Entscheidungsstichwort (Thema)

Zuständigkeit des Gesamtvollstreckungsgerichts

 

Leitsatz (amtlich)

  1. Die Zuständigkeit eines Gesamtvollstreckungsgerichts in den fünf neuen Ländern setzt nicht voraus, daß dort zuvor eine werbende Tätigkeit des Schuldners erfolgt ist.
  2. Eine mißbräuchliche Inanspruchnahme der Zuständigkeit im Bereich der jeweils anderen Rechtsordnung (KO bzw. GesO) kann nicht schon allein daraus abgeleitet werden, daß eine größere Anzahl von Firmen übernommen worden ist, deren Sitz in den Geltungsbereich der GesO verlegt wird, wenn erst mehr als drei Wochen nach Sitzverlegung der Antrag auf Eröffnung eines Gesamtvollstreckungsordnungsverfahrens gestellt wird.
 

Normenkette

KO § 71; GesO § 1; ZPO § 36 Nr. 6; GmbHG § 64 Abs. 1 S. 1

 

Gründe

I.

Der Geschäftsführer der Antragstellerin hat deren gesamte Geschäftsanteile mit notariellem Vertrag vom 5. April 1995 erworben. Eine Gesellschafterversammlung vom selben Tage beschloß die Verlegung des Sitzes der GmbH von Hannover nach Leipzig, berief den bisherigen Geschäftsführer ab und bestellte den derzeitigen Geschäftsführer (vgl. notarielle Urkunde GA 4 d. Akten AG Leipzig). Der frühere Geschäftsführer meldete das Gewerbe in Hannover am 14. Juli 1995 ab (vgl. GA 7 d. Akten). In Leipzig hatte der derzeitige Geschäftsführer der Antragstellerin mit Vertrag vom 28. Februar 1995 (GA 19 d. Akten) im eigenen Namen einen Büroraum von 20 m sowie ein Nebengelaß als Lager (nur zugelassen zur Lagerung von Akten) in einem dort eingerichteten Ladengeschäft zum Preis von 600,-- DM/Monat angemietet. Mit Schreiben vom 9. Juni 1995 stellte die Antragstellerin - vertreten durch ihren Geschäftsführer - gemäß § 64 GmbHG Antrag auf Gesamtvollstreckung beim Amtsgericht Leipzig (GA 1 d. Akten). Nach einem Ortstermin an der Geschäftsanschrift der Schuldnerin vom 24. Juli 1995 (GA 11 d. Akten) wies das Amtsgericht Leipzig den Antrag mit Beschluß vom 18. September 1995 als unzulässig ab. Es sei örtlich nicht zuständig, weil die Sitzverlegung nach Leipzig mißbräuchlich zur Erschleichung des Gerichtsstandes sei. Die Schuldnerin besitze lediglich eine Briefkastenanschrift in Leipzig. Das sei gerichtsbekannt, nachdem "zahlreiche andere Anträge in anderen Verfahren" unter derselben Anschrift beim Amtsgericht Leipzig eingegangen seien. Das Gericht sei nicht davon überzeugt, daß die Antragstellerin und Schuldnerin in Leipzig eine zuständigkeitsbegründende Tätigkeit entfaltet habe (GA 22 ff. d. Akten).

Nach Eintragung der Sitzverlegung im Handelsregister Leipzig am 5. Oktober 1995 (GA 11 d. Akten) beantragte die Schuldnerin durch ihren Geschäftsführer mit Schreiben vom 8. Oktober 1995 erneut Gesamtvollstreckung beim Amtsgericht Leipzig. Das Amtsgericht wies auch diesen Antrag mit Beschluß vom 11. Dezember 1995 unter Hinweis auf seinen Beschluß vom 18. September 1995 als unzulässig ab (GA 6 ff. d. Akten).

Mit Schreiben vom 6. November 1995 stellte die Antragstellerin durch ihren Geschäftsführer beim Amtsgericht Hannover als dem Gericht ihres früheren Sitzes "Antrag auf Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens" (GA 1 d. Akten). Auf entsprechende Anfrage des Konkursgerichts Hannover (GA 18 d. Akten) beantragte die Antragstellerin Verweisung an das Amtsgericht Leipzig, die das Amtsgericht Hannover am 29. Dezember 1995 beschloß (GA 21 d. Akten).

Das Amtsgericht Leipzig hat sich mit Beschluß vom 17. Januar 1996 für örtlich unzuständig erklärt, die Übernahme des Verfahrens abgelehnt und die Sache dem Bundesgerichtshof zur Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts vorgelegt (GA 30 d. Akten).

II. Gemäß § 36 Nr. 6 ZPO wird zur Durchführung des Verfahrens das Amtsgericht Leipzig als das zuständige Gericht bestimmt.

1.

§ 36 Nr. 6 ZPO ist für das Verfahren nach der Konkursordnung ebenso wie für das Verfahren nach der Gesamtvollstreckungsordnung vom 6. Juni 1990 (Gesetzbl. d. DDR I S. 285; künftig: GesO) anzuwenden (Sen.Beschl. v. 30.6.1992 - X ARZ 371/92, DtZ 1992, 330).

2.

Die Voraussetzungen für eine Bestimmung des zuständigen Gerichts nach § 36 Nr. 6 ZPO liegen vor. Das Amtsgericht Hannover wie auch das Amtsgericht Leipzig haben sich mit den der Antragstellerin mitgeteilten Beschlüssen für unzuständig erklärt.

