Entscheidungsstichwort (Thema)
Fortgeltung vorkonstitutionellem Rechts
Leitsatz (amtlich)
§ 54 Absatz 1 der Durchführungsbestimmungen zum Umsatzsteuergesetz vom 23. Dezember 1938 (RGBl I S. 1935) – derzeit angewandt als § 59 Absatz 1 der Durchführungsbestimmungen zum Umsatzsteuergesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. September 1951 (BGBl I S. 796) – ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
Normenkette
GG Art. 123
Tatbestand
A.
I.
1. Das Umsatzsteuergesetz (UStG) vom 16. Oktober 1934 (RGBl I S. 942) enthielt in § 8 folgende Vorschrift:
Zusatzbesteuerung
für mehrstufige Unternehmen
§ 8
Der Reichsminister der Finanzen wird ermächtigt, Maßnahmen zum Ausgleich der verschiedenen Umsatzsteuerbelastung der einstufigen und der mehrstungen Unternehmen zu treffen.
Die Abgabenordnung (AO) in der Fassung des Einführungsgesetzes zu den Realsteuergesetzen vom 1. Dezember 1936 (RGBl I S. 961) erteilte dem Reichsminister der Finanzen durch § 12 Abs. 1 Satz 1 und 2 folgende Ermächtigung:
Der Reichsminister der Finanzen kann zur Durchführung und zur Ergänzung der vom Reich erlassenen Steuergesetze, insbesondere auch zur Überleitung der Gesetzgebung und der Behördenorganisation Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften erlassen. Er kann insbesondere den Umfang der Befreiungen, Steuerermäßigungen und Steuervergütungen näher bestimmen.
2. Zur Durchführung des § 8 UStG 1934 ergingen die §§ 54–59 der Umsatzsteuerdurchführungsbestimmungen vom. 17. Oktober 1934 (RGBl I S. 947). die durch die §§ 54–58 der Umsatzsteuerdurchführungsbestimmungen vom 23. Dezember 1938 (RGBl I S. 1935; UStDB 1938) ersetzt wurden.
Diese Vorschriften ordneten Ausgleichsmaßnahmen nur für den Bereich der Textilwirtschaft an. Sie führten eine Zusatzsteuer zu Lasten von Unternehmen ein, die in ihrem Betrieb gewisse Garne sowohl herstellen als auch verweben (§ 54 UStDB 1938). Sie brachten ferner eine Zusatzsteuer für Unternehmer, die selbstgesponnene Garne oder selbstgewebte Gewebe im Einzelhandel vertreiben (§ 55 UStDB 1938). Die Vorschriften sahen auch ein Anrechnungsverfahren vor, in dem der Unternehmer, der gewisse Textilveredelungsarbeiten im Werklohn durch andere hat vornehmen lassen, berechtigt ist, seine Umsatzsteuerschuld „um die Steuer zu kürzen, die auf dem im gleichen Zeitraum von ihm gezahlten Veredelungslohn ruht” (§ 56 UStDB 1938). Schließlich war in diesen Bestimmungen noch eine Steuerermäßigung für Eigenveredeler vorgesehen, nach der ein Unternehmer, der an Garnen, Zwirnen oder Geweben ausschließlich gewisse Veredelungsarbeiten durchführt oder durch einen anderen im Werklohn durchführen läßt, berechtigt ist, für steuerpflichtige Lieferungen dieser Gegenstände im Großhandel die Umsatzsteuer nach einem ermäßigten Steuersatz zu entrichten (§ 57 UStDB 1938).
§ 54 Abs. 1 UStDB 1938 lautet:
Wenn ein Unternehmer selbstgesponnene Garne verwebt, die Baumwolle, Reißbaumwolle, Schafwolle, Reißwolle oder Zellwolle enthalten, so gilt der Übergang dieser Garne in die Weberei als steuerpflichtige Lieferung, auch wenn die Garne vorher noch gezwirnt worden sind. Das gleiche gilt, wenn der Unternehmer das Spinnen oder das Weben durch einen anderen ausführen läßt.
