Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine einstweilige Anordnung das Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse für einen Übergangszeitraum auszusetzen
Leitsatz (redaktionell)
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gegen das am 1. April 1999 in Kraft getretene Gesetz zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse (630 DM-Gesetz) ist unzulässig, weil die antragstellenden Zeitungsverlage und verlagseigenen Zustellgesellschaften nicht in einer §§ 23, 92 BVerfGG entsprechenden Weise dargelegt haben, daß sie durch das Fehlen einer Übergangsregelung in ihrem Grundrecht auf Pressefreiheit verletzt sind; damit ist aber nicht von vornherein ausgeschlossen, daß das "630 DM-Gesetz" das Grundrecht der Pressefreiheit berührt, wobei auch der Vertrieb von Tageszeitungen den Schutz dieses Grundrechts genießt.
Normenkette
GG Art. 5 Abs. 1 S. 2; BeschNeuRG; BVerfGG § 32 Abs. 1, § 90 Abs. 1, 2 S. 1, §§ 92, 23
Tenor
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung wird zurückgewiesen.
Tatbestand
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung betrifft das am 1. April 1999 in Kraft getretene Gesetz zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse vom 24. März 1999 (BGBl I S. 388).
I.
1. Die Antragsteller sind Zeitungsverlage sowie verlagseigene Zustellgesellschaften, die den Vertrieb der in den Verlagen erscheinenden regionalen Tageszeitungen besorgen. Die Antragsteller vertreiben die Zeitungen vornehmlich im Wege der Botenzustellung. Die Mehrzahl der eingesetzten Zeitungsboten arbeitet in sogenannten „geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen” (630 DM-Jobs).
2. Die Antragsteller begehren vom Bundesverfassungsgericht, das Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse auszusetzen. Sie sehen sich in ihrem Grundrecht auf Pressefreiheit dadurch verletzt, daß das Gesetz ohne Übergangsregelung in Kraft getreten sei. Im wesentlichen tragen sie zur Begründung ihres Antrags vor:
a) Sie seien für den Vetrieb ihrer Tageszeitungen auf eine Zustellung durch Boten angewiesen. Es liege in der Eigenart der Zustelltätigkeit, die frühmorgens zwischen 3.30 Uhr und 6.00 Uhr verrichtet werden müsse, daß die Zusteller in „geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen” arbeiteten. Nach bisheriger Rechtslage sei es prägend für diese Arbeitsverhältnisse gewesen, daß die Arbeitgeber die auf den Zustellerlohn entfallende Lohnsteuer pauschaliert abgeführt hätten und weder die Zusteller noch die Zeitungsverlage als Arbeitgeber verpflichtet gewesen seien, Beiträge zur Sozialversicherung zu leisten. Die Zusteller hätten dementsprechend – unabhängig von ihren sonstigen Einkünften und Arbeitsverhältnissen – für ihre Tätigkeit den Trägerlohn ungeschmälert erhalten. Diese Bezahlung „brutto für netto” sei für die meisten Zusteller die Motivation gewesen, ihre Arbeit zu verrichten.
Das Gesetz zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse habe die Rechtslage gravierend geändert. Nach der neuen Rechtslage sei das Arbeitsverhältnis grundsätzlich sozialversicherungs- und steuerpflichtig. Ein Zeitungsbote mit einem Bruttoverdienst von 600 DM bekomme folglich nunmehr nur noch etwa 330 DM ausbezahlt. Das Zustellentgelt sei nur unter engen Voraussetzungen lohnsteuerfrei, wobei das Finanzamt die Steuerfreistellung bescheinigen müsse. Ob die Voraussetzungen für eine Bescheinigung des Finanzamts über die Lohnsteuerfreiheit vorlägen, müsse in jedem Einzelfall geprüft werden. Es sei nicht damit zu rechnen, daß die Zeitungsboten diese Frage selbst beurteilen könnten. Die Rechtslage sei dermaßen kompliziert und verworren, daß sie als Arbeitgeber ihren Zeitungsboten Hilfe leisten müßten. Auch die Finanzverwaltung sei derzeit noch nicht in der Lage, Rat zur neuen Rechtslage zu erteilen. Sämtliche Zeitungsverlage müßten sich deshalb selbst mit den Problemen vertraut machen, die eigenen Mitarbeiter schulen und die notwendigen Unterlagen über jeden einzelnen Zusteller beschaffen, damit eine sachkundige Beratung gewährleistet werden könne. Zahlreiche weitere praktische Schwierigkeiten kämen hinzu. Das stelle sämtliche Zeitungsverlage vor kaum lösbare Probleme.
