Entscheidungsstichwort (Thema)
Bereinigung von SED-Unrecht Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz. politischer Gewahrsam. Entschädigungsleistung. Beihilferichtlinien. Außenwirkung von Verwaltungsrichtlinien. Gleichheitssatz. Vertrauensgrundsatz
Leitsatz (amtlich)
Beihilfen, die aufgrund der Richtlinien für die Gewährung von Beihilfen an ehemalige politische Häftlinge aus der sowjetischen Besatzungszone und ihr gleichgestellten Gebieten (sog. “Beihilferichtlinien”) vom 9. November 1955 gezahlt worden sind, unterliegen der Anrechnungspflicht nach § 17 Abs. 2 StrRehaG.
Normenkette
StrRehaG § 17 Abs. 1-2; HHG § 9a Abs. 1, 4 (§ 9a Abs. 2 a.F.)
Verfahrensgang
OVG Berlin (Beschluss vom 18.03.2002; Aktenzeichen 6 B 2.99) |
VG Berlin (Urteil vom 08.09.1997; Aktenzeichen 26 A 2.95) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin vom 18. März 2002 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
I.
Die Parteien streiten über den Umfang der dem Kläger zustehenden sozialen Ausgleichsleistungen nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz – StrRehaG –.
Nachdem der Rechtsstreit zum ganz überwiegenden Teil durch das rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 8. September 1997 seine Erledigung gefunden hat, ist Gegenstand des Verfahrens nur noch ein vom Kläger begehrter zusätzlicher Betrag von 4 400 DM.
Der Kläger befand sich von Anfang 1949 bis Mai 1956 aufgrund einer Verurteilung durch ein sowjetisches Militärtribunal in der DDR in politischem Gewahrsam. Nach seiner Entlassung erhielt er 1956 in der Bundesrepublik Deutschland für diese Zeit eine Bescheinigung nach § 10 Abs. 4 des Häftlingshilfegesetzes (HHG). Zugleich wurde ihm eine Beihilfe gemäß den Beihilferichtlinien des Bundesministers für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte und des Bundesministers für Finanzen vom 9. November 1955 (Beihilferichtlinien) in Höhe von 4 400 DM neben Eingliederungshilfen gemäß § 9b HHG gewährt.
Mit Bescheid vom 21. September 1993 bewilligte ihm das Landesamt auf seinen Antrag eine Kapitalentschädigung in Höhe von 5 060 DM gemäß § 17 i.V.m. § 25 Abs. 2 StrRehaG. Dabei wurden die aufgrund des Gewahrsams zuvor gewährten Eingliederungsbeihilfen und auch die Beihilfe nach den Beihilferichtlinien gemäß § 17 Abs. 1 StrRehaG angerechnet. Den auf Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift gestützten Widerspruch wies die Senatsverwaltung für Soziales mit Bescheid vom 8. Dezember 1993 zurück.
Den mit der Klage geltend gemachte Anspruch auf weitere Kapitalentschädigung in Höhe von mindestens 42 240 DM hat das Verwaltungsgericht in Höhe von 4 400 DM anerkannt. § 17 Abs. 2 StrRehaG lasse die vom Beklagten vorgenommene Anrechnung der aufgrund der Beihilferichtlinien gezahlten Entschädigung nicht zu. Die Beihilferichtlinien seien lediglich verwaltungsinterne Anweisungen und keine gesetzlichen Vorschriften.
Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht auch diesen Teil der Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die 1956 aufgrund der Beihilferichtlinien erfolgte Leistung sei bei der 1960 bzw. 1974 erfolgten Bewilligung von HHG-Leistungen im Wege der Anrechnung berücksichtigt und damit i.S. des § 17 Abs. 2 StrRehaG unmittelbar aufgrund anderer gesetzlicher Vorschriften erbracht worden; sie sei deshalb auch auf die Kapitalentschädigung nach § 17 Abs. 1 StrRehaG anzurechnen.
Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger das Ziel weiter, die ihm vom Verwaltungsgericht zugebilligte Forderung durchzusetzen. Nach seiner Ansicht setzt das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz mit der Formulierung “gesetzliche Vorschriften” ein formelles Gesetz voraus. Zudem habe er die Leistungen 1956 nicht “unmittelbar” aufgrund gesetzlicher Vorschriften, sondern gewissermaßen freiwillig erhalten. Schließlich habe der Gesetzgeber im Jahre 1991 durch die Neufassung der Anrechnungsvorschrift des § 9a Abs. 4 HHG, der die Beihilferichtlinien gerade nicht mehr erwähne, seinen früheren Willen hinsichtlich der Anrechenbarkeit von Leistungen nach den Beihilferichtlinien aufgegeben.
Der Beklagte und der Vertreter des Bundesinteresses verteidigen das angefochtene Urteil.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil entspricht der Rechtslage.