3. Das Gesetz zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes und des Beförderungsteuergesetzes vom 28. Juni 1951 (BGBl I S. 402) änderte den bisherigen Wortlaut des § 8 UStG nicht. Es faßte aber § 18 UStG neu. Diese Vorschrift lautet nunmehr:
§ 18
(1) Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnungen
1. zur Durchführung dieses Gesetzes die in § 4 Ziffern 1, 2, 4 und 14, § 5 Absatz 1 und Absatz 4 Ziffer 1, § 6 Absatz 3, § 7 Absatz 4, § 8, § 15 und § 16 vorgesehenen Bestimmungen zu erlassen, den Umfang der Steuervergütungen im Sinne des § 16 festzusetzen und die in diesem Gesetz verwendeten Begriffe näher zu bestimmen; …
4. Auf Grund des § 18 Abs. 1 Nr. 1 UStG in der Fassung des Änderungsgesetzes (UStG 1951) änderte die Bundesregierung mit Verordnung vom 29. Juni 1951 (BGBl I S. 418) die Umsatzsteuerdurchführungsbestimmungen in weitem Umfange. Durch § 1 Nr. 22–27 dieser Verordnung wurden die §§ 54–58 über Ausgleichsmaßnahmen in der Textilwirtschaft teilweise geändert. § 54 Abs. 1 blieb jedoch unberührt. In der durch den Bundesminister der Finanzen auf Grund von § 18 Abs. 2 Nr. 3 UStG 1951 neu bekanntgemachten Fassung der Umsatzsteuerdurchführungsbestimmungen vom 1. September 1951 (BGBl I S. 796; UStDB 1951) finden sich die Vorschriften zur Durchführung des § 8 UStG in den §§ 59–62. Der § 59 Abs. 1 UStDB 1951 stimmt wörtlich mit § 54 Abs. 1 UStDB 1938 überein.
5. Durch Urteil vom 5. März 1958 (BVerfGE 7, 282) hat das Bundesverfassungsgericht § 8 UStG 1951 und § 18 Abs. 1 Nr. 1 dieses Gesetzes, soweit er die Bundesregierung zum Erlaß von Rechtsverordnungen nach § 8 ermächtigt, wegen Verstoßes gegen Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG für nichtig erklärt.
II.
Die Bundesregierung hat gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG iVm § 13 Nr. 6 und § 76 Nr. 2 BVerfGG durch Schriftsatz des Bundesministers der Finanzen vom 20. April 1960 beantragt festzustellen:
§ 54 Abs. 1 der Durchführungsbestimmungen zum Umsatzsteuergesetz vom 23. Dezember 1938 (Reichsgesetzbl. I S. 1935) – derzeit angewandt als § 59 Abs. 1 der Durchführungsbestimmungen zum Umsatzsteuergesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. September 1951 (Bundesgesetzbl. I S. 796) – ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
Sie stellt den Antrag, weil der Bundesfinanzhof in dem Urteil vom 22. Oktober 1959 (V 226/57 S) den § 59 Abs. 1 UStDB 1951 für ungültig gehalten und daher nicht angewandt hat. Nach der Auffassung des Bundesfinanzhofs beruhen die §§ 59–62 UStDB 1951 auf der Ermächtigung in §§ 8, 18 Abs. 1 Nr. 1 des Umsatzsteuergesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. September 1951 (BGBl I S. 791), die das Bundesverfassungsgericht durch das Urteil vom 5. März 1958 (BVerfGE 7, 282) wegen Verstoßes gegen Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG für nichtig erklärt hat. Nach Wegfall der Ermächtigung seien auch die darauf beruhenden §§ 59–62 UStDB 1951 entfallen, ohne daß die Bestimmungen in ihrer alten Fassung wieder aufgelebt wären.
Die Bundesregierung hält § 59 Abs. 1 UStDB 1951 für gültig. Diese Vorschrift beruhe auch heute noch auf den Ermächtigungen in §§ 8 und 18 des Umsatzsteuergesetzes vom 16. Oktober 1934 und in § 12 der Reichsabgabenordnung in der Fassung vom 1. Dezember 1936, weil sie mit § 54 Abs. 1 UStDB 1938 identisch sei. Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes sei § 54 Abs. 1 UStDB 1938 gemäß Art. 123 Abs. 1, 125 Nr. 1 iVm Art. 105 Abs. 2 GG Bundesrecht geworden und habe seither weder durch Gesetz noch durch Rechtsverordnung eine Änderung erfahren. Seine Geltung werde weder durch das Erlöschen der ermächtigenden Normen noch durch die Änderung der Paragraphenbezeichnung (nunmehr § 59 UStDB 1951) durch die vom Bundesfinanzminister am 1. September 1951 bekanntgemachte Neufassung der Durchführungsbestimmungen von 1951 berührt.