b) Aufgrund der gravierenden Änderungen der Rechtslage sei es nicht mehr sichergestellt, daß der vom Schutzbereich der Pressefreiheit erfaßte Vertrieb der Zeitungen in den nächsten Monaten gewährleistet werden könne. Ihnen sei nicht bekannt, wie viele ihrer Zusteller künftig in einem lohnsteuerfreien Arbeitsverhältnis arbeiten würden. Eine verläßliche Kalkulation ihrer Vertriebskosten sei nicht möglich. Ferner könnten sie nicht abschätzen, wie viele ihrer Angestellten überhaupt bereit seien, ihre Zustelltätigkeit auch unter der neuen gesetzlichen Regelung fortzusetzen. Zahlreiche Zusteller hätten im Licht der Gesetzesänderung bereits gekündigt oder ihre Kündigung angedroht. Allein durch eine Berufung auf Kündigungsfristen oder andere arbeitsvertragliche Verpflichtungen ihren Boten gegenüber sei ein reibungsloser Zustellservice nicht aufrechtzuerhalten.
Für sie und die anderen deutschen Tageszeitungsverlage habe sich die Situation damit „von einem Tag auf den anderen” dramatisch verändert. Es sei unklar, wie die arbeitsrechtliche Situation nach der gesetzlichen Neuregelung zu beurteilen sei. Ebensowenig sei abzusehen, in welcher Höhe finanzielle Mehrbelastungen angesichts der gesetzlichen Neuregelung anfielen, oder ob es zu gravierenden Veränderungen in der Vertriebsstruktur kommen müsse. Es helfe auch nicht, daß sie ihren Zustellern schließlich versichern könnten, die mit der gesetzlichen Neuregelung einhergehenden finanziellen Nachteile auszugleichen und diese Mehrbelastung an ihre Kunden weiterzureichen. Denn abgesehen davon, daß ungewiß sei, wie sich der einzelne Zusteller künftig verhalte, sei auch nicht abzusehen, wie hoch die finanzielle Belastung letztlich ausfalle.
c) Die Gefährdung der Zeitungszustellung resultiere daraus, daß das Gesetz zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse keine Übergangsvorschrift enthalte. Sie benötigten mindestens sechs Monate, um die Informationen einzuholen, die für eine Sicherung des Vertriebs vonnöten seien. Das Fehlen einer Übergangsvorschrift mache es ihnen unmöglich, sich auf die gesetzliche Neuregelung einzustellen. Dadurch habe der Gesetzgeber reglementierend und steuernd in die Pressefreiheit eingegriffen.
Das Fehlen einer Übergangsvorschrift lasse sich auch nicht dadurch rechtfertigen, daß sie während des Gesetzgebungsverfahrens hinreichend Zeit gehabt hätten, sich auf die veränderte Situation einzustellen. Die gesetzgeberischen Ziele hätten sich im Gesetzgebungsverfahren ständig verändert.
Schließlich verstoße das Fehlen einer Übergangsvorschrift gegen Art. 20 Abs. 3 GG. Es widerspreche dem Rechtsstaatsprinzip, für Arbeitsverhältnisse im Bereich der geringfügigen Beschäftigung gravierende Neuregelungen ohne Übergangsregelung unvermittelt in Kraft zu setzen und so den betroffenen Arbeitnehmern und Arbeitgebern die Chance zu nehmen, die unumgänglichen Anpassungen vorzunehmen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Voraussetzungen für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung liegen nicht vor.
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die (mögliche) Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muß das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre. Dabei ist ein besonders strenger Maßstab anzulegen, wenn eine gesetzliche Regelung außer Kraft gesetzt werden soll (vgl. BVerfGE 91, 252 ≪257 f.≫; stRspr).
2. Der Antrag ist unzulässig.
a) Allerdings ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, daß das Gesetz die Antragsteller in ihrem Grundrecht auf Pressefreiheit berührt.
Der Vertrieb von Tageszeitungen genießt den Schutz dieses Grundrechts. Er beschränkt sich nicht auf die unmittelbar inhaltsbezogenen Pressetätigkeiten, sondern erfaßt im Interesse einer ungehinderten Meinungsverbreitung auch inhaltsferne Hilfsfunktionen von Presseunternehmen (vgl. BVerfGE 77, 346 ≪354≫). Das ist auch der Fall, wenn es um eine selbständig ausgeübte, nicht die Herstellung von Presseerzeugnissen betreffende Hilfstätigkeit geht, die typischerweise pressebezogen ist, in enger organisatorischer Bindung an die Presse erfolgt und für das Funktionieren einer freien Presse notwendig ist, und wenn sich die staatliche Regulierung dieser Tätigkeit einschränkend auf die Meinungsverbreitung auswirkt (vgl. BVerfGE 77, 346 ≪354≫).