Nach der hier allein maßgeblichen Bestimmung des § 17 Abs. 2 StrRehaG sind auf die dem Kläger unbestritten zustehende Kapitalentschädigung “die aufgrund desselben Sachverhalts unmittelbar nach anderen gesetzlichen Vorschriften erbrachten Entschädigungsleistungen anzurechnen”. In Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht ist der Senat der Ansicht, dass die dem Kläger 1956 gewährte Beihilfe von dieser Vorschrift erfasst wird.
1. Dass es sich bei den nach den Beihilferichtlinien gewährten Leistungen um “Entschädigungsleistungen” i.S. von § 17 Abs. 2 StrRehaG handelt, kann ungeachtet ihrer hiervon abweichenden Bezeichnung als “Beihilfe” nicht bezweifelt werden. Schon der Wortlaut des § 17 Abs. 2 StrRehaG zeigt mit seiner Bezugnahme auf das Häftlingshilfegesetz (HHG), dessen Leistungen als “Eingliederungshilfen” überschrieben sind, dass nicht die für eine staatliche Zuwendung gewählte Bezeichnung entscheidend für ihre Einbeziehung in den Geltungsbereich der Vorschrift ist, sondern der ihre Bewilligung rechtfertigende sachliche Grund. Dies ist bei den HHG-Leistungen die Anknüpfung an erlittenen politischen Gewahrsam, für den zumindest ein finanzieller Ausgleich gewährt werden soll. Nicht anders verhält es sich bei den vor In-Kraft-Treten des § 9a HHG nach den Beihilferichtlinien gewährten Leistungen. So verweisen die Beihilferichtlinien unter Ziffer I 1a und b auf § 1 Abs. 1 HHG und damit auf politischen Gewahrsam als Anknüpfungspunkt der Leistungen. Dieses Verständnis wird durch die Entstehungsgeschichte der Beihilferichtlinien bestätigt. Bei den parlamentarischen Beratungen herrschte erkennbar Einmütigkeit darüber, dass es sich bei den Beihilfen der Sache nach um Entschädigungsleistungen handelte (vgl. etwa BTDrucks 2/701; 2/1450 S. 6).
2. Entgegen der Auffassung des Klägers ist die 1956 gezahlte Entschädigungsleistung auch den Anforderungen des § 17 Abs. 2 StrRehaG entsprechend “nach gesetzlichen Vorschriften erbracht” worden. Dem steht die Ableitung der Ansprüche aus den Beihilferichtlinien nicht entgegen. Der Begriff der “gesetzlichen Vorschriften” ist wegen seiner Vielschichtigkeit auslegungsfähig und auslegungsbedürftig. Mitunter werden darunter nur formelle, in einem förmlichen Gesetzgebungsverfahren zustande gekommene Vorschriften verstanden, häufig aber auch alle allgemein, verbindlichen Anordnungen mit Außenwirkung (Gesetze im materiellen Sinne). Selbst das Gewohnheitsrecht zählt nach landläufiger Meinung (vgl. Creifelds, Rechtswörterbuch, 16. Aufl., München 2000) zu den Anordnungen der letzteren Art. Im Hinblick auf § 17 Abs. 2 StrRehaG vermag der Senat keinen Anhaltspunkt für eine Verengung auf formelle Gesetze – wie sie der Kläger vornimmt – zu erkennen.
2.1 Allerdings stellen Verwaltungsvorschriften, zu denen auch die hier in Rede stehenden Beihilferichtlinien gehören, Gesetze weder im formellen, noch auch nur im materiellen Sinne dar. Sie sind nicht in einem förmlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen worden und können keine unmittelbare Außenwirkung beanspruchen, vielmehr sind sie Handlungsanweisungen für den internen Verwaltungsbereich. Der fehlende Rechtsnormcharakter steht gleichwohl nicht der Annahme entgegen, die dem Kläger 1956 gewährte Beihilfe sei eine nach anderen gesetzlichen Vorschriften erbrachte Entschädigungsleistung i.S. von § 17 Abs. 2 StrRehaG. Die Beihilferichtlinien entfalten nämlich unter der Geltung des Gleichheitssatzes (Art. 3 GG) und des Vertrauensschutzgebots (Art. 20, 28 GG) nicht nur eine interne Bindung der Verwaltung, sondern auch Außenwirkung für die von ihnen betroffenen Bürger. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 8. April 1997 – BVerwG 3 C 6.95 – NVwZ 1998, 273) ist anerkannt, dass Verwaltungsvorschriften über die ihnen zunächst nur innewohnende interne Bindung hinaus vermittels der genannten Verfassungsgrundsätze eine anspruchsbegründende Außenwirkung im Verhältnis der Verwaltung zum Bürger zu begründen vermögen. Voraussetzung ist allerdings, dass die zu beurteilende Verwaltungsvorschrift eine Willensäußerung der Exekutive darstellt, zukünftig alle ihr entsprechenden Fälle auch hiernach zu behandeln. Dieser Gedanke der “antizipierten Verwaltungspraxis” (vgl. Urteil vom 24. März 1977 – BVerwG 2 C 14.75 – BVerwGE 52, 193, 199) lag den Beihilferichtlinien von 1955 zweifelsfrei zugrunde. Der Kläger hatte zur Zeit ihrer Gültigkeit einen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung unter Beachtung des Gleichheitssatzes und des Vertrauensschutzgebots. Von diesem Ermessen hat die Verwaltung in seinem Fall Gebrauch gemacht, indem sein Rechtsanspruch auf Gewährung der nach den Beihilferichtlinien üblichen Beihilfe durch Leistungsbescheid vom 28. August 1956 bestandskräftig festgestellt wurde.
