Dr. Matthias Emler, Fabian Dülken
1.1 "End-to-end"-Prozesse als Rahmen einer digitalen Plattform
Ein in vielen Großkonzernen anzutreffender und bedeutender Treiber von Ineffizienz und Ineffektivität ist die meist historisch gewachsene Heterogenität bei Prozessen und IT-Systemen. Nicht selten wird diese Ineffizienz und Ineffektivität durch sogenannte "Silostrukturen" verstärkt. Die Einheiten gehen weitgehend isoliert voneinander Tätigkeiten nach, deren Ablauf und (Teil-)Ergebnisse zwar ein hohes Integrationspotential aufweisen, faktisch jedoch prozessual und informationstechnisch kaum zusammengeführt sind. Dies ist insbesondere im Bereich Controlling & Finanzen oft augenscheinlich: Dessen Prozesse sind naturgemäß mit nahezu allen anderen Funktionsbereichen verzahnt, etwa beim Controlling des Vertriebs, des Einkaufs oder der Produktion. In der Praxis enden diese Prozesse jedoch häufig an den Grenzen der einzelnen Funktions- und Geschäftsbereiche, obwohl sie sachlogisch eine "End-to-End"-Sicht erfordern. Folglich werden redundante Prozesse ausgeführt und Potenziale zur Erkenntnisgewinnung auf Basis verknüpfter Informationen nicht ausgeschöpft.
Ein moderner Ansatz um diese Silostrukturen aufzuheben ist das Eingliedern von zusammengehörenden Prozessketten in übergreifende "End-to-End"-Prozesse (E2E-Prozesse). Diese orchestrieren bereichsübergreifend Teilprozesse und bringen dadurch zuvor über mehrere "Silos" verteilte, sachlogisch aber verbundene Prozessschritte zusammen. Die hierdurch geschaffenen E2E-Prozesse werden häufig durch einen globalen Prozesseigner ("global process owner", GPO) verantwortet und mindern durch die engmaschige Integration negative Silo-Effekte.
E2E-Prozesse alleine reichen jedoch nicht aus, um Effizienz und Effektivität nachhaltig zu steigern. Ein weiterer, wesentlicher Schlüssel liegt in der ganzheitlichen Optimierung der informationstechnischen Prozessunterstützung. Ein wichtiger Schritt, um mit diesem Hebel sowohl Ineffizienz als auch Ineffektivität zu begegnen, liegt in der Wahl der passenden IT-Strategie. Häufig verstehen Unternehmen die Optimierung der IT als Bereitstellung bereichsspezifischer Lösungen, was bei funktions- und geschäftsbereichsübergreifenden Ansätzen schnell zu Skalierungsproblemen und Heterogenität führt. Ein Ansatz ist, IT im Sinne einer Plattform zu etablieren, bei der die Vielzahl der Akteure und Anforderungen gezielt orchestriert und durch standardisierte Lösungen integriert unterstützt wird.
Ähnlich wie bei Amazon, eBay, Facebook oder anderen Plattformen, die auf Skalierbarkeit ausgerichtet sind, ist es wichtig, das Leistungsangebot nicht ausschließlich von technologischer Seite her zu definieren. Vielmehr liegt der Schlüssel zur erfolgreichen Skalierung ebenso darin, Inhalte, Prozesse, Organisation und Governance der Plattform entsprechend auszurichten (vgl. Abb. 1). Dem Management der funktions- und geschäftsbereichsübergreifenden Integration kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Dieses Integrationsmanagement ist nicht nur technisch, sondern vor allem auch fachlich zu positionieren, denn das alleinige Etablieren technischer Standards durch ein Integrationsmanagement reicht für eine erfolgreiche Verankerung der Plattform im Unternehmen nicht aus: Es sind vor allem fachliche Standards – etwa die Harmonisierung der Inhalte, Prozesse und Methoden –, die über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Die Plattform ist hierbei hinsichtlich Kompetenz und Kapazität adäquat aufzustellen.
Abb. 1: Zentrale Aspekte einer digitalen E2E-Plattform
1.2 Ganzheitliches Zielbild als Erfolgsfaktor
Viele Unternehmen kommen bei der Einführung von E2E-Prozessen und der zugehörigen Plattform zu dem Schluss, dass ein Neuaufsatz ("greenfield"-Ansatz) erforderlich ist: Die historisch gewachsene Prozess- und Systemlandschaft lässt sich nicht (mehr) durch punktuelle Weiterentwicklungen optimieren. Vielmehr stellt sich der grundlegende Neuaufbau als die langfristig sinnvolle Option dar. In einem solchen Szenario bildet ein ganzheitliches Zielbild eine essentielle Basis, um sicherzustellen, dass nicht ein neuer "Flickenteppich" aus "Prozessfragmenten" und "IT-Inseln" entsteht. Bei der Erarbeitung eines solchen Zielbildes ist es zunächst hilfreich, die E2E-Prozesse zu strukturieren. So lassen sich etwa E2E-Prozesse abgrenzen, die eher transaktionaler Natur sind und solche, die übergreifend der Steuerung des Unternehmens dienen.
Beispiele für transaktional ausgerichtete E2E-Prozesse sind:
- "Acquire-to-retire" (A2R) – Bündelt Teilprozesse, welche den Lebenszyklus von Sachanlagen betreffen von deren Beschaffung, über ihre Inbetriebnahme, Wartung, Instandsetzung und Überholung, bis zu ihrer Außerbetriebnahme und letztendlichen Veräußerung.
- "Procure-to-pay" (P2P)– Bündelt Teilprozesse von Wareneinkauf bis zur Bezahlung entsprechender Rechnungen.
- "Order-to-cash" (O2C) – Bündelt Teilprozesse vom Auftrags- bis zum Zahlungseingang, inklusive Vertrags-/Fakturamanagement, Leistungserbringung, Versand, Rechnungsstellung, Mahnwesen etc.
Diesen Prozessen übergeordnet bzw. vorgelagert ist typischerweise der E2E-Prozess "plan-to-report", welcher planerische A...