Gemessen daran fällt auch der Vertrieb von Tageszeitungen durch morgendliche Botenzustellung in den Schutzbereich der Pressefreiheit. Diese besondere Form des Zeitungsvertriebs ist gerade für Tageszeitungen, die in besonderer Weise aktualitätsbezogen sind, alternativlos, da der Kunde regelmäßig erwartet und den Kauf der Zeitung – das Abonnement – davon abhängig macht, daß er die Zeitung am frühen Morgen erhält. Weder eine (spätere) Postzustellung noch ein Verkauf an außerhäuslichen Verkaufsstellen könnte den Vertrieb einer Tageszeitung in gleicher Weise sicherstellen wie die morgendliche Botenzustellung.
Zwar hat das Gesetz nicht die Zustellung von Tageszeitungen durch Boten zum Gegenstand. Es verändert vielmehr nur die steuerrechtlichen und sozialrechtlichen Bedingungen, unter denen die sogenannten 630 DM-Jobs ausgeübt werden können. Da solche Beschäftigungsverhältnisse aber gerade bei der Zeitungszustellung üblich sind, ist es nach dem Vortrag der Antragsteller nicht ausgeschlossen, daß der von dem Grundrecht geschützte Vertrieb durch die Neuregelung beträchtlich erschwert wird.
b) Die Zulässigkeit der (möglichen) Verfassungsbeschwerde scheitert auch nicht an der fehlenden Rechtswegerschöpfung gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. Die Antragsteller müssen sich nicht darauf verweisen lassen, gegen die Anwendung des Gesetzes vorzugehen, denn die Voraussetzungen für die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gegen gesetzliche Regelungen (vgl. BVerfGE 90, 128 ≪135≫) liegen hier vor. Die Antragsteller sind durch das angegriffene Gesetz selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen.
Die grundrechtliche Beschwer liegt nach dem Vorbringen der Antragsteller darin, daß der Vertrieb ihrer Zeitungen infolge der neuen Rechtslage nicht mehr sichergestellt werden kann. Zwar ist es danach nicht schon die gesetzliche Regelung selbst, die den Zeitungsvertrieb durch Boten verhindert oder erschwert. Die Beschwer folgt vielmehr erst daraus, daß die Boten aufgrund der veränderten Bedingungen für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse ihre Tätigkeit nicht mehr als lohnend empfinden und daher aufgeben, ohne daß sich die Antragsteller schnell genug darauf einstellen können. Das genügt aber für die Unmittelbarkeit der Betroffenheit, denn der Entschluß der Boten ist kein hoheitlicher Anwendungsakt, gegenüber dem die Antragsteller ihre Grundrechte verteidigen könnten.
c) Die Antragsteller haben aber nicht in einer den §§ 23, 92 BVerfGG entsprechenden Weise dargelegt, daß sie gerade durch das Fehlen einer Übergangsregelung, welches sie allein rügen, in ihrem Grundrecht auf Pressefreiheit verletzt sind.
Es erscheint allerdings nicht zweifelhaft, daß die unverzügliche Inkraftsetzung des Gesetzes für die Antragsteller mit erheblichen Anpassungsschwierigkeiten verbunden ist. Auch ließ ihnen die schnelle und an Änderungen nicht arme Gesetzesvorbereitung keine ausreichende Zeit, sich rechtzeitig im voraus auf die neue Gesetzeslage einzustellen. Es spricht allerdings nichts dafür, daß die Zeitungszustellung aufgrund der Neuregelung bereits zusammengebrochen wäre oder in den nächsten Wochen und Monaten zusammenzubrechen droht. Die Boten sind durch Verträge an die Verlagshäuser oder Vertriebsgesellschaften gebunden, aus denen sie sich nicht von einem Moment zum anderen lösen können. Daß die zur Befolgung der Neuregelung erforderlichen Ermittlungen – nicht nur bei den Antragstellern, sondern auch bei Betroffenen anderer Gewerbezweige – Zeit erfordern, kann bei der Durchführung des Gesetzes seitens der zuständigen Behörden ausreichend beachtet werden. In der Zwischenzeit haben die Antragsteller jedenfalls die Möglichkeit, den Zeitungsboten das Bemühen um eine verträgliche Lösung der mit der Neuregelung einhergehenden Veränderungen in Aussicht zu stellen, auch wenn sich detaillierte Angaben dazu nicht sofort machen lassen. Daß es gleichwohl unabweisbar sein könnte, das Inkrafttreten des Gesetzes aufzuschieben, läßt sich dem Vortrag der Antragsteller nicht entnehmen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Grimm, Hömig
Fundstellen
HFR 1999, 575 |
NJW 1999, 2107 |
NWB 1999, 1706 |
EuGRZ 1999, 243 |
FA 1999, 267 |
NZA 1999, 583 |
AP, 0 |
AfP 1999, 258 |
ZUM 1999, 841 |
SozSi 2000, 36 |
www.judicialis.de 1999 |