III.
Die Hessische Landesregierung hat sich der Auffassung der Bundesregierung angeschlossen. Die Bundesregierung hat auf mündliche Verhandlung verzichtet.
Entscheidungsgründe
B.
Der Antrag der Bundesregierung ist zulässig und begründet.
I.
1. Der verfassungsrechtlichen Prüfung unterliegt nur § 54 Abs. 1 UStDB 1938, der heute als § 59 Abs. 1 UStDB 1951 angewandt wird.
2. Der Antrag der Bundesregierung ist darauf gerichtet, die Vereinbarkeit des § 54 Abs. 1 UStDB 1938 (§ 59 Abs. 1 UStDB 1951) mit dem Grundgesetz festzustellen. Diese Feststellung kann nur getroffen werden, wenn die Vorschrift in dem nach Art. 123 Abs. 1 GG maßgebenden Zeitpunkt mit dem Grundgesetz vereinbar war und es auch heute noch ist.
II.
1. § 54 Abs. 1 UStDB 1938 konnte nur dann nach Art. 123 GG fortgelten, wenn er im Zeitpunkt des ersten Zusammentritts des Bundestags (7. September 1949) galt.
Diese Voraussetzung ist erfüllt.
a) § 54 UStDB 1938 ist – wie sein Vorläufer § 54 UStDB 1934 – auf Grund des § 8 UStG 1934 und des § 12 AO erlassen worden. Der Vorspruch zu den Durchführungsbestimmungen 1938 lautet:
Auf Grund des § 4 Ziffern 2, 4 und 14, § 5 Absatz 1, Absatz 4 Ziffer 1, § 8, § 16 Absatz 1 und § 18 des Umsatzsteuergesetzes vom 16. Oktober 1934 (Reichsgesetzbl. I S. 942) in Verbindung mit §§ 12 und 13 Ziffer 1 der Reichsabgabenordnung wird für die Besteuerung der Lieferungen, der sonstigen Leistungen und des Eigenverbrauchs (§ 1 Ziffern 1 und 2 des Umsatzsteuergesetzes) hierdurch verordnet: …
Nach den als Ermächtigungsgrundlagen angeführten § 8 UStG 1934 und § 12 AO konnte § 54 Abs. 1 UStDB 1938 rechtswirksam als Verordnung erlassen werden. Er ist auch bis zum 7. September 1949 nicht geändert worden.
b) Ob die Ermächtigungen des § 8 UStG 1934 und des § 12 AO nach Art. 129 Abs. 3 GG erloschen sind, kann dahingestellt bleiben, denn das nachträgliche Erlöschen einer Ermächtigung ist ohne Einfluß auf den Rechtsbestand der während ihres Bestehens ordnungsgemäß erlassenen Rechtsverordnung (BVerf-GE 9, 3 [12]).
Somit blieb § 54 Abs. 1 nach dem gemäß Art. 123 Abs. 1 GG maßgebenden 7. September 1949 formell bestehen (ebenso BFH, Urteil vom 7. April 1960, V 231/54 S, BStBl 1960 III S. 339 [340]).
2. Die Vorschrift gilt nur fort, wenn sie auch sachlich dem Grundgesetz nicht widerspricht. Das ist nicht der Fall.
Gegen die Verfassungsmäßigkeit der Zusatzumsatzsteuer werden aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG Bedenken hergeleitet. Weitere Gesichtspunkte, die für die Prüfung des § 54 Abs. 1 UStDB 1938 wesentlich sein könnten, sind nicht ersichtlich.
a) Es wird behauptet, die Zusatzbesteuerung in der Textilwirtschaft verletze den Grundsatz der Konkurrenz- und Konzentrationsneutralität, der ein grundsätzliches Erfordernis der Umsatzsteuer als allgemeiner Verbrauchsabgabe sei.
