Entscheidungsstichwort (Thema)
Umsatzsteuerhinterziehung durch vorgetäuschte innergemeinschaftliche Lieferungen von Gebraucht-Pkw
Leitsatz (redaktionell)
1. Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit vor Tatbegehung gesetzlich bestimmt war. Die Bedeutung dieser Verfassungsnorm erschöpft sich nicht im Verbot der gewohnheitsrechtlichen oder rückwirkenden Strafbegründung. Die Gerichte müssen in Fällen, die vom Wortlaut einer Strafnorm nicht mehr gedeckt sind, zum Freispruch gelangen und dürfen nicht korrigierend eingreifen. Ausgeschlossen ist jede Rechtsanwendung, die tatbestandserweiternd über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Entsprechendes gilt für die tatbestandseinschränkende Auslegung von Vorschriften, die die Strafbarkeit ausschließen. Dabei ist der mögliche Wortlaut als äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation aus der Sicht des Normadressaten zu bestimmen.
2. § 370 Abs. 1 AO ist eine Blankettstrafnorm, die durch die Vorschriften der AO und die Vorschriften der Einzelsteuergesetze ausgefüllt wird. Daher ist auch die Auslegung und Anwendung der ausfüllenden steuerrechtlichen Vorschriften am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen.
3. Die Auslegung des § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG durch den BGH ist mit dem aus Sicht des Normadressaten möglichen Wortsinn vereinbar. Das Normgefüge des UStG weist darauf hin, dass zumindest im Grundsatz entweder bereits die Erfüllung der Nachweispflichten Voraussetzung der Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen ist oder dass die Steuerbefreiung jedenfalls nicht greift, wenn die Erwerbsbesteuerung im anderen Mitgliedstaat unterlaufen wird.
4. Die Vortäuschung innergemeinschaftlicher Lieferungen führt zu einer USt-Hinterziehung im Bundesgebiet.
5. Steuerpflichtigen ist es regelmäßig möglich und zumutbar, aus ihrer Sicht bestehende offene Rechtsfragen nach Aufdeckung des vollständigen und wahren Sachverhalts im Besteuerungsverfahren zu klären, statt auf das Bestehen einer vermeintlichen Strafbarkeitslücke zu hoffen.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 2; AO § 370 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 6; EWGRL 388/77 Art. 28c Teil A Buchst. a; UStDV §§ 17, 17a Abs. 1, § 17c Abs. 1; UStG § 4 Nr. 1b, § 6a Abs. 1 S. 1 Nr. 3, Abs. 3 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Die einstweilige Anordnung wird mit der Entscheidung in der Hauptsache gegenstandslos.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen Verurteilungen wegen Hinterziehung von Umsatzsteuer.
A.
I.
Am 28. November 2007 verurteilte das Landgericht München II die Beschwerdeführer jeweils wegen Steuerhinterziehung in vierzehn Fällen und versuchter Steuerhinterziehung in zwei Fällen.
1. Das Landgericht traf unter anderem folgende Feststellungen: Die Beschwerdeführer betrieben in der Rechtsform einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts einen Handel mit gebrauchten Personenkraftwagen, die sie fast ausschließlich an gewerblich tätige Kunden in Italien veräußerten und lieferten. An diese richteten die Beschwerdeführer jedoch keine Rechnungen. Vielmehr stellten sie die Ausgangsrechnungen in Absprache mit ihren Abnehmern auf Scheinkäufer in Italien aus. Diese veräußerten die Fahrzeuge wiederum zum Schein an Zwischenhändler in Italien, die anschließend Rechnungen mit offen ausgewiesener italienischer Umsatzsteuer an die tatsächlichen Abnehmer der Beschwerdeführer stellten, um diesen in Italien den Vorsteuerabzug zu ermöglichen. Die Beschwerdeführer wussten, „dass die Fahrzeuge keineswegs an die in den Übergabeprotokollen angegebenen Orte transportiert wurden, sondern entweder nach … oder unmittelbar an einen Abnehmer …, und dass die angeblichen Importeure nur zum Schein dazwischen geschaltet waren, um dem eigentlichen Importeur den Vorsteuerabzug zu ermöglichen, ohne dass die Umsatzsteuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb angemeldet oder abgeführt wird”.
