nachtragsgutachten erörtert werden können, die Verursachungsbeiträge der Beteiligten einschließlich der Berücksichtigung der Betriebsgefahr hätten gegeneinander abgewogen werden müssen. Auch wenn diese Umstände - wie das Berufungsgericht angenommen hat - nicht ausreichen sollten, um eine überdurchschnittliche Tätigkeit anzunehmen, ist es deshalb noch nicht gerechtfertigt, die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nach § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG als unbillig und damit für die Beklagten als unverbindlich zu qualifizieren. Der einem Rechtsanwalt im Rahmen der Rahmengebühr zugebilligte Ermessensspielraum soll gerade verhindern, dass die Gerichte im Einzelfall bei relativ geringfügigen Überschreitungen der Regelgebühr ihr Ermessen an die Stelle des Ermessens des Rechtsanwalts setzen und dabei - oftmals aufwendige - Überprüfungen vornehmen, ob die Tätigkeit vielleicht doch leicht überdurchschnittlich war.
Rz. 7
4. Nach alledem war der Klage hinsichtlich der außergerichtlichen Anwaltskosten in vollem Umfang stattzugeben. Da keine weiteren Feststellungen mehr erforderlich sind, kann der erkennende Senat selbst entscheiden.
Fundstellen
Haufe-Index 2991508 |
DStR 2012, 13 |