2.2 Für diese Sichtweise spricht auch die Entstehungsgeschichte des § 17 Abs. 2 StrRehaG. Die Gesetz gewordene Formulierung geht zurück auf die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages (BTDrucks 12/2820, S. 13). Danach sollten durch den Hinweis auf andere gesetzliche Vorschriften auf freiwilliger Basis erbrachte Leistungen auch dann von der Anrechnungspflicht ausgenommen werden, wenn sie für denselben Freiheitsentzug gewährt worden waren, da anderenfalls privatem Hilfswillen die Basis entzogen würde (BTDrucks, a.a.O., S. 31). Die Linie der Abgrenzung zwischen anrechnungsfreien und anzurechnenden früheren Leistungen verläuft demnach zwischen solchen Leistungen, die der Betreffende erhielt, ohne einen Rechtsanspruch darauf zu haben, und den Leistungen, auf die ein Rechtsanspruch bestand.
2.3 Sinn und Zweck der Regelung des § 17 Abs. 2 StrRehaG sprechen ebenfalls für die Einbeziehung der Beihilfeleistung. Die Bestimmung zielt darauf ab, Doppelleistungen aufgrund desselben politischen Gewahrsams zu vermeiden. Bei der in Rede stehenden Beihilfe handelt es sich um eine Leistung, die den später nach § 9a HHG gewährten Leistungen der Sache nach völlig gleich steht. Das ergibt sich bereits aus dem Häftlingshilfegesetz selbst. Mit der 1957 erfolgten Aufnahme der Entschädigungsleistung in das Hälftlingshilfegesetz als dessen § 9a (BGBl I S. 165) wurde zugleich in § 9a Abs. 2 HHG ausdrücklich die Anrechnung der nach den Beihilferichtlinien bewilligten Leistungen auf die nach § 9a Abs. 1 HHG zu gewährenden Leistungen bestimmt. Zwar wurde 1960 § 9a Abs. 2 HHG als § 9a Abs. 4 HHG geringfügig geändert, doch verblieb es bei der Anrechnungsanordnung bis zur grundlegenden Neufassung des § 9a Abs. 4 HHG durch Art. 2 Nr. 3b des Gesetzes zur Aufhebung des Heimkehrergesetzes und zur Änderung anderer Vorschriften vom 20. Dezember 1991 (BGBl I S. 2317), worin die Beihilferichtlinien keine Erwähnung mehr finden. Als Grund für die Neufassung des § 9a Abs. 4 HHG verweist die Begründung des Gesetzentwurfs darauf, dass die bisherige Fassung durch Zeitablauf überholt sei (BTDrucks 12/1254, S. 9). Angesichts dessen kann dem Argument des Klägers nicht gefolgt werden, der Gesetzgeber habe mit der Herausnahme der Beihilferichtlinien seine Absicht zu erkennen gegeben, künftig die hiernach gewährten Leistungen nicht mehr anzurechnen.
3. Schließlich kann der Kläger nicht damit gehört werden, die ihm gewährte Beihilfe sei jedenfalls nicht – wie in § 17 Abs. 2 StrRehaG verlangt – “unmittelbar” nach gesetzlichen Vorschriften erbracht worden. Der Senat sieht keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber durch Aufstellen dieses Erfordernisses von der Anrechenbarkeit von Leistungen nach den Beihilferichtlinien entgegen seiner früheren Konzeption absehen wollte. Wie die Entstehungsgeschichte dieses auf eine Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages zurückgehenden Tatbestandsmerkmals ausweist, dient das Unmittelbarkeitserfordernis zur Verdeutlichung und Bekräftigung der normativen Absicht freiwillig gewährte Leistungen von einer Anrechnung freizustellen. Solche Leistungen sollten dem Bedachten selbst dann ungeschmälert zugute kommen, wenn die hierfür benötigten Mittel den Leistungserbringern – in der Regel Stiftungen – aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung gestellt worden waren. Das Unmittelbarkeitserfordernis soll ausschließen, dass solche Leistungen mit der Begründung, sie seien aufgrund der Bereitstellung im Haushaltsgesetz “nach anderen gesetzlichen Vorschriften” erbracht worden, der Anrechnung unterworfen werden (vgl. BTDrucks 12, 2820 S. 31).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Unterschriften
Prof. Dr. Driehaus, van Schewick, Dr. Borgs-Maciejewski, Kimmel, Dr. Brunn
Fundstellen