2. Zum Vorsatz hinsichtlich der Veräußerungen nach Italien führte das Landgericht aus: „Nach den Gesamtumständen gewinnt die Kammer die Überzeugung, dass die Angeklagten gewusst haben, dass sie Teil von vielfältigen Streckengeschäften waren, in der hochpreisliche Fahrzeuge teils durch Vortäuschen innergemeinschaftlicher Lieferungen, durch die Ausnutzung der Steuerfreiheit innergemeinschaftlicher Lieferungen und Vorsteuererstattungen, denen aber keine Steuerabführungen entgegenstanden, von Deutschland nach Italien verbracht und dort letztlich an Endabnehmer verkauft wurden”. Aus der Beweiswürdigung des Landgerichts ergibt sich weiter, dass die Beschwerdeführer in ihren Bürounterlagen Kopien einer Kommentierung des § 6a UStG mit Markierungen sowie einer einschlägigen finanzgerichtlichen Entscheidung aufbewahrten.
3. Nach der rechtlichen Würdigung des Landgerichts machten die Beschwerdeführer im Tatzeitraum vom 22. November 2004 bis zum 12. März 2006 in den Umsatzsteuerjahreserklärungen für die Besteuerungszeiträume 2003 und 2004 sowie in den monatlichen Umsatzsteuervoranmeldungen für Januar 2005 bis Februar 2006 jeweils unrichtige Angaben. Die Veräußerungen nach Italien hätten die Beschwerdeführer „zu Unrecht als umsatzsteuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen behandelt, weil der nach steuerlichen Vorschriften erforderliche buchmäßige Nachweis der Lieferung an den Rechnungsempfänger fehlte und die Rechnungsempfänger, wie die Angeklagten wussten, nur dazwischengeschaltet worden waren, um dem Empfänger der Lieferung den Vorsteuerabzug zu ermöglichen, ohne dass auf der Empfängerseite die Erwerbsbesteuerung durchgeführt wurde”. Der nach § 6a Abs. 3 Satz 1 UStG, §§ 17a ff. UStDV erforderliche Nachweis der Lieferung an den Rechnungsempfänger sei materiell-rechtliche Voraussetzung der Steuerbefreiung. Auf den Gutglaubensschutz nach § 6a Abs. 4 UStG könnten sich die Beschwerdeführer nicht berufen, „weil sie um die Rolle der … als bloße Beschaffer eines Vorsteuererstattungsanspruchs … wussten”. Die Beschwerdeführer hätten falsche Angaben zu den innergemeinschaftlichen Lieferungen gemacht, weil sie verschwiegen hätten, dass tatsächliche Abnehmer ihrer Lieferungen nicht die sich aus den Rechnungen ergebenden Unternehmen gewesen seien.
II.
1. Der Bundesgerichtshof verwarf die Revisionen der Beschwerdeführer als unbegründet (BGH, Beschluss vom 20. November 2008 – 1 StR 354/08 –, BGHSt 53, 45).
Die Lieferungen nach Italien seien nicht gemäß § 4 Nr. 1b, § 6a UStG steuerfrei gewesen. Die Lieferung von Gegenständen an einen Abnehmer im übrigen Gemeinschaftsgebiet stelle keine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung im Sinne des § 6a UStG dar, wenn der inländische Unternehmer in kollusivem Zusammenwirken mit dem Abnehmer die Lieferung an einen Zwischenhändler vortäusche, um dem Abnehmer die Hinterziehung von Steuern zu ermöglichen. Würden diese Lieferungen durch die inländischen Unternehmer gleichwohl als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung erklärt, mache der Unternehmer gegenüber den Finanzbehörden unrichtige Angaben im Sinne von § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO und verkürze dadurch die auf die Umsätze anfallende und geschuldete Umsatzsteuer.
Der Bundesgerichtshof führte unter Hinweis auf eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFHE 219, 469), die im Anschluss an eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH, Urteil vom 27. September 2007, Rs. C-146/05, Collée, Slg. 2007, S. I-7861) ergangen war, aus, dass die Erfüllung der Nachweispflichten nach § 6a Abs. 1 und Abs. 2 UStG, § 17a Abs. 1, § 17c Abs. 1 UStDV grundsätzlich keine materielle Voraussetzung der Steuerbefreiung sei. Soweit in der bisherigen Rechtsprechung im Anschluss an die damalige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH, Beschluss vom 2. April 1997 – V B 159/96 –, BFH/NV 1997, S. 629) auch in steuerstrafrechtlicher Hinsicht von anderen Grundsätzen ausgegangen worden sei (BGH, Urteil vom 12. Mai 2005 – 5 StR 36/05 –, NJW 2005, S. 2241), werde diese angesichts der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesfinanzhofs aufgegeben.