Es ist nicht erforderlich, sich mit diesem Einwand auseinanderzusetzen, da es sich hier um eine Frage der Wirtschaftspolitik handelt (vgl. Schüle, Die staatliche Intervention im Bereich der Wirtschaft, Heft 11 der Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, S. 93 f., 111) und das Grundgesetz keine wirtschaftspolitische Neutralität verlangt (BVerfGE 4, 7 [17]; 7, 377 [400]).
Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet die allgemeine Handlungsfreiheit (BVerfGE 6, 32 [37 ff.]; 8, 274 [328]). Hierzu zählt auch die Freiheit im wirtschaftlichen Verkehr und die Vertragsfreiheit, soweit sie nicht durch besondere Grundrechtsbestimmungen geschützt werden. Dieser Schutz wird aber nur innerhalb der Schranken der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet (BVerfGE 4, 7 [15]; 6, 32 [37 f.]; 8, 274 [328]). Die Auferlegung einer Steuer berührt zwar die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen, sie greift aber nicht in den durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Bereich ein, wenn dem Betroffenen angemessener Spielraum verbleibt, sich als verantwortlicher Unternehmer wirtschaftlich frei zu entfalten (BVerfGE 4, 7 [16]; vgl. auch BVerfGE 6, 32 (36 ff., 41]; 8, 274 [328 f.]).
Die Zusatzumsatzsteuer ist für die von ihr betroffenen Unternehmer ein zusätzlicher Kostenfaktor. Inwieweit sie die Betroffenen daran hindert, sich in ihrer durch Art. 2 Abs. 1 GG garantierten unternehmerischen Freiheit zu entfalten, ist nicht ersichtlich.
b) Die Frage eines Verstoßes gegen Art. 3 GG kann nicht isoliert für § 54 Abs. 1 UStDB 1938 untersucht werden, da die Regelungen der §§ 54 bis 58 UStDB 1938 jedenfalls insoweit eine geschlossene Einheit darstellen, als sie insgesamt einen Ausgleich der verschiedenen Umsatzsteuerbelastung der einstufigen und mehrstufigen Textilunternehmen bezwecken (vgl. die amtliche Begründung zu § 8 UStG 1934 – RStBl 1934 S. 1537 [1554]).
Der Verstoß gegen den Gleichheitssatz wird in erster Linie darin gesehen, daß es willkürlich sei, Ausgleichsmaßnahmen lediglich für ein Unternehmen der Textilwirtschaft vorzusehen; ferner wird beanstandet, die Regelung für die Textilwirtschaft führe innerhalb dieses Wirtschaftszweiges selbst zu Ungleichheiten in der Besteuerung.
aa) Der Gleichheitssatz wird durch eine Sonderregelung verletzt, wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache sich ergebender oder sonstwie einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung nicht finden läßt, d.h. wenn die Regelung als willkürlich bezeichnet werden muß (BVerfGE 1, 14 [52]). Der Gesetzgeber muß bei der Regelung eines bestimmten Gebietes nicht alle tatsächlichen Verschiedenheiten berücksichtigen; entscheidend ist, ob für eine am Gerechtigkeitsgedanken orientierte Betrachtungsweise die tatsächlichen Ungleichheiten in dem in Betracht kommenden Zusammenhang so bedeutsam sind, daß der Gesetzgeber sie bei seiner Regelung beachten muß (BVerf-GE 1, 264 [276]; 2, 128 [119]; 9, 124 [130]).
Die auf § 8 UStG 1934 beruhenden Ausgleichsmaßnahmen sollten Ungleichheiten im Wettbewerb bereinigen, welche durch die Allphasenbesteuerung verursacht wurden, und die gerade im Bereich der Textilwirtschaft nach der Erhöhung des allgemeinen Steuersatzes von 0,85 auf 2 v. H. ab 1. Januar 1932 besonders stark hervorgetreten waren (BVerfGE 7, 282 [298]). Der Verordnunggeber konnte einen Ausgleich für die Textilindustrie anordnen und für andere Wirtschaftszweige davon absehen, wenn er Sich dabei von sachlichen Erwägungen leiten ließ (BVerfGE 7, 282 [297]). Das, war der Fall, da in anderen Wirtschaftszweigen eine den Wettbewerbsverzerrungen in der Textilwirtschaft vergleichbare Situation nicht bestand. In diesem Zusammenhang kann die Erhöhung des allgemeinen Steuersatzes auf 3 v. H. durch das Kontrollratsgesetz Nr. 15 vom 11. Februar 1946 (ABlKR S. 75) außer Betracht bleiben.
