Leitsatz
1. Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 56 Abs. 1 EG verstoßen, dass sie für den Fall, dass die in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der RL 90/435/EWG des Rats vom 23.07.1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten in der durch die RL 2003/123/EG des Rats vom 22.12.2003 geänderten Fassung vorgesehene Mindestbeteiligung der Muttergesellschaft am Kapital der Tochtergesellschaft nicht erreicht ist, Dividenden, die an Gesellschaften mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten ausgeschüttet werden, wirtschaftlich einer höheren Besteuerung unterwirft als Dividenden, die an Gesellschaften mit Sitz in der Bundesrepublik Deutschland ausgeschüttet werden.
2. Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 40 EWR verstoßen, dass sie Dividenden, die an Gesellschaften mit Sitz in Island oder in Norwegen ausgeschüttet werden, wirtschaftlich einer höheren Besteuerung unterwirft als Dividenden, die an Gesellschaften mit Sitz in der Bundesrepublik Deutschland ausgeschüttet werden.
Normenkette
§ 36 Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 4 S. 2, § 43 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und S. 3 EStG; § 32 Abs. 1 Nr. 2 KStG, Art. 56 Abs. 1 EG, Art. 40 EWR
Sachverhalt
Dem Urteil des EuGH lag eine Klage der EU-Kommission gegen Deutschland aufgrund der hier gegebenen Regelungslage zugrunde. Sie ist nicht sachverhalts-, sondern normenbezogen. Alles, was dazu zu sagen ist, ergibt sich aus den Praxis-Hinweisen…
Entscheidung
… und das gilt auch für die Entscheidung des Gerichts.
Hinweis
1. Schüttet eine Tochter-Kapitalgesellschaft an ihre Mutter-Kapitalgesellschaft eine Dividende aus, so handelt es sich hierbei für die Muttergesellschaft um einen nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG steuerbaren Kapitalertrag. Dieser Kapitalertrag ist zwar nach § 8b Abs. 1 KStG steuerfrei. Gleichwohl gebietet § 43 Abs. 1 S. 3 EStG die KapESt-Pflicht der Ausschüttung. Gemeinhin resultiert daraus indes nur ein Stundungseffekt: Die Quellensteuer ist entweder anzurechnen oder zu erstatten, § 36 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 4 S. 2 EStG.
2. Letztlich gilt das aber nur für reine Inlandssachverhalte. Bei sog. Inbound-Sachverhalten ist das anders: Zwar wird die KapESt bei allen Steuerpflichtigen erhoben, bei unbeschränkt steuerpflichtigen Muttergesellschaften ebenso wie bei beschränkt steuerpflichtigen. Die KapESt-Last wirkt bei der beschränkt steuerpflichtigen ausländischen Muttergesellschaft jedoch nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 KStG abgeltend und sie wird damit definitiv. Dem kann die Muttergesellschaft nur dadurch entgehen, dass sie die Inlandsbeteiligung über eine im Inland belegene Betriebsstätte hält.
3. Seit geraumer Zeit steht diese Ungleichbehandlung im unionsrechtlichen "Kreuzfeuer": Die EU-Kommission hatte deswegen gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet und Klage beim EuGH erhoben.
Der EuGH hat nunmehr der beschriebenen Ungleichbehandlung attestiert, dass sie nicht in Einklang mit der Kapitalverkehrsfreiheit steht. Es ist der jeweilige Quellenstaat, der primär gehalten ist, die Ungleichbehandlung aufzulösen. Das war allseits erwartet worden, nachdem ein ähnliches Verdikt erst jüngst bereits Italien und Portugal getroffen hatte.
4. Deutschland reiht sich damit jetzt in die Reihe der einschlägig "Verurteilten" ein und ist gehalten, kurzfristig gesetzgeberische Abhilfe zu schaffen.
Das kann zum einen dadurch geschehen, dass man den ausländischen Gesellschafter nicht anders behandelt als den inländischen und auch ihm die Anrechnung bzw. Erstattung gewährt. Die Gleichbehandlung kann zum anderen dadurch herbeigeführt werden, dass die KapESt-Belastung beidseits definitiv wird.
Schließlich – und das wäre der kompliziertere, aber der "Königsweg" – könnte man sich mit dem anderen Vertragsstaat abkommensrechtlich darauf verständigen, dass dieser als Ansässigkeitsstaat für den Quellenstaat – natürlich wechselseitig – in die Bresche springt. Das ist, wie der EuGH eindeutig hervorhebt, dann auch aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht zu akzeptieren (sog. Amurta-Klausel). Im Rahmen der gebotenen Gesamtbetrachtung wird die Muttergesellschaft dann hinreichend entlastet und ist die isolierte Schlechterstellung im Quellenstaat deshalb hinzunehmen.
Erforderlich dafür ist allerdings, dass die wechselseitige Anrechnung auf eine Vollanrechnung bzw. -erstattung hinausläuft. Begrenzungen nach Höchstbeträgen, wie sie z.B. in § 34c Abs. 1 S. 2 EStG (und den meisten DBA für Dividenden) vorgesehen sind, sind nicht hinreichend, um den Unionsrechtsverstoß bilateral zu beseitigen.
5. Das alles hatte der BFH (im Urteil vom 22.04.009, I R 53/07, BFH/NV 2009, 1543, BFH/PR 2009, 333) letztlich bisher schon so gesehen. Er hatte für die Situation des DBA-Schweiz jedoch angenommen, dass eine solche bilaterale Ausgleichsvereinbarung hergestellt worden ist. Das BVerfG hat eine dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde des unterlegenen Schweizer Kapitalbeteiligten zurückgewiesen (BVerfG, Beschluss vom 15.10.2010, 2 BvR 1807...