Gleichwohl sei zu Recht das Vorliegen einer steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung verneint worden. Lieferungen an die angeblichen Zwischenhändler hätten nicht stattgefunden, es habe sich um Scheingeschäfte gehandelt. Hinsichtlich der tatsächlich durchgeführten Lieferungen hätten die Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG nicht vorgelegen. Allerdings sei grundsätzlich nicht Voraussetzung, dass der Gegenstand des Erwerbs tatsächlich besteuert werde; den inländischen Unternehmer träfen insoweit auch keine Nachweispflichten. Bei der Auslegung des § 6a Abs. 1 UStG seien jedoch die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben der zur Tatzeit geltenden Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie – ABl EG Nr. L 145/1) zu beachten. Eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Gemeinschaftsrecht sei nicht erlaubt, Vorteile aus solchen Umsätzen müssten versagt werden. Danach sei § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG gemeinschaftsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass der Erwerb des Gegenstands einer Lieferung beim Abnehmer dann nicht den Vorschriften der Umsatzbesteuerung in einem anderen Mitgliedstaat unterliege, wenn die im Bestimmungsland vorgesehene Erwerbsbesteuerung der konkreten Lieferung nach dem übereinstimmenden Willen von Unternehmer und Abnehmer durch Verschleierungsmaßnahmen und falsche Angaben gezielt umgangen werden solle, um dem Unternehmer oder dem Abnehmer einen ungerechtfertigten Steuervorteil zu verschaffen. Anderes gelte, wenn die Verschleierungsmaßnahme anderen Zwecken diene. Eine Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof bestehe nicht, da die maßgeblichen gemeinschaftsrechtlichen Fragen bereits Gegenstand einer Auslegung durch diesen gewesen seien.
Durch die daher wahrheitswidrigen Erklärungen als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen in den Umsatzsteuerjahreserklärungen und Umsatzsteuervoranmeldungen sei somit die nach deutschem Recht von den Beschwerdeführern auszuweisende und abzuführende Umsatzsteuer hinterzogen worden. Den Beschwerdeführern werde demgemäß auch nicht die Beteiligung an einer Umsatzsteuerhinterziehung in Italien vorgeworfen.
2. Die Anhörungsrügen der Beschwerdeführer wies der Bundesgerichtshof durch Beschluss vom 5. Februar 2009 zurück.
III.
Einzelne Finanzgerichte und der Bundesfinanzhof (BFHE 226, 449) äußerten Zweifel an der Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs. Nach einer entsprechenden Entscheidung eines Finanzgerichts legte der Bundesgerichtshof im Rahmen eines anderen Revisionsverfahrens dem Europäischen Gerichtshof betreffend Art. 28c Teil A Buchstabe a der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (ABl EG Nr. L 145/1) folgende Frage vor (BGH, Beschluss vom 7. Juli 2009 – 1 StR 41/09 –, DStR 2009, S. 1688 = wistra 2009, S. 441):
„Ist Art. 28c Teil A Buchstabe a der Sechsten Richtlinie in dem Sinne auszulegen, dass einer Lieferung von Gegenständen im Sinne dieser Vorschrift die Befreiung von der Mehrwertsteuer zu versagen ist, wenn die Lieferung zwar tatsächlich ausgeführt worden ist, aber aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass der steuerpflichtige Verkäufer
- wusste, dass er sich mit der Lieferung an einem Warenumsatz beteiligt, der darauf angelegt ist, Mehrwertsteuer zu hinterziehen, oder
- Handlungen vorgenommen hat, die darauf abzielten, die Person des wahren Erwerbers zu verschleiern, um diesem oder einem Dritten zu ermöglichen, Mehrwertsteuer zu hinterziehen?”
Auf diese Vorlage entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH, Urteil vom 7. Dezember 2010, Rs. C-285/09, R., NJW 2011, S. 203):
„Demzufolge ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, wenn also eine innergemeinschaftliche Lieferung von Gegenständen tatsächlich stattgefunden hat, der Lieferer jedoch bei der Lieferung die Identität des wahren Erwerbers verschleiert hat, um diesem zu ermöglichen, die Mehrwertsteuer zu hinterziehen, der Ausgangsmitgliedstaat der innergemeinschaftlichen Lieferung aufgrund der ihm nach dem ersten Satzteil von Art. 28c Teil A Buchstabe a der 6. EG-Richtlinie zustehenden Befugnisse die Mehrwertsteuerbefreiung für diesen Umsatz versagen kann.”