Die Beschränkung, der Ausgleichsmaßnahmen auf die Textilwirtschaft verstieß somit am 7. September 1949 nicht gegen den Gleichheitssatz (ebenso BFH in BStBl 1960 III, S. 339 [340]).
bb) Der Einwand, die umstrittene Sonderregelung wirke sich innerhalb der Textilwirtschaft ungleich aus, wird damit begründet, daß die Fiktion von Umsätzen (durch § 54 Abs. 1 UStDB 1938) systemwidrig sei und gegen das Gebot der Gleichbehandlung tatsächlich und rechtlich gleichliegender Tatbestände verstoße. Dieser Einwand ist nicht berechtigt. Eine Sondervorschrift verstößt nicht schon dadurch gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, daß sie von den einen Rechtsbereich bestimmenden Grundregeln abweicht (BVerfGE 9, 20 [28]; 9, 201 [207]). Die „Systemwidrigkeit” ist darauf zurückzuführen, daß die Allphasenbesteuerung in der Textilwirtschaft im Gegensatz zu anderen Wirtschaftszweigen zu besonders starken Wettbewerbsverzerrungen rührte. Die Erhöhung der Umsatzsteuer auf 2 v. H. ab. 1. Januar 1932 bedrohte die Existenz der einstufigen Spinnereien und Webereien, weil sie gegenüber den beide Produktionsstufen in sich vereinigenden mehrstufigen Betrieben, deren Produkt im Ergebnis nur mit geringer Umsatzsteuer belastet ist, nicht mehr konkurrenzfähig waren. Dem sollten die Maßnahmen der §§ 54 ff. UStDB 1938 entgegenwirken. Es ist daher nicht richtig, daß hier tatsächlich gleichliegende Tatbestände rechtlich verschieden behandelt worden seien. Es kommt nicht darauf an, ob die in den§§ 54 ff. UStDB 1938 enthaltene Regelung allen Besonderheiten in der Textilindustrie gerecht wurde. Die Umsatzsteuer ist nur einer unter vielen Kostenfaktoren. Ihre wirtschaftliche Auswirkung ist nach Art und Größe der Unternehmen im Ergebnis verschieden. Sie hängt weitgehend von der allgemeinen Wirtschaftslage, den Wettbewerbsverhältnissen und der besonderen Lage des einzelnen Unternehmens, z.B. den Kapitalverhältnissen, den durch die örtliche Lage des Unternehmens bedingten Besonderheiten (Verkehrsverhältnisse, Lage am Arbeitsmarkt) und den Fähigkeiten der Unternehmensleitung ab; die Auswirkung der Belastung kann, insbesondere in größeren und kapitalstarken Betrieben, durch Verbindung mehrerer Betriebszweige (vertikale Betriebskonzentration) und durch Rationalisierung gemildert werden. Bei dieser Ausgangslage durfte der Verordnunggeber in dem Bestreben, die infolge der Phasenbesteuerung bei einem Steuersatz von 2 v. H. eintretenden steuerlichen Belastungsunterschiede zwischen den in den §§ 54 ff. genannten Textilunternehmen auszugleichen, verhältnismäßig grob differenzieren. Es ist nicht erkennbar, daß der Verordnunggeber sich hierbei von unsachlichen Erwägungen leiten ließ.
§ 54 Abs. 1 UStDB 1938 galt daher gemäß Art. 123 Abs. 1 GG fort.
3. Die Vorschrift ist gemäß Art. 125 Nr. 1 GG Bundesrecht geworden, wenn sie zum Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes gehört und innerhalb eines oder mehrerer Besatzungszonen einheitlich galt.