3.

Zu bestimmen war das Amtsgericht Leipzig. Der Verweisungsbeschluß des Amtsgerichts Hannover ist für das Amtsgericht Leipzig bindend (§ 281 Abs. 2 Satz 5 ZPO i.V.m. § 72 KO).

a)

Eine bloße Briefkastenanschrift, die möglicherweise eine Zuständigkeit nicht begründen könnte (vgl. Kuhn/Uhlenbruck, KO, 11. Aufl., § 71 Rdn. 3 c), ist vorliegend nicht gegeben. Tatsachen, die den Schluß erlauben würden, daß die Geschäfte der Schuldnerin nicht in Leipzig, sondern an einem anderen Ort getätigt und/oder abgewickelt würden und damit dort der Mittelpunkt des wirtschaftlichen Daseins der Schuldnerin entgegen der Eintragung des Sitzes im Handelsregister wäre, haben die widerstreitenden Gerichte nicht festgestellt; Anhaltspunkte dafür sind auch aus den Akten nicht ersichtlich.

b)

Es kann auch nicht festgestellt werden, daß die Schuldnerin den Gerichtsstand Leipzig mißbräuchlich erschlichen hat. Es kann deshalb dahinstehen, ob eine "nur formale" Sitzverlegung keine konkursrechtliche Zuständigkeit begründen könnte (vgl. Haarmeyer/Wutzke/Förster, GesO, 3. Aufl., § 1 Rdn. 258; Hess/Binz/Wienberg, GesO, 2. Aufl., § 1 Rdn. 227; Gottwald/Heilmann/Klopp, Insolvenzrechtshandbuch, § 18 Rdn. 3 zu Fn. 5).

Die formelle Ordnungsmäßigkeit der Sitzverlegung bezweifelt das Amtsgericht Leipzig nicht. Für Verfahrensfehler bei der Sitzverlegung sind Anhaltspunkte nicht ersichtlich. Insoweit erscheint auch die Abmeldung des Gewerbes der Antragstellerin in Hannover erst nach Stellung des ersten Konkursantrages entgegen der Ansicht des Amtsgerichts Leipzig nicht bedenklich.

Die Antragstellerin hat zwar keine werbende Tätigkeit in Leipzig im einzelnen vorgetragen. Das genügt jedoch nicht, um die Sitzverlegung als Erschleichung des Gerichtsstandes anzusehen. Das Fehlen werbender Tätigkeit in Leipzig vermag allenfalls zu Bedenken im Hinblick auf die Dreiwochenfrist des § 64 GmbHG Anlaß zu geben. Solange in dem Eilverfahren über den Antrag auf Konkurseröffnung (vgl. Gottwald/Uhlenbruck, Insolvenzrechtshandbuch, § 13 Rdn. 29) nicht offensichtlich ist, daß die Schuldnerin ihren Sitz erst nach Eintritt der Konkursreife verlegt hat, könnte das Konkursgericht auch unter Berücksichtigung des Umstandes, daß der Geschäftsführer der Antragstellerin zugleich Geschäftsführer und Gesellschafter einer Mehrzahl von Gesellschaften mit beschränkter Haftung (nach Darstellung des Amtsgerichts - Konkursgerichts - Leipzig 12 weiterer Gesellschaften) ist, die sämtlich unter derselben Anschrift residieren und Konkurs angemeldet haben, nicht davon ausgehen, daß die Schuldnerin den Gerichtsstand unzulässig erschlichen hat. Das Amtsgericht Leipzig scheint anzunehmen, daß die Schuldnerin bereits seit 5. April 1995 konkursreif war und die Sitzverlegung ausschließlich wegen der mit einer Anwendung der Gesamtvollstreckungsordnung möglicherweise verbundenen Vorteile für die Schuldnerin erfolgt ist (vgl. dazu Pape, WiB 1995, 150, 154 zu IV 3; Wenzel, MDR 1992, 1023 ff.). Eine Verlegung des Geschäftssitzes der Antragstellerin nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit, die die Annahme einer Erschleichung des Gerichtsstandes gestatten würde, erscheint jedoch im Hinblick auf die mit einem Verstoß gegen § 64 Abs. 1 Satz 1 GmbHG verbundenen Folgen (vgl. § 84 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 GmbHG, § 263 StGB) ohne Kenntnis weiterer Umstände nicht naheliegend. Die Antragstellerin hat insbesondere den Antrag auf Eröffnung des Verfahrens der Gesamtvollstreckung nicht etwa innerhalb so kurzer Zeit nach dem Beschluß zur Sitzverlegung gestellt, daß ein Erschleichen des Gerichtsstandes vermutet werden konnte (vgl. dazu die Dreiwochenfrist des § 64 Abs. 1 Satz 1 GmbHG). Ob und unter welchen Umständen eine Restschuldbefreiung gemäß § 18 Abs. 2 Satz 3 GesO zu versagen wäre (vgl. dazu Haarmeyer/Wutzke/Förster, aaO.; Smid/Zeuner, GesO, 2. Aufl., § 1 Rdn. 97, je m.w.N.), ist hier nicht zu entscheiden.

Hiernach war das Amtsgericht Leipzig als das für den Sitz der Antragstellerin örtlich zuständige Gericht zu bestimmen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1456407

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