IV.
In der bereits zur Tatzeit geltenden Fassung lauten § 4 Nr. 1b, § 6a UStG:
§ 4 Steuerbefreiungen bei Lieferungen und sonstigen Leistungen
Von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 fallenden Umsätzen sind steuerfrei:
- …
- die innergemeinschaftlichen Lieferungen (§ 6a);
…
§ 6a Innergemeinschaftliche Lieferung
(1) Eine innergemeinschaftliche Lieferung (§ 4 Nr. 1 Buchstabe b) liegt vor, wenn bei einer Lieferung die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:
- Der Unternehmer oder der Abnehmer hat den Gegenstand der Lieferung in das übrige Gemeinschaftsgebiet befördert oder versendet;
der Abnehmer ist
- ein Unternehmer, der den Gegenstand der Lieferung für sein Unternehmen erworben hat,
- eine juristische Person, die nicht Unternehmer ist oder die den Gegenstand der Lieferung nicht für ihr Unternehmen erworben hat, oder
- bei der Lieferung eines neuen Fahrzeugs auch jeder andere Erwerber
und
- der Erwerb des Gegenstands der Lieferung unterliegt beim Abnehmer in einem anderen Mitgliedstaat den Vorschriften der Umsatzbesteuerung.
Der Gegenstand der Lieferung kann durch Beauftragte vor der Beförderung oder Versendung in das übrige Gemeinschaftsgebiet bearbeitet oder verarbeitet worden sein.
(2) Als innergemeinschaftliche Lieferung gilt auch das einer Lieferung gleichgestellte Verbringen eines Gegenstands (§ 3 Abs. 1a).
(3) Die Voraussetzungen der Absätze 1 und 2 müssen vom Unternehmer nachgewiesen sein. Das Bundesministerium der Finanzen kann mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung bestimmen, wie der Unternehmer den Nachweis zu führen hat.
(4) Hat der Unternehmer eine Lieferung als steuerfrei behandelt, obwohl die Voraussetzungen nach Absatz 1 nicht vorliegen, so ist die Lieferung gleichwohl als steuerfrei anzusehen, wenn die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung auf unrichtigen Angaben des Abnehmers beruht und der Unternehmer die Unrichtigkeit dieser Angaben auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte. In diesem Fall schuldet der Abnehmer die entgangene Steuer.
Durch die Neubekanntmachung des Umsatzsteuergesetzes vom 21. Februar 2005 (BGBl I S. 386) wurde in § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 2 UStG jeweils „Gegenstandes” durch „Gegenstands” ersetzt.
In der zur Tatzeit geltenden Fassung lautete § 370 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 6 AO:
§ 370 Steuerhinterziehung
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer
- den Finanzbehörden oder anderen Behörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht,
- …
- …
und dadurch Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt.
(2) …
(3) …
(4) …
(5) …
(6) Die Absätze 1 bis 5 gelten auch dann, wenn sich die Tat auf Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben bezieht, die von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften verwaltet werden oder die einem Mitgliedstaat der Europäischen Freihandelsassoziation oder einem mit dieser assoziierten Staat zustehen. Das Gleiche gilt, wenn sich die Tat auf Umsatzsteuern oder auf harmonisierte Verbrauchsteuern, für die in Artikel 3 Abs. 1 der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 (ABl. EG Nr. L 76 S. 1) genannten Waren bezieht, die von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften verwaltet wird. Die in Satz 2 bezeichneten Taten werden nur verfolgt, wenn die Gegenseitigkeit zur Zeit der Tat verbürgt und dies in einer Rechtsverordnung nach Satz 4 festgestellt ist. Das Bundesministerium der Finanzen wird ermächtigt, mit Zustimmung des Bundesrates in einer Rechtsverordnung festzustellen, im Hinblick auf welche Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften Taten im Sinne des Satzes 2 wegen Verbürgung der Gegenseitigkeit zu verfolgen sind.