Nach Art. 105 Abs. 2 Nr. 1 GG gehört die Umsatzsteuer zur konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes. § 54 Abs. 1 UStDB 1938 galt innerhalb der drei westlichen Besatzungszonen einheitlich. Die Vorschrift ist also gemäß Art. 123 Abs. 1, 125 Nr. 1 GG Bundesrecht geworden.
III.
§ 54 Abs. 1 UStDB 1938 (§ 59 Abs. 1 UStDB 1951) ist weder durch den Gesetzgeber noch durch den Verordnunggeber seit dem ersten Zusammentritt des Bundestages ausdrücklich geändert worden. Der Bundesfinanzhof hält jedoch § 59 Abs. 1 UStDB 1951 mangels einer gültigen gesetzlichen Ermächtigung für nichtig. Seine Auffassung hält der verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht stand.
1. Nach Auffassung des Bundesfinanzhofs beruhen die §§ 59–62 UStDB 1951 auf der Ermächtigung der §§ 8, 18 Abs. 1 Ziff. 1 UStG 1951; § 8, den das Bundesverfassungsgericht als nachkonstitutionelles Recht angesehen habe, sei nach seiner Überschrift und seinem Wortlaut die Grundlage für die Textilzusatzsteuer.
Wenn diese Ansicht zuträfe, wäre § 59 Abs. 1 UStDB 1951 in der Tat ungültig, weil die Ermächtigung nach §§ 8, 18 Abs. 1 Ziff. 1 UStG 1951 durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts für nichtig erklärt worden ist. Dann wäre aber nicht nur diese Vorschrift ungültig; auch § 54 Abs. 1 UStDB 1938 wäre dann durch ihn nicht wirksam derogiert worden, sondern nach wie vor in Kraft.
Die Bundesregierung hat aber mit Bezug auf § 54 Abs. 1 UStDB 1938 von den Ermächtigungen in den §§ 8, 18 Abs. 1 Ziff. 1 UStG 1951 keinen Gebrauch gemacht. Der Verordnunggeber konnte bei der Änderung der Umsatzsteuerdurchführungsbestimmungen 1938 zwei Wege gehen. Er konnte sie entweder insgesamt neu fassen oder die geltende Fassung abändern bzw. ergänzen. Die Bundesregierung hat sich auf eine Abänderung beschränkt. Sie hat weder in der Verordnung vom 29. Juni 1951 noch in einer späteren Verordnung die Vorschrift des § 54 Abs. 1 UStDB 1938 erwähnt, ergänzt oder geändert, sondern ihr Bestehen vorausgesetzt. Daher kann diese Bestimmung auch nicht auf einer Ermächtigung beruhen, auf die sich die Bundesregierung in den Änderungsverordnungen berufen hat
2. Der Bundesfinanzhof meint weiter, § 54 Abs. 1 UStDB 1938 sei – obwohl er den Steuersatz nicht nenne – sachlich dadurch geändert worden, daß das Gesetz vom 28. Juni 1951 (BGBl I S. 402) den Steuersatz für die durch diese Vorschrift als steuerbar erklärten Vorgänge auf 4 v. H. erhöht habe. Der Steuersatz ist aber nicht durch eine auf die neuen Ermächtigungen gestützte Verordnung, sondern durch formelles Gesetz erhöht worden. Selbst wenn man die mittelbare Einwirkung des Gesetzes auf § 54 Abs. 1 UStDB 1938 als eine Veränderung seines Inhalts werten sollte, so würde dadurch doch keinesfalls die Bestimmung als Teil einer Verordnung einer anderen Ermächtigung unterstellt worden sein als derjenigen, auf Grund derer sie erlassen wurde.
3. Der Bundesfinanzhof meint ferner, die §§ 59–62 UStDB 1951 beruhten deshalb vollständig auf den §§ 8, 18 Abs. 1 Ziff. 1 UStG 1951, weil die Vorschriften über die Textilzusatzsteuer ein geschlossenes System bildeten; es sei nicht denkbar, daß einzelne Vorschriften oder sogar Teile von ihnen auf verschiedenen Ermächtigungen beruhen könnten.