(7) …
Durch das Jahressteuergesetz 2010 vom 8. Dezember 2010 (BGBl I S. 1768) wurden § 370 Absatz 6 Satz 3 und 4 AO aufgehoben.
Entscheidungsgründe
B.
I.
Die Beschwerdeführer greifen mit ihrer Verfassungsbeschwerde die Beschlüsse des Bundesgerichtshofs vom 20. November 2008 und vom 5. Februar 2009 an. Sie rügen unter anderem eine Verletzung des Art. 103 Abs. 2 GG.
Die Auslegung des § 6a UStG durch den Bundesgerichtshof sei mit den Vorgaben der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie nicht zu vereinbaren. Unabhängig davon verstoße die Auslegung gegen den Wortlaut. Die Änderung des § 370 Abs. 6 AO durch das Jahressteuergesetz 2010 bestätige den Verstoß gegen das Analogieverbot; der Gesetzgeber habe ersichtlich eine Strafbarkeitslücke schließen wollen.
II.
Am 23. Juli 2009 erließ die 2. Kammer des Zweiten Senats auf Antrag der Beschwerdeführer eine einstweilige Anordnung, durch die die Vollstreckung der Freiheitsstrafen aus dem Urteil des Landgerichts München II vom 28. November 2007 ausgesetzt wurde. Die einstweilige Anordnung wurde mehrfach wiederholt.
C.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche Bedeutung zu, noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪24 ff.≫; 96, 245 ≪248 ff.≫).
I.
Die Bestätigung des Schuldspruchs durch den Bundesgerichtshof ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
1. Die Auslegung des § 6a UStG durch den Bundesgerichtshof verstößt nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG.
a) Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Die Bedeutung dieser Verfassungsnorm erschöpft sich nicht im Verbot der gewohnheitsrechtlichen oder rückwirkenden Strafbegründung. Art. 103 Abs. 2 GG enthält für die Gesetzgebung ein striktes Bestimmtheitsgebot sowie ein damit korrespondierendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie (BVerfGE 14, 174 ≪185≫; 73, 206 ≪234≫; 75, 329 ≪340≫; 126, 170 ≪194≫). Den Gerichten ist es verwehrt, die Entscheidung des Gesetzgebers zu korrigieren (BVerfGE 92, 1 ≪13≫; 126, 170 ≪197≫). Sie müssen in Fällen, die vom Wortlaut einer Strafnorm nicht mehr gedeckt sind, zum Freispruch gelangen und dürfen nicht korrigierend eingreifen (BVerfGE 64, 389 ≪393≫; 126, 170 ≪197≫). Ausgeschlossen ist jede Rechtsanwendung, die – tatbestandsausweitend – über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Entsprechendes gilt für die tatbestandseinschränkende Auslegung von Vorschriften, die die Strafbarkeit ausschließen (BVerfGK 9, 420 ≪421≫). Dabei ist der mögliche Wortlaut als äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation aus der Sicht des Normadressaten zu bestimmen (BVerfGE 71, 108 ≪115≫; 82, 236 ≪269≫; 92, 1 ≪12≫; 126, 170 ≪197≫). Für die Bestimmung des möglichen Wortsinns können auch gesetzessystematische und teleologische Erwägungen von Bedeutung sein (BVerfGK 3, 302 ≪303 ff.≫; 9, 420 ≪421 ff.≫; 10, 442 ≪447 ff.≫; 14, 177 ≪182 ff.≫).
Bei Blankettstrafgesetzen unterliegen neben der Strafnorm auch die sie ausfüllenden Vorschriften den sich aus Art. 103 Abs. 2 GG ergebenden Anforderungen (BVerfGE 37, 201 ≪209≫; 75, 329 ≪342, 344 ff.≫). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts handelt es sich bei § 370 Abs. 1 AO um eine solche Blankettstrafnorm, die durch die Vorschriften der Abgabenordnung und die Vorschriften der Einzelsteuergesetze ausgefüllt wird (BVerfGE 37, 201 ≪206 ff.≫ zu § 392 Abs. 1 Satz 1 AO a.F.; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Oktober 1990 – 2 BvR 385/87 –, NJW 1992, S. 35; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Juni 1994 – 2 BvR 1084/94 –, NJW 1995, S. 1883; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Februar 2003 – 2 BvR 150/03 –, juris, zu § 6a UStG; offen gelassen im Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 29. April 2010 – 2 BvR 871/04, 2 BvR 414/08 –, wistra 2010, S. 396 ≪403≫). Daher ist auch die Auslegung und Anwendung der ausfüllenden steuerrechtlichen Vorschriften am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen (BVerfGK 14, 12 ≪15 ff.≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Juni 1994 – 2 BvR 1084/94 –, NJW 1995, S. 1883). Der Bundesgerichtshof geht ebenfalls davon aus, dass es sich bei § 370 Abs. 1 AO um eine Blankettstrafnorm handelt, die durch die Vorschriften der Einzelsteuergesetze ausgefüllt wird (vgl. neben der angegriffenen Entscheidung BGHSt 53, 45 ≪53≫ noch BGHSt 34, 272 ≪282≫; 47, 138 ≪140 f.≫; 53, 221 ≪229≫; offen gelassen in BGHSt 37, 266 ≪272≫).