Es gibt keinen Rechtssatz, der verbietet, in einer Verordnung Vorschriften oder Teile einer Vorschrift unberührt zu lassen, wenn andere Vorschriften oder Teile von ihnen auf Grund einer neuen Ermächtigung geändert werden sollen. Dem entspricht auch die seit dem ersten Zusammentritt des Bundestages geübte Verordnungspraxis nicht nur auf dem Gebiet der Umsatzsteuer, sondern auch bei anderen Steuern (z.B. Einkommensteuer, Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer).
§ 59 Abs. 1 UStDB 1951 kann deshalb nicht auf §§ 8, 18 Abs. 1 Ziff. 1 UStG 1951 beruhen, weil der Verordnunggeber von dieser Ermächtigung insoweit keinen Gebrauch gemacht hat. Durch die auf den neuen Ermächtigungen beruhende Verordnung vom 29. Juni 1951 ist nur die Überschrift vor § 54 UStDB 1938 gestrichen und § 54 Abs. 2 UStDB 1938 geändert worden. § 54 Abs. 1 UStDB 1938 wurde nicht geändert, so daß § 59 Abs. 1 UStDB 1951 mit ihm identisch ist und nach wie vor auf der alten Ermächtigung beruht.
4. Schließlich stützt der Bundesfinanzhof sein Urteil darauf, § 59 Abs. 1 UStDB sei nachkonstitutionelles Recht und beruhe auf den neuen Ermächtigungen, weil die Bundesregierung als Verordnunggeber die alte Vorschrift bei Erlaß der Verordnung vom 29. Juni 1951 in ihren Willen aufgenommen habe.
Die „Aufnahme in den Willen des Gesetzgebers” hat in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bedeutung nur für die Frage der Zulässigkeit der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG und nur für formelle Gesetze (BVerfGE 1, 184 [195 ff.]; 2, 124 [127 ff.]; 4, 178 [188]; 9, 39 [46]; 10, 129). Die Wertung eines vor Erlaß des Grundgesetzes ergangenen Gesetzes als nachkonstitutionell für den Bereich des richterlichen Prüfungsrechts hat schon für diese Gesetze nicht die Folge, daß sie durch „Aufnahme in den Willen des Gesetzgebers” neu in Kraft treten (vgl. BVerfGE 11, 255 [259 f.]). Für Verordnungen ergibt sich daraus, daß, auch wenn der Verordnunggeber von 1951 den § 54 Abs. 1 UStDB 1938 „in seinen Willen auf genommen” hätte, die Vorschrift doch nach wie vor auf den reichsrechtlichen Ermächtigungen beruht. Die „Aufnahme in den Willen” des Verordnunggebers könnte nicht bewirken, daß § 54 Abs. 1 UStDB 1938 seine ursprüngliche reichsrechtliche Ermächtigungsgrundlage verliert und ihm eine neue Grundlage (hier §§ 8, 18 Abs. 1 Ziff. 1 UStG 1951) unterschoben wird, von der die Bundesregierung in Beziehung auf diese Bestimmung keinen Gebrauch gemacht hat.
IV.
Der heute als § 59 Abs. 1 UStDB 1951 angewandte § 54 Abs. 1 UStDB 1938 könnte nach dem 7. September 1949 infolge der Änderung der Verhältnisse allenfalls dann wegen eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatz verfassungswidrig geworden sein, wenn festgestellt werden könnte, daß sich seither ein grundlegender Wandel der Verhältnisse vollzogen hätte, auf die sich die Regelung bezieht, und daß als Folge dieses Wandels die ursprünglich gerechtfertigte Regelung offensichtlich sachwidrig geworden wäre. Ferner müßte festgestellt werden, daß dieser Wandel nicht nur von vorübergehender Dauer sein wird. Ein derartiger Strukturwandel seit Inkrafttreten des Grundgesetzes ist in der Textilwirtschaft jedoch nicht feststellbar. Die Regelung des § 54 Abs. 1 UStDB 1938 ist darum auch heute nicht willkürlich; sie verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz.
§ 54 Abs. 1 UStDB 1938, heute angewandt als § 59 Abs. 1 UStDB 1951, ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
Fundstellen
BStBl I 1961, 432 |
BVerfGE, 341 |
NJW 1961, 1395 |
DVBl. 1962, 230 |