b) Die Auslegung des § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG durch den Bundesgerichtshof ist mit dem aus Sicht des Normadressaten möglichen Wortsinn vereinbar.
aa) Die Auslegung des Bundesgerichtshofs ist bei isolierter Betrachtung des § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG mit dessen Wortlaut noch vereinbar. Die Tatbestandsvoraussetzung, dass der Erwerb des Gegenstands der Lieferung beim Abnehmer in einem anderen Mitgliedstaat „den Vorschriften der Umsatzbesteuerung” „unterliegt”, kann zwar im dem Sinne verstanden werden, dass lediglich die Existenz entsprechender Vorschriften erforderlich ist. Ebenso möglich ist jedoch das Verständnis, dass der Erwerb beim Abnehmer diesen Vorschriften tatsächlich unterworfen wird. Dies wäre dann nicht der Fall, wenn der Abnehmer die Erwerbsbesteuerung gezielt umgeht.
bb) Abweichendes ergibt sich nicht aus systematischen Erwägungen, die gerade im Steuerrecht erhebliche Bedeutung für das Verständnis einer Norm haben können.
Aus der Systematik des Umsatzsteuergesetzes ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die Steuerbefreiung des Lieferanten ohne Rücksicht auf die Durchführung der Erwerbsbesteuerung des Abnehmers im anderen Mitgliedstaat eingreifen muss. Der Befreiungstatbestand des § 4 Nr. 1b UStG verweist auf den gesamten § 6a UStG und damit auch auf die Nachweispflichten in § 6a Abs. 3 UStG. Daraus kann geschlossen werden, dass das Eingreifen der Steuerbefreiung auch die Erfüllung der Nachweispflichten voraussetzt. Die Nachweispflichten in § 6a Abs. 3 UStG beziehen sich auf den gesamten § 6a Abs. 1 UStG. Es erscheint jedoch kaum sinnvoll, dass der Steuerpflichtige gemäß § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Abs. 3 UStG der Finanzverwaltung ausländische Regelungen zur Erwerbsbesteuerung nachweist. Näher liegt die Erwägung, dass die Erwerbsbesteuerung im anderen Mitgliedstaat (auch) durch die Erfüllung der Nachweispflichten gewährleistet werden soll. Somit deutet das Normgefüge des Umsatzsteuergesetzes darauf hin, dass zumindest im Grundsatz entweder bereits die Erfüllung der Nachweispflichten Voraussetzung der Steuerbefreiung ist oder dass die Steuerbefreiung jedenfalls nicht eingreift, wenn die Erwerbsbesteuerung im anderen Mitgliedstaat unterlaufen wird.
As der zur Tatzeit geltenden und aus der aktuellen Fassung des § 370 Abs. 6 AO lassen sich keine Schlüsse ziehen, da diese Vorschrift ausschließlich die Strafbarkeit der Hinterziehung ausländischer Umsatz- und Verbrauchsteuern betrifft (vgl. zu möglichen Auswirkungen der Neuregelung Tully/Merz, wistra 2011, S. 121). Insbesondere ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien zum Jahressteuergesetz 2010 nicht, dass der Gesetzgeber die Auslegung des § 6a UStG durch den Bundesgerichtshof für unzutreffend oder nicht zulässig hielt und die Strafbarkeit von Verhaltensweisen, wie sie hier in Rede stehen, auf anderem Wege gewährleisten wollte (vgl. BTDrucks 17/2249, S. 88).
cc) Die Auslegung des Bundesgerichtshofs entspricht weiter der zwischenzeitlich erfolgten verbindlichen Auslegung der zur Tatzeit geltenden Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH, Urteil vom 7. Dezember 2010, Rs. C-285/09, R., NJW 2011, S. 203). Diese Auslegung der Richtlinie unterliegt nur eingeschränkter verfassungsgerichtlicher Überprüfung (vgl. BVerfGE 126, 286 ≪300 ff.≫); nach diesem Maßstab ist sie nicht zu beanstanden.
2. Die Verwerfung der Revisionen ist auch nicht deshalb verfassungsrechtlich zu beanstanden, weil der Bundesgerichtshof den Schuldspruch mit einer Begründung bestätigt hat, die von früheren fachgerichtlichen Entscheidungen abgewichen ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 16. Mai 2011 – 2 BvR 1230/10 –).
Es bestand keine Grundlage für ein etwaiges Vertrauen der Beschwerdeführer darauf, dass ihr Verhalten nicht zum Entfall der Steuerbefreiung führt und keine Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung nach sich zieht. Auch nach den bis zur Tatzeit ergangenen Entscheidungen der Fachgerichte, denen sich das Landgericht München II im Urteil vom 28. November 2007 angeschlossen hatte, hätten die Voraussetzungen der Steuerbefreiung nicht vorgelegen und die Beschwerdeführer hätten sich wegen Hinterziehung deutscher Umsatzsteuer strafbar gemacht (vgl. BFHE 199, 80; BGH, Urteil vom 12. Mai 2005 – 5 StR 36/05 –, NJW 2005, S. 2241). Entsprechend entschieden die Fachgerichte zur Steuerbefreiung bei Ausfuhrlieferungen (vgl. BFHE 130, 118; BGHSt 31, 248; BGH, Beschluss vom 4. Januar 1989 – 3 StR 415/88 –, UR 1990, S. 26 = wistra 1989, S. 190; dazu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. März 1989 – 2 BvR 162/89 u.a. –, DStZ/E 1989, S. 142).
Auch dem noch im Tatzeitraum ergangenen Vorlagebeschluss des Bundesfinanzhofs (BFH, Beschluss vom 10. Februar 2005 – V R 59/03 –, BFHE 208, 502) hätten die Beschwerdeführer nicht entnehmen können, dass die Voraussetzungen der Steuerbefreiung vorliegen und keine Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung besteht. Der Bundesgerichtshof wies außerdem kurz nach diesem Vorlagebeschluss in einer Entscheidung ausdrücklich darauf hin, dass jedenfalls in Sachverhaltskonstellationen wie der vorliegenden an der bisherigen Rechtsprechung festzuhalten sei (BGH, Urteil vom 12. Mai 2005 – 5 StR 36/05 –, NJW 2005, S. 2241 ≪2241 f.≫). Auch nach der auf die Vorlage des Bundesfinanzhofs ergangenen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urteil vom 27. September 2007, Rs. C-146/05, Collée, Slg. 2007, S. I-7861) wurden vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich beurteilt (vgl. einerseits OLG Karlsruhe, Beschluss vom 30. Juli 2008 – 3 Ws 300/08 –, juris; Merkt, UR 2008, S. 757 ≪764, 772≫; andererseits Wulf, Stbg 2008, S. 328 ≪330≫).
Unabhängig davon ist es Steuerpflichtigen regelmäßig möglich und zumutbar, aus ihrer Sicht bestehende offene Rechtsfragen nach Aufdeckung des vollständigen und wahren Sachverhalts im Besteuerungsverfahren zu klären, statt auf das Bestehen einer vermeintlichen Strafbarkeitslücke zu hoffen (vgl. BVerfGK 13, 544 ≪550≫; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 16. März 2006 – 2 BvR 954/02 –, NJW 2006, S. 2684 ≪2686≫; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 29. April 2010 – 2 BvR 871/04, 2 BvR 414/08 –, wistra 2010, S. 396 ≪404≫).
II.
Die einstweilige Anordnung wird mit der Entscheidung in der Hauptsache gegenstandslos.
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Voßkuhle, Gerhardt, Landau
Fundstellen
Haufe-Index 2729703 |
BFH/NV 2011, 1820 |
DStRE 2012, 379 |
HFR 2011, 1145 |
UR 2011, 775 |
NJW 2011, 3778 |
wistra 2011, 458 |
AO-StB 2012, 24 |
Ubg 